Norm, Erinnerungsbegriff und absolute Geltung

Zu Hans Jörg Sandkühlers „Menschenwürde und Menschenrechte“

Von Esther MenhardRSS-Newsfeed neuer Artikel von Esther Menhard

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sandkühlers Veröffentlichung „Menschenwürde und Menschenrechte. Über die Verletzbarkeit und den Schutz der Menschen“ steht im Kontext einer intensiven, sowohl juristischen als auch philosophischen Debatte um das Konzept der Menschenwürde, wobei zum einen der Terminus Menschenwürde diskutiert wird zum anderen der Begriff der Norm. Sandkühler kann Menschenwürde daher zugleich als dynamischen, sich wandelnden Begriff beschreiben und gleichzeitig als stete Norm, als juristischen Fels in der Brandung. Sein Anliegen ist es, den Satz zur Unantastbarkeit der Menschenwürde im Grundgesetz als „unbedingt bindende[n] Rechtssatz“ zu verteidigen beziehungsweise als Grundsatz, aus dem sich alle Grundrechte ableiten lassen.

Er beschäftigt sich mit der Geschichte des Ausdrucks und zitiert historische Quellen, um sein Plädoyer zu unterstützen. Nach einer aussagekräftigen oder besser nachvollziehbaren Definition des Ausdrucks sucht man – wie immer – vergeblich. Darauf kommt es ihm auch nicht an. Sandkühler verbleibt bei der freien Formulierung, nach der ,Würde‘ etwas bezeichnet, was dem Menschen qua Menschsein zukommt. Deutlich wird, dass die Deutung und Bedeutung des Terminus je nach Theorie schwankt. Sandkühler orientiert sich bei der Gliederung seiner historischen Darstellung nicht an der gängigen Unterscheidung zwischen inhärenter und kontingenter Würde, sondern geht chronologisch vor: von Cicero über Giovanni Pico della Mirandola und Samuel Pufendorf hin zu Immanuel Kant, Karl Kraus und anderen.

In der zweiten Hälfte des Buches referiert er die Entwicklung der Menschenwürde als Rechtsbegriff innerhalb von Verfassungen. Der Fokus liegt auf der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Sandkühler lehnt dabei metaphysische und naturrechtliche Interpretationen der Würdenorm ab. Als Indiz dafür stehe der Umstand, dass in der Vergangenheit die Norm im Umgang mit Sklaven nicht galt. Dass die ethische Norm nach einer abwechslungsreichen Entstehungsgeschichte nunmehr als juristischer Rechtssatz absolut gelte, ergebe sich aus der Entwicklung der Menschenrechtserklärungen, Menschenrechtspakte und den Formulierungen in den Verfassungen, wobei transnationale Rechtsinstitute eine wichtige Rolle spielten. Dadurch habe die Würdenorm eine rechtlich positive, universalisierte Geltung verliehen bekommen. Das heißt: Die Menschenwürdenorm nimmt für sich in Anspruch, in allen Kulturen und an allen Orten zu gelten. Der Rechtsbegriff zeichne sich dadurch aus, dass er durch die Unrechtserfahrungen des 20. Jahrhunderts motiviert sei. Er habe in diesem Zusammenhang die Funktion eines Erinnerungsbegriffs.

Die Kritiker, die sich vor allem auf den Gebrauch des Terminus beziehen, werden eher oberflächlich referiert. Der Streit darüber, inwiefern der Begriff „Menschenwürde“ leer oder gehaltvoll ist, wird nicht, wie versprochen, skizziert. Das ist verständlich, da die Untersuchung einen anderen Schwerpunkt verfolgt. Die Kehrseite der beeindruckend großen Anzahl an erwähnten Quellen ist, dass viele Gedanken lediglich gestreift werden. Daneben bleiben Zitate hin und wieder ohne Erläuterung für sich stehen. Die Quellen ermöglichen es allerdings jedem Interessierten, einen ersten Überblick zu den Autoren, die sich in den verschiedenen Epochen zum Begriff oder Konzept geäußert haben, zu gewinnen.

Verwirrend an den grundsätzlichen Überlegungen ist, dass Würde und Würdenorm begrifflich nicht klar voneinander unterschieden werden. Die Würde wird mit dem Aspekt der Unantastbarkeit erklärt. Die Würdenorm bedeute: Die Würde des Menschen dürfe nicht verletzt beziehungsweise müsse geschützt werden. Die Auffassung von der absoluten Geltung der Würdenorm erscheint zudem kaum nachvollziehbar, sobald es um die praktische Rechtsprechung geht. Denn sie besagt nicht konkret, was wie geschützt werden soll. Worauf sich der Schutz beziehen muss, bestimmt im Einzelfall das jeweilige Gericht.

Titelbild

Hans Jörg Sandkühler: Menschenwürde und Menschenrechte. Über die Verletzbarkeit und den Schutz der Menschen.
Karl Alber Verlag, Freiburg i. Br., München 2014.
350 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783495486498

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