Freier Blick auf die düstere Seele von New York

„City without Walls“ von W.H. Auden – eines der literarisch bedeutendsten Gedichte über New York

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

W.H. Auden (1907-1973) war einer der großen Lyriker des 20. Jahrhunderts. Wirklich populär ist er heute jedoch nicht – sein Werk lässt sich weder leicht erschließen noch nebenbei goutieren: „Increasingly one must respond to his poems as a mind, not a creature of feeling.“[1] Es fordert Aufmerksamkeit sowie Konzentration; erst dann entfaltet es eine zeitlose Relevanz, ja einen Zauber, der Worte für das bislang Begrifflose findet.

Mit „City without Walls“ (1967) gelingt Auden ein lyrisches Röntgenbild New Yorks in Form einer „vigorous jeremiad“, eines Klagelieds. Von der ’Stadt ohne Mauern’ wird ein großes zivilisationskritisches Schreckensbild entworfen, wobei die fehlenden Wände nicht nur eine durchdringende, scharfsichtige, vor allem schonungslose Analyse der urbanen Zustände ankündigen. Vielmehr klassifizieren sie die moderne Megacity als mittelpunkt-, grenzen-, gar charakterlos, als gewissermaßen ungezügelt: „Those fantastic forms, fang-sharp, / bone-bare, that in Byzantine painting / were a short-hand for the Unbounded / beyond the Pale, unpolicied spaces / where dragons dwelt and demons roamed“ (1. Strophe). Als topographisch amorphes, unendlich erweiterbares Phänomen ohne Mitte und Mauer kontrastiert New York, allein Wirtschaft und Ökonomie verpflichtet, die geschlossene antike Polis oder festummauerte mittelalterliche Stadt.

Bevölkert wird New York von vereinsamten ’ex-worldlings’. Sie leben als Gefangene der Großstadt zwischen Langeweile und Neurose, zwischen notgedrungener Untätigkeit und erzwungener Privatheit. Deutlich zeichnen sich die Wechselwirkungen zwischen Bewohnern und Megacity ab. Einerseits haben Menschen die Metropole erdacht, errichtet, erweitert, andererseits spiegelt das geographische Ergebnis ihre seelische Befindlichkeit und Lebenslage wider: „A key to the street each convict has, / but the Asphalt Lands are lawless marches“ (4. Strophe, 1./2. Zeile). Die äußere Welt wird zum Symbol für die innere Realität – sowieso ein thematisches Motiv von W.H. Audens Lyrik. 

„City without Walls“ weist Stileigentümlichkeiten des altenglischen Verses auf, etwa Stabreime, bildhafte Umschreibungen, häufige Inversion oder elliptische Artikel. Damit gewinnt die lyrische Ausgestaltung altbekannter Ängste und Prophezeiungen vom Welten-, zumindest Kulturenuntergang einen eigenen rhetorischen Reiz; zudem lässt solche Form an Ependichtung, überhaupt an die literarische Darstellung von in sich geschlossenen Welten denken. Schon mit den Einleitungsstrophen wird der archetypische Topos einer Höllenstadt entworfen, die in Gestalt des modernen New York Wirklichkeit geworden ist: „with numbered caves in enormous jails, / hotels designed to deteriorate / their glum already-corrupted guests, / factories in which the functional / Hobbesian Man is mass-produced.“ (3. Strophe). Angelehnt an Vorstellungen des englischen Philosophen Thomas Hobbes, der den Menschen als animalisches Wesen begriff („homo homini lupus est“) und das Modell eines absolutistischen Staates entwarf, hat das Individuum im Großstadt-Dschungel mittlerweile einen verrohten, entfremdeten, isolierten Status erlangt: „[…] reckless he / who walks after dark in that wilderness.“ (4. Strophe, 4./5. Zeile).

Weder ethische Motive noch emotionale Bedürfnisse führen die Besucher zueinander, sondern ausschließlich ’vice or business’. Moralische Balance und soziale Integration, sonst Grundvoraussetzungen einer funktionierenden Gesellschaft, haben sich gegenseitig neutralisiert: „But electric lamps allow nightly / cell-meetings where sub-cultures / may hold palaver, like-minded, / their tongues tattooed by the tribal jargon / of the vice or business that brothers them“ (5. Strophe). Dabei zählt gerade Sprache zu den wichtigsten identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur. Geht die Kommunikation verloren, zerfällt Gemeinschaft buchstäblich aufgrund von mangelndem Verständnis. Sprachlosigkeit produziert Fremdheit.

Zwar werden aufgrund der Nennung von ’Eve’ und ’Adam’ gewisse Vorstellungen vom biblischen Paradies heraufbeschworen, doch auf Erden ist es nicht zu finden. Hierin spiegelt sich auch eine Entwicklung im späten Werk von W.H. Auden wider, der von seiner einstigen Naturverbundenheit längst Abstand genommen hat und Eden nun vor allem mit Bedrohung assoziiert oder als Schrecken wahrnimmt. Der von der Technologie überrannte Mensch ist bis auf wenige Ausnahmen zum bloßen Konsumenten degradiert: „What they view may be vulgar rubbish, / what they listen to witless noise, / but it gives shelter, shields them from / Sunday`s Bane, […] / […] our pernicous foe.“ (9. Strophe).

Im Zuge einer solchen Nivellierung der Gesellschaft werden unvollkommene Personen langsam ausgemustert: „but ordinary flesh is unwanted:“ (10. Strophe, 4. Zeile). Der Mensch mit seiner ’built-in obsolescence’ ist zu einem Niemand geworden, kann folglich nichts seiner mechanisierten Umgebung entgegensetzen. Zunächst macht sich das ganze Land abhängig von der Industrie, jetzt wird es durch sie ruiniert. Die einstige Menschen-Landschaft wird langsam aber sicher durch die Maschinen-Landschaft verdrängt, hervorgehoben am Beispiel einer Großstadt wie New York: „W.H. Auden […] made New York the arch symbol of rootlessness in the current world and even celebrated rootlessness as necessary to the age of anxiety.“[2]

Aufgrund mangelnder Ziele oder Aussichten macht sich eine Unbestimmtheit des menschlichen Daseins breit, wird die Entwicklung einer Alptraum-Zivilisation gefördert. Trotz neuzeitlicher Technik ist das moderne Individuum wieder dorthin zurückgesunken, wo es in mythisch-dunkler Vorzeit einst begann: „A Gadgeted Age, but as unworldly / as when the faint light filtered down / on the first men in Mirkwood, / waiting their turn at the water-hole / with the magic beasts who made the paths.“ (13. Strophe).

Der mit pathetisch-theatraler Rhetorik dargestellte Niedergang New Yorks in die ’Barbarei der Zivilisation’ verheißt keine Hoffnung auf kommende Veränderung, gar Verbesserung, sondern wartet mit der zynischen Pointe auf, dass der im Zeitenrad gefangene und im stets gleichen Geschichtsfluss treibende Mensch sein Schicksal sowieso noch nie frei bestimmen konnte: „nor choice they have nor change know, / their fate ordained by fore-elders, / the Oldest Ones […]“ (20. Strophe, 1.-3. Zeile). Der Gegenwart ist die Zukunft abhanden gekommen, zumindest die für den Menschen: „if all has gone phut in the future we paint, / where, vast and vacant, venomous areas / surround the small sporadic patches / of fen or forest that give food and shelter, / such home as they have, to human remnant“ (17. Strophe). Das imaginäre Szenario einer nuklear verseuchten Welt bietet keine Umwelt mehr für humanes Leben. Stattdessen existieren degenerierte Kreaturen, „stunted in stature, strangely deformed, numbering by fives, with no zero“ (18. Strophe, 1./2. Zeile), die sich trotz geistiger Verkümmerung noch Märchen erzählen. Jedenfalls sind diese ihr einziges Erbe und die letzte Verbindung mit der Vergangenheit, weil außer ’magischen Worten’ nichts die Apokalypse überstanden hat.

Im Kontrast zu solch direkter Anklage zeichnet „City without Walls“ sich durch Distanzierungsmechanismen aus. Schon die Anführungszeichen am Beginn jeder Strophe sind ein Hinweis auf einen inneren, mithin subjektiven Monolog. Zusätzlich wird am Gedichtende die bisherige Argumentationsstruktur dialektisch gebrochen, indem zum Dichter ein Anti-Dichter, also zum lyrischen Ich eine Zweitstimme, tritt. Diese, eine Art Alter Ego des Sprechers, kritisiert ihn wegen seiner herablassenden Pose. Attackiert letzterer zunächst mit scharfer Ironie die Megacity und weissagt ihre mögliche Zukunft, gerät er nun ins eigene Kreuzfeuer. Immerhin hat er sich zum Mahner seiner Spezies aufgeschwungen. Jetzt soll er auf den Boden der Tatsachen, sprich in die Wirklichkeit, zurückgeholt werden; doch eine echte Realitätsebene gibt es im Gedicht eigentlich nicht. Trotz Angaben zu Zeit und Ort: „Thus I was thinking at three a.m. / in Mid-Manhattan […]“ (22. Strophe, 1./2. Zeile), fehlt New York eine topographisch-authentische Substanz. Stattdessen verleihen metaphorische Anspielungen und mythische Referenzen, sowieso vielfach als lyrisches Element bei W.H. Auden zu finden, der Großstadt eine Tiefenstruktur mit bedeutungsschweren Hintergrund, der urbanes Geschehen neu deutet. Zudem wird das geschichtliche Prinzip der zwangsläufigen Veränderung integriert. New York existiert nur in einer sich ständig wandelnden Gestalt. 

Auch wenn das präsentierte Szenario eines dämonischen Molochs literarischer Stilisierung und Verdichtung unterworfen bleibt, entbehrt es dennoch nicht einer gewissen Wirklichkeitsnähe, überhaupt der Ernsthaftigkeit. Die Stadt steht dabei weniger als geographischer Realraum, vielmehr als Symbol für den zunehmenden Verfall zeitgenössischer Kultur und ist auf dieser ethischen Ebene entmaterialisiert als Demonstrationsobjekt, das für die Botschaft vom bevorstehenden Weltenende herhalten muss.

Als ob eine solche Apathie auch auf den Menschen übergegangen wäre, meldet sich am Gedichtende ein dritter Sprecher, der alle bisherigen Menetekel ignoriert und in ihrer Brisanz relativiert. Die beiden vorangegangenen Sprecher werden ins Lächerliche gezogen, weil sie sich bzw. ihre Bedenken derart ernst und wichtig genommen haben: „Thereupon, bored, a third voice: / „Go to sleep now for God`s sake! / You both will feel better by breakfast-time.“ (25. Strophe). Hier schimmert der knappe, sarkastische New Yorker Humor durch, jener mal spitze, mal beißende ’barbed witticism’. Das lyrische Ich deckt einerseits die zivilisatorischen ’Nachtseiten’ der City auf, macht sich andererseits über seine anmaßende Entrüstung lustig, ist es doch selbst Teil der Metropole. Sobald der Sprecher von seinen Befürchtungen Abstand nimmt, adaptiert er ein für den Stadtbewohner typisches Verhalten. Der ursächlich von urbaner Problematik Betroffene hat sich von der eigenen Situation bereits stark distanziert, ignoriert also die Wechselwirkung zwischen äußerem Niedergang und individuellem Zustand.

Was wie ein sarkastisch-lakonischer Kommentar der Drittstimme zu den vorangegangenen apokalyptischen Visionen anmutet, entspricht vom Prinzip her dem menschlichen Hang zu Vereinfachung und Bequemlichkeit, der Hand in Hand mit tendenzieller Verdrängung geht. Jedenfalls klingen im Gedicht sowohl Resignation als auch Akzeptanz an, bezogen auf die urbane wie eigene Situation. Die Stadt als modernes Phänomen birgt zwar ein zerstörerisches Potential, nämlich die barbarische Zivilisation, doch sogar damit hat der Mensch sich inzwischen irgendwie arrangiert, und das Rad der Geschichte wird sich zweifellos weiterdrehen. Platz für Utopien bleibt in solch einer Stadt, überhaupt in solch einer Gesellschaft, freilich nicht.

Anmerkungen:

[1] Logan, William: Auden`s Images. In: Bold, Alan (Hrsg.): W.H. Auden: The Far Interior. London, Totowa (New Jersey) 1985, S. 100-126, hier S. 123.

[2] Kazin, Alfred: The New York Writer and his Landscapes. In: Caws, Mary Ann (Hrsg.): City Images. Perspectives from Literature, Philosophy, and Film. New York, Philadelphia, London, Paris, Montreux, Tokio, Melbourne 1991, S. 129-143, hier S. 140.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu der Reihe „Lyrik aus aller Welt. Interpretationen, Kommentare, Übersetzungen“. Herausgegeben von Thomas Anz und Dieter Lamping.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz