Vom Sammeln homöopathischer Bohnen

Gerhard Falkners Lyrik-Band „Ignatien. Elegien am Rande des Nervenzusammenbruchs“

Von Lisa EggertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisa Eggert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Nicht bei Personen oder Krankheiten, bei denen Zorn, Eifer, Heftigkeit herrscht, sondern wo eine schnelle Abwechslung von Lustigkeit und Weinerlichkeit statt finden, kann Ignazsamen passen“.

Die Ignazbohne ist das homöopathische Mittel gegen Melancholie und andere psychische Beschwerden und vielleicht gerade deshalb Titel und Strukturprinzip von Gerhard Falkners neuem Lyrik-Band – womöglich gar eine neue lyrische Gattung, versucht Falkner doch (so in einem Interview mit Michael Braun) die kleine braune Bohne „zu einer eigenen poetischen Form werden zu lassen“. Der Versuch sich mit diesem medizinhistorischen Wissen wie mit einem ‚Generalschlüssel’ dem kleinen, jedoch dichten und schillernden künstlerisch-literarischen Werk zu nähern, scheitert an dessen Facettenreichtum. Auf knapp 130 Seiten werden neben den Gedichten Falkners auch die jeweiligen Übersetzungen von Ann Cotten sowie farbige Film-Stills des Video- und Computerkünstlers Yves Netzhammer und ein Abschnitt über die Ignazbohne und ihre Wirkung in der Homöopathie versammelt. Allerdings ist auch damit noch nichts gesagt über all das, was gleichsam eine Ebene darunter verhandelt wird – und über den Horizont an Verweisen, den das Buch aufspannt.

Falkner beherrscht das Spiel mit den Traditionen und jongliert gekonnt mit Anspielungen und intertextuellen Verweisen. So schickt er beispielsweise die „lallende Freya“ und die „torkelnde Fulla“ nach „Knallhalla“ (in „Ignatia 10“) und macht aus Wagners Ring des Nibelungen ein Saufgelage. Die Birnen von Fontanes „Herr von Ribbeck auf Ribbeck“ werden den „Befürworter[n] Gottes“ in  dieHände gelegt, wie dereinst der ‚Lütten Dirn’ im Havelland. Auch auf sein eigenes Oeuvre verweist Falkner, etwa in „Ignatia 5“: „Alles besitzt uneingeschränkte Relevanz / selbst Antiödipus, Hamletmaschine und Hölderlin Reparatur machen keine Ausnahme.“ So lakonisch er auch mit seinem eigenen Text umgeht – ebenso wie mit Deleuze/Guattari und Heiner Müller –, Falkner bleibt stets spielerisch. Die verschiedenen Textschnipsel werden den Leser*innen vorgelegt und wollen nun entschlüsselt werden, denn wenn man sich diesem Dechiffrierungsangebot verweigert, läuft man womöglich Gefahr, sich unterschiedliche Bedeutungsdimensionen entgehen zu lassen. Natürlich drängt sich die Frage auf, ob dieses Spiel nicht ein recht eitles (und letztlich müßiges) ist, wenn man versucht, die jeweilige Anspielungsnuss unter Aufbietung der eigenen bildungsbürgerlichen Wissensbestände zu knacken.

Auch die Gestaltung gibt dem/der Leser*in diverse ‚Arbeitsaufträge’. Schon das traditionsgeladene Label „Elegie“ fordert heraus. Zwar müssen hier keine Distichen gezählt werden, doch der Gattungsbestimmung gemäß steht die Klage hier im Vordergrund. „Lieber von Göttern zerstört / als vom Wirrwarr zerbrochen / sind wir doch weiter nichts als das / winzige Drama im Heer / von Metaphern“ liest sich ähnlich resignativ wie Hölderlins Wort vom „Dichter in dürftiger Zeit“. Und wieder klopft die Tradition an.

Ungeachtet all dieser Rückblicke und Traditionsverweise kommt Ignatien ungeheuer modern daher. Dies liegt vor allem an den Film-Stills von Yves Netzhammer, die wie verstreute Bohnen hier und da Falkners Gedichte illustrieren. Der 1970 geborene Schweizer Computerkünstler, der vor allem mit Videoinstallationen und Objekten von sich reden macht, gab diesem Gedichtband eine Reihe von digital produzierten, surrealen und teilweise grotesken Bildern bei. Gesichtslose menschenähnliche Gestalten, teuflisch wirkende Geräte, Automaten und Apparaturen und immer wieder Pflanzen und Tiere, nicht selten miteinander verquickt und ineinander verwachsen: Die stets wie unter einem Grauschleier erscheinenden Illustrationen Netzhammers muten an wie fotografische Antworten auf ‚Sound’, Personal und Motivik von Falkners Gedichten. Der Dialog zwischen Text und Bild ist jedoch nicht die einzige Dimension der mannigfaltigen Auseinandersetzung mit Sprache und ihres Transfers in andere Medien, Formen und Register, die Ignatien bietet. So liefern die Übersetzungen der in Iowa gebürtigen Lyrikerin Ann Cotten eine weitere Stimme in diesem selbstreflexiven Klagegesang auf unsere Gegenwart. „Translated and, but rarely, transmuted“ wurden die Falknerschen Elegien von Cotten. Eine besonders reizvolle ‚Transmutation’ des Ursprungstextes findet sich beispielsweise in „Ignatia 9“, wenn aus dem deutschen „Engel sind heikel“, „The English are delicate subjects“ wird. Hier handelt es sich nicht um einen Übersetzungsfehler oder um eine Spitze der gebürtigen US-Amerikanerin gegen britische Sprachverwandte, sondern um eine Adaption eines für Falkner charakteristischen Verfahrens auf den Prozess der Übersetzung. In seinen Gedichten finden sich viele dieser Metaplasmen – Wortspiele, die durch das Austauschen einzelner Laute entstehen – als Mittel der sprachlichen ‚Verwandlung’; die Ignatien bilden hier keine Ausnahme. „URPOKAL KLIO METERTHAL“ heißt es hier, oder „Amok und Psyche“, Und natürlich wird diese Transformation selbst wiederum Teil der Reflexion: „So viel Leben, allein durch Lautverschiebung.“

Klage, Pflanzen, Tiere und Sprache – alles ist in Ignatien in einer Art Zwischenwelt von analogen Traditionsbeständen, digitaler Gestaltung und Vernetzung angesiedelt. Wie passt sich nun die homöopathische Ignazbohne, der vom Gedichtband knapp 20 farblich und typographisch abgesetzte Seiten gewidmet werden, in diese Sammlung ein? ‚Ignatia amara’, so ihr lateinischer Name, scheint eng mit der Elegie verbunden. Sie ist gewissermaßen das Gegengift der Melancholie, soll „Wüstheit im Kopfe“, „Aengstlichkeit aus dem Unterleibe“ und „Träume voll Traurigkeit“ bekämpfen. Daneben wird ihr eine positive Wirkung insbesondere auf die männliche Sexualität zugesprochen. Die Aufzählung der verschiedenen Leiden, die sich durch Gabe der Ignazbohne behandeln lassen, erinnert entfernt an Dr. Erich Kästners lyrische Hausapotheke. Im Sinne eines Gebrauchsverständnisses von Lyrik lassen sich Falkners Ignatien ähnlich lesen wie Kästners lyrische Mittel zur Heilung von Verstimmungen aller Art. Die im hinteren Teil aufgeführten Leiden, die mit Hilfe der Ignatia amara kuriert werden können, ähneln jener Liste von Gefühlslagen, die Kästner seiner Sammlung wie einen Beipackzettel voran stellt: „Wüstheit im Kopfe, früh nach dem Aufstehen“ (Ignatien) – „wenn man vom Schlaf Trost erwartet“ (Dr. Erich Kästners Lyrische Hausapotheke); „Furchtsamkeit, Zaghaftigkeit, traut sich nichts zu, hält alles für verloren“ (Ignatien) – „wenn das Selbstvertrauen wackelt“ (Dr. Erich Kästners Lyrische Hausapotheke); „Nachts Träume voll gelehrter Kopfanstrengungen und wissenschaftlicher Abhandlungen“ (Ignatien) – „wenn sich Probleme melden“ (Dr. Erich Kästners Lyrische Hausapotheke).

Dabei wird die Melancholie jedoch nicht als Übel gekennzeichnet, das es zu bekämpfen gilt. Im Gegenteil: Im „manische[n] Sprechen“ der Ignatien soll, wie Falkner selbst bei einer Lesung bemerkte, eine Ehrenrettung der ‚Melancholie’ vorgenommen werden. „Also dieses manische Sprechen, was ich versucht habe, als Treibstoff für die Gedichte zu verwenden,“ so Falkner im Gespräch mit Michael Braun, „das gehört ja als Gegenpol zur Melancholie und zur Depression, zum Erscheinungsbild der bipolaren Erkrankung, der manisch-depressiven Erkrankung.“

Die einzelnen „Ignatien“ erzeugen, wie Netzhammers Bilder und Cottens Übertragungen, durch beharrliche Selbstreflexion und Paradoxien einen Zweifel an der Möglichkeit wirklich etwas zu wissen – und mit diesem Zweifel ein gewisses Gefühl der Melancholie. Diese wird jedoch nie pathologisiert, sondern als Reaktion auf die gezeichneten (Sprach-)Bilder vielmehr plausibilisiert.

Es sind sowohl Bilder als auch Gedichte des Scheiterns bei der Suche nach einem archimedischen Punkt für die eigenen Wissensansprüche, den die Sprache nicht bieten kann (das Bild, wie es Netzhammer generiert, jedoch ebenso wenig). Insofern singen die Ignatien ein altes Lied der Klage über den Menschen in der Moderne: Überflutet mit Informationen, Deutungsmöglichkeiten und Handlungsoptionen steht er im Zustand der Unsicherheit einer Welt gegenüber, die sich seinem Verständnis entzieht. Dabei stimmen sowohl Texte als auch Bilder nicht ein in jenen Abgesang auf das Subjekt, das all seine Stabilität verloren hat, sondern reproduzieren und kommentieren diese Effekte durch die zahlreichen intertextuellen Verweise und die verschiedenen miteinander verbundenen künstlerischen Ausdrucksmodi. Das Sammeln und Auflesen verschiedener Gegenstände aus der kulturgeschichtlichen Tradition bis hin zu brandaktuellen Medienerscheinungen sowie ein gewisses Maß an Verrätselung werden hier zum Prinzip des künstlerischen Schaffens. Als Projekt ist Ignatien ebenso vielschichtig wie anregend und bereitet nicht zuletzt durch das Sammeln und Vernetzen so vielfältiger Ebenen, Motive und Diskurse ungeheuren Spaß beim Lesen. Allerdings scheint bei allem Innovationsdrang die Sprache Falkners zuweilen überraschend bieder, etwa in insistierenden Passagen wie „Willst du // spricht die Sprache // zu der Sprache der Sprache als Mann // die Sprache der Sprache als Frau // zur Frau nehmen // Ich will, antwortet die Sprache der Sprache als Mann“ –, insbesondere wenn anschließend die Gegenfrage zum Eheversprechen ebenfalls gestellt wird. Auch ein Gedichteinstieg wie „Derrida! die Blumen sind da!“ wirkt eher wie ein matter Kalauer denn wie eine reflektierte Auseinandersetzung mit dem französischen Philosophen. Und nicht zuletzt ist die Ästhetik von Netzhammers Bildern recht gewöhnungsbedürftig und sicher nicht ‚jedermanns Sache’. Trotz (oder wegen) ihrer sowohl illustrativen wie auch kommentierenden Wirkung stören sie mitunter die Rezeption der Gedichte, da sie sich stark aufdrängen und in ihrer plakativen Optik mit Falkners punktuell ebenfalls etwas plakativen Formulierungen zu konkurrieren scheinen. Die Übersetzungen von Ann Cotten bleiben überraschend nah an den Ursprungstexten; nur selten spielen sie ähnlich kühn mit den Möglichkeiten der Übertragung wie im oben zitierten Fall, wodurch vor allem der semantische Gehalt sowohl der deutschen als auch der englischen Texte in den Vordergrund rückt.

Ignatien verschüttet ein ganzes Glas voll poetischer Bohnen, die vom Rezipienten aufgelesen werden können, dabei sind einige intelligent und witzig, andere leider etwas flach oder gar zu ambitioniert, sodass man manchmal das Gefühl hat, vor lauter Sammeln und Kombinieren bräche das Projekt selbst auseinander. Dennoch sind die Ignatien sowohl zur homöopathischen Medikation als auch zum (Lese-)Genuss sehr zu empfehlen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Gerhard Falkner / Yves Netzhammer: Ignatien. Elegien am Rande des Nervenzusammenbruchs / Elegies at the edge of nervous breakdown.
Übersetzt von Ann Cotten.
starfruit publications, Fürth 2014.
129 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783922895268

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