Deutsche Demokratiebewegung im 18. Jahrhundert

Was Faktenhuberei in der Literaturgeschichtsschreibung heute noch bedeuten kann, demonstriert Rüdiger Schütt in „Verehrt, Verflucht, Vergessen – Leben und Werk von Sophie und Johann Friedrich Ernst Albrecht“

Von Ralf BlittkowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Blittkowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts in aller Munde war, riefen es auch Anhänger deutscher Demokratiebewegungen. Dazu gehörten die Schriftstellerin und Schauspielerin Sophie Albrecht (1756 – 1840) und ihr Ehemann Johann Friedrich Ernst Albrecht (1752 – 1814), der Arzt, Schriftsteller und Theaterintendant war. Beide Namen sind zwar heute nur noch Literaturwissenschaftlern und Historikern bekannt, bekamen aber in den letzten Jahrzehnten wieder mehr Aufmerksamkeit. Besonders der israelische Historiker Walter Grab setzte sich für J.F.E. Albrechts Rehabilitierung als Vertreter der deutschen Demokratiebewegung und der nachhaltigen Bedeutung seiner politischen Schriften ein. In Grabs Fußstapfen trat der deutsche Historiker Hans-Werner Engels und setzte die historiografische Arbeit fort. Nach deren Tod versucht sich nun eine neue Riege von Literaturwissenschaftlern an Albrechts riesigem Œuvre von über 50 Romanen, zahlreichen Dramen, politischen Schlüsselromanen und Beiträgen in demokratischen Zeitschriften. Weitaus umfangreicher wurde Sophie Albrechts vielfältiges Wirken als Schriftstellerin, Schauspielerin und Deklamatorin von Feministinnen diesseits und jenseits des Atlantiks behandelt.

Der Untertitel des voluminösen Bandes setzt auf „Leben und Werk“ und der Klappentext gibt vollmundig das Versprechen einer „beeindruckenden Doppelbiografie“ des „schillernden Paares“. Beim Aufschlagen des Inhaltsverzeichnisses treten jedoch erste Zweifel auf: Neun von zwölf Beiträgen sind über J.F.E. und nur drei über Sophie Albrecht verfasst. Bei der Durchsicht fällt auf, dass bloß Michael Rüppel einmal etwas als Herausgeber von J.F.E. Albrechts Drama „Die Engländer in Amerika“ verfasste. Alle anderen – inklusive des Herausgebers Schütt – geben ihr Debüt in Sachen Dr. Albrecht. Im Gegensatz dazu veröffentlichten die drei feministischen Literaturwissenschaftlerinnen viel über Sophie Albrecht in den vergangenen Jahrzehnten.

In seiner Einleitung gibt der Herausgeber keine Erklärung für dieses Ungleichgewicht. Zudem fehlt der Bezug zur Genderforschung und zu den Beiträgen über Sophie Albrecht komplett. Damit ist auch die wissenschaftliche Etikette, nach der Forschungsergebnisse in chronologischer Erscheinungsreihenfolge namentlich kenntlich gemacht werden, nicht eingehalten worden. Neben jenem Manko ist die fehlende Vertiefung zu wissenschaftstheoretischen Verortungen noch entscheidender: Was denn eigentlich heute Biografieforschung bedeutet und ob sie sich etwa nur durch biografische Daten im Anhang legitimiert, bleibt unerwähnt. Ohne Reflexion über methodologische Herausforderungen zu historischen Personen und ohne auf der Höhe der Forschungsliteratur zu beiden Albrechts zu sein, beginnt der Herausgeber seine historistische Darstellung über J.F.E. Albrecht.

Besagte neun Beiträge über J.F.E. folgen dann in einer Reihe hintereinander weg: Es handelt sich dabei themengebunden (zeitgenössische Rezeption, Druck- und Verlagsgeschichte, Dramen, historischer Roman, erotischer Roman, politischer Schlüsselroman und ansatzweise politische Schriften) um eine Anhäufung von Fakten ersten, zweiten, dritten und sogar vierten Grades. Eine „barbarische Stoffhuberei“, die Ihresgleichen sucht, um Nietzsche zu bemühen. Das Textverfahren der ersten acht Verfasser vertraut darauf, dass es genüge, reichlich Fakten über J.F.E. Albrecht anzuhäufen, um zur objektiven Wahrheit über ihn durchzudringen. Das Gegenteil ist der Fall: Im Gegensatz zur älteren J.F.E. Albrecht-Forschung, die gerade ihre Akzente in seinen politischen Schriften zur Demokratiebewegung setzte, geschieht hier außer einer großen „Stoff- und Faktenhuberei ohne Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem“, wie es Schnädelbach einmal treffend formulierte, rein gar nichts. Eine Reihe von Beiträgen sind auf dem Niveau von Seminararbeiten verfasst, die sich am anachronistischen Verständnis von einzelnen Wörtern abarbeiten; etwa bei Kristin Eichhorn mit dem Wort „unnatürlich“, das im damaligen Sprachgebrauch „unmenschlich“ bedeutete. Erfreulich ist hingegen bei Franz-Ulrich Jestädt und Thomas Kaminski, dass sie ein kleines aber feines autobiografisches Detail aus einem akademischen Programm der Erfurter medizinischen Fakultät von 1772 aus dem Lateinischen übersetzten. Doch die Freudensprünge halten sich in Grenzen: Im zweiten Teil des Beitrags werden dem Leser Albrechts Verlagsaktivitäten mit „räumlichen und personellen Verwirrungen“ und im dritten gar noch ein Roman mit dem Schauplatz Erfurt präsentiert. Sollte ich erwähnen, dass ein Buchdrucker Albrechts und dessen Frau darin irgendwie verwickelt waren?

Alles ist bedrückend unübersichtlich, zusammenhanglos und ohne Schlussfolgerung. Den Höhepunkt der Faktenhuberei bietet Günter Dammanns Einschätzung von Albrechts historischen Roman „Die Töchter Kroks“ mit der Libussa-Sage. Wer kein ganz besonders hingebungsvoller Liebhaber der Libussa-Sage ist, muss Masochist sein, um sich durch diesen Beitrag von sage und schreibe 45 Seiten zu kämpfen. Selbst der Verfasser gesteht dem Leser eine gewisse Langeweile zu, warnt ihn aber, keine Seiten zu überspringen und nicht zum Schlussteil vorzublättern. Eine Anweisung, der ich mich zwar gebeugt habe, nicht aber ohne sie zu bereuen. Wunderbar nutzlos, wenn auch interessant, ist Galina Potapovas Beitrag zur Fragestellung, ob Albrecht für seinen Schlüsselroman „Pansalvin“ und für seine politischen Russlandromane wohl jemals selbst in Russland gewesen sei. Auch in diesem positivistisch verfahrenden Text mäandert die Verfasserin zirkulär um Albrecht herum, um dann zu konstatieren, dass „die Zuverlässigkeit dieser Darstellung uns gleichgültig sein“ kann. Da stimme ich zu und sehe gelassen resigniert auf den Rest der J.F.E. Albrecht-Aufsätze. Eine letzte Hoffnung packt mich bei Wolfgang Beutin über den Arzt im Zeitalter der Französischen Revolution: Georg Kerner und J.F.E. Albrecht im Vergleich. Obwohl hier Albrechts jakobinisches Interesse (er war immerhin Mitglied von Karl Friedrich Bahrdts radikal-aufklärerischer „Deutschen Union“) das vereinigende Element ist, fehlt leider fast komplett die Einschätzung seiner politischen Veröffentlichungen und der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Der Todtenrichter“. Die Darstellung über Kerner hingegen ist ausführlich!

Im letzten Viertel endlich bei Sophie Albrecht angelangt, findet sich bei Berit Royer neben einer Aufarbeitung der Forschungsliteratur auch eine Verortung in aktueller wissenschaftstheoretischer Diskussion. Sie integriert ihre Ausführungen zu Methodenforschung, Gendertheorien, Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte in Bezug auf die ungewöhnliche Schriftstellerin und Schauspielerin übersichtlich und kongruent in einem „kurzen und langen Blick zurück“ mit „Schlussbemerkung“. Hier lässt sich über S. Albrecht erfahren, dass ihre Lyrik in drei Bänden, Kurzprosa, zwei Romane und besonders ihr Drama „Theresgen“, „frühfeministische Elemente von Auflehnung gegen die Geschlechterrolle“ enthalten. Sie war als Schriftstellerin und Schauspielerin zu ihrer Zeit so berühmt wie kaum eine andere Frau und nahm Einfluss auf politische Geschlechterdebatten. Im Anschluss befasst sich Mary Dupree mit S. Albrechts Wirkung für die Kunst der Deklamation an der „Schnittstelle zwischen Musik, Theater und Literatur“, deren Erfinderin sie sogar gewesen sein soll. Im letzten Beitrag des Bandes erläutert Gaby Pailer die Besonderheit von S. Albrechts Drama „Theresgen“ im Kontext des Gattungsdiskurses über das bürgerliche Trauerspiel: Es bildet eine Hybridität, da es einerseits mit dem Tod der Heldin endet und andererseits die weiblichen Figuren (im Gegensatz zu den männlichen) positiv besetzt. Der feministische Diskurs über Sophie Albrecht hat einen rezeptionsgeschichtlichen Status erreicht, der gut drei Jahrzehnte zurückreicht und weit über diesen Sammelband hinaus existent ist. Dagegen haben die Verfasser des Sammelbandes über J.F.E. Albrecht nur eine wertneutrale Leere in literaturwissenschaftlicher Historismusmanier kreiert, die zwar pompös und bedeutungsschwer daherkommt, aber letztendlich den Autor ein weiteres Mal kaltstellt. Es ist ein trauriges Kompendium historistischer Klassifizierung, das leider zur kritischen Aufarbeitung der Werkgenese von J.F.E. Albrecht wenig beiträgt.

Titelbild

Rüdiger Schütt (Hg.): Verehrt. Verflucht. Vergessen. Leben und Werk von Sophie Albrecht und Johann Friedrich Ernst Albrecht.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2015.
442 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783865254474

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