Liebe als Leerstelle

Zu Yannik Behmes annotierter Neuausgabe von Paul Nikolaus Cossmanns „Aphorismen“

Von Michael PilzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Pilz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer heute mit dem Namen Paul Nikolaus Cossmann überhaupt noch eine vage Vorstellung verbindet, der dürfte wohl in erster Linie an einen nationalistisch-konservativen Publizisten aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik denken, an dessen Süddeutschen Monatsheften das üble Odeur eines populistischen Hetzblattes zur Verbreitung der sogenannten „Dolchstoßlegende“ haften geblieben ist – und nicht etwa die Erinnerung an eine literarisch durchaus hochstehende Rundschauzeitschrift, in der zumindest vor 1914 unter anderem die Namen von Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Borchardt oder Rudolf Alexander Schröder zu finden gewesen waren. Spätestens der 1925 von Cossmann angestrengte Münchner „Dolchstoßprozess“, der wie so viele andere in die unerquickliche Skandalgeschichte der Weimarer Justiz gehört, hatte seine Person zu Recht zu einem roten Tuch in der demokratisch gesinnten Öffentlichkeit werden lassen.

Wer sich die Mühe beziehungsweise das Vergnügen macht, die Jahrgänge der Weltbühne, des Tage-Buchs oder auch anderer linksdemokratischer Blätter aus der Weimarer Republik durchzublättern, wird auf Schritt und Tritt über Auseinandersetzungen kritischer Zeitgenossen mit dem Herausgeber der Süddeutschen Monatshefte stolpern, der seit 1920 zudem als Spiritus Rector der Münchner Neuesten Nachrichten fungierte und damit über erheblichen Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung nicht nur in Bayern verfügte. Für republikanische Intellektuelle jedenfalls zählte Cossmann zum eigentlichen Kern jenes „Münchner Problems“ der 1920er-Jahre, wie es der Satiriker und Feuilletonist Peter Scher in der Weltbühne vom 3. August 1926 benannt hat, um den Wandel der ehemaligen „Kunststadt“ vom weltläufigen „Isar-Athen“ der Vorkriegszeit mit seiner pluralistischen Boheme-Szene zum xenophoben Sammelbecken rechtsradikaler Strömungen in der „Ordnungszelle Bayern“ zu charakterisieren. Sogar Thomas Mann – der bekanntlich 1926 seinerseits darüber geklagt hatte, „daß München in Deutschland und darüber hinaus als Hort der Reaktion […] verschrien war“ und „man es eine dumme, die eigentlich dumme Stadt nannte“ – konnte schon bald darauf den Grund für solche Titulierungen mit den publizistischen Aktivitäten Cossmanns in Verbindung setzen, als er zwei Jahre später selbst ins Visier der Münchner Neuesten Nachrichten und der Süddeutschen Monatshefte geriet: Die politischen Positionswechsel des einstmals hochgeschätzten konservativen Koalitionärs bildeten Anlass genug für Cossmann und seine Mitarbeiter, die publizistische Hetzjagd gegen den Verfasser der Betrachtungen eines Unpolitischen zu eröffnen und dessen stillschweigend vorgenommene Umarbeitungen seines Kriegsbuches (neben anderen vorgeblichen Verfehlungen) lautstark als verräterische Aktion anzuprangern.

Cossmann selbst als einen Exponenten des literarischen Feldes zu betrachten, der sich jenseits solcher – kaum mehr unter „Literaturkritik“ zu verbuchender – Invektiven am literarischen Diskurs beteiligt haben würde, liegt vor diesem Hintergrund keineswegs auf der Hand. Umso mehr muss es überraschen, unter den diesjährigen Neuerscheinungen des umtriebigen Wehrhahn Verlags in Hannover auch ein schmales Bändchen mit literarischen Texten von Paul Nikolaus Cossmann zu entdecken – denn die gibt es durchaus. Sie tragen den schlichten Titel Aphorismen, sind nach ihrer Erstveröffentlichung 1898 im Münchner Verlag Haushalter schon 1902 bei Schuster & Löffler in einer zweiten Auflage herausgekommen und haben seinerzeit durchaus breite Beachtung gefunden, wie mehrere, überwiegend positiv gestimmte Rezensionen unter anderem aus der Feder von Lou Andreas-Salomé, Ludwig Jacobowski, Anton Bettelheim oder Karl Emil Franzos belegen.

Yannik Behme, der Herausgeber der Neuedition, die auf der ersten Auflage von 1898 fußt, hat auch diese Rezensionen gesammelt und nebst weiteren, verstreut publizierten Aphorismen aus Cossmanns Feder, einigen erläuternden Textanmerkungen sowie einem knappen Nachwort im Anhang des Bändchens abgedruckt. Das ist anregend und verdienstvoll, zumal gerade die anderweitig nur schwer zugänglichen Rezeptionsdokumente wertvolles Quellenmaterial nicht nur für die Wirkungsgeschichte von Cossmanns Büchlein, sondern auch zur Geschichte der gattungstheoretischen Reflexion über den Aphorismus im Diskurs der programmatischen Moderne liefern. Wer sich mit der Gattungsgeschichte der Aphoristik an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beschäftigt, dem wird damit reichhaltiges Material zur Verfügung gestellt.

In seinem ebenso konzisen wie kundigen Nachwort unternimmt Behme den Versuch, Cossmann ohne jegliche Voreingenommenheit primär in der Rolle eines herausragenden literarischen Aphoristikers zu würdigen und seinem Büchlein die gebührende Position im Feld der zeitgenössischen Aphoristik von Fritz Mauthner bis Marie von Ebner-Eschenbach zuzuweisen. Dabei wird Cossmann nicht nur ein „scharfer Blick“ attestiert, der „weit über den Zeitgeist hinaus reicht“, sondern auch die ästhetische Qualität einer Schreibstrategie herausgearbeitet, die die eigenen pointierten Formulierungen mit „ironisch invertierten Partien“ kontrastiert, um „das Unsystematische und Undogmatische der aphoristischen Denkmethode durch Juxtaposition geistreicher Aperçus einerseits und selbstentlarvender Schwafeleien andererseits […] erheblich zu steigern“. Cossmann habe damit „in seinen Aphorismen eine Vielstimmigkeit“ erreicht, „die ihn eine Sonderstellung innerhalb der deutschsprachigen Aphoristik einnehmen lässt“.

Tatsächlich besticht das Bändchen als Ganzes durch seine „polyphone Eigenart“, die auf dem Gebiet der kleinen Form aphoristischer Prosa gleichsam in einer Art Parallelaktion vollzieht, was um dieselbe Zeit etwa auch im Gebiet der Essayistik als eine Tendenz zur Poetisierung reflexiver Textgenres durch Fiktionalisierung zu beobachten ist. Zu denken ist hier nicht etwa nur an Hugo von Hofmannsthals Erfundene Gespräche und Briefe oder die Wiederbelebung des platonischen Gesprächs im Dialogessay durch Rudolf Borchardt und zahlreiche andere Autoren um 1900, sondern etwa auch an die vielfältigen Experimente mit polyphonen Ausdrucksformen in der Essayistik von Cossmanns heute gleichermaßen in Vergessenheit geratenem Freund und nachmaligem Mitherausgeber bei den Süddeutschen Monatsheften, Josef Hofmiller.

Wie in manchem von Hofmillers Brief-, Monolog- oder Gesprächsessays haben wir es auch in Cossmanns Aphorismen zumindest partienweise mit Rollenprosa zu tun, in der die Stimme des Autor-Ichs mit fiktionalisierten Sprecherpositionen abwechselt. Für sie gilt denn auch, was der Aphoristiker Cossmann über „manche Bücher“ sagt, die „wie Geheimschriften“ zu lesen seien: „um sie richtig zu verstehen, muß man sie durch eine Linse lesen, welche alles auf den Kopf stellt“. Was dabei entsteht, ist ein Textganzes, das nicht mehr auf die Lektüre einzeln herausgegriffener Aphorismen abgestellt ist, sondern vielmehr auf die sukzessive Kenntnisnahme der kompletten Sammlung in ihrem formalen Zusammenhang unter Einschluss der paratextuellen Strukturierung: Durch die Kapitelgliederung der Zwischenüberschriften etwa werden immer nur abschnittsweise gültige Sprecherhaltungen und Stimmlagen markiert, die keineswegs zuverlässig die Meinungen des Verfassers wiedergeben müssen, sondern bei isolierter Lektüre zahlreiche Missverständnisse produzieren können. So kontrastieren etwa die aphoristischen Aussagen unter den Überschriften „Philosophie des Pöbels“ und „Philosophie des Lehrpöbels“ – die sich rasch als Parodien ernst gemeinter Aphorismen identifizieren lassen – mit den abschließenden „Maximen“, die ohne Weiteres der Sprecherposition des Autors Cossmann zuzuordnen sind und in ihrer Pointierung bis zum wörtlichen Widerspruch des vorher Gesagten reichen: Der parodistisch gemeinten Sentenz „Ein ordentlicher Kerl schließt sich nie aus“ steht solchermaßen etwa die Maxime gegenüber: „Ein Schwächling schließt sich nie aus“.

„Schwächling“, „Pöbel“ oder auch „Lehrpöbel“ (als Bezeichnung für die Angehörigen des akademischen Feldes) – diese Beispiele veranschaulichen bereits, dass der Aphoristiker Cossmann nicht nur geistreich sein kann, sondern bisweilen auch eine etwas markige Sprache pflegt. Er zeigt sich damit durchaus noch den verbalen Muskelspielen und Überlegenheitsgesten einer performativen Moderne verpflichtet, wie sie etwa in Michael Georg Conrads programmatischer Zeitschrift Die Gesellschaft heimisch war, an deren letzten Jahrgängen auch Cossmann noch aktiv mitgearbeitet hatte. Gleichzeitig zeichnet sich in den Aphorismen aber auch ein deutliches Ressentiment gegenüber den künstlerischen Avantgarden der Zeit ab, wie sie dann wenige Jahre später zu einem immer lauter anschwellenden Begleitton in den Süddeutschen Monatsheften werden sollte. Diese grundständige Aversion schlägt sich nicht etwa nur in einer Parodie auf den naturalistischen Sekundenstil nieder, den Cossmann in einem fragmentierten und überwiegend aus einer Anhäufung von Gedankenstrichen zusammengesetzten Kurztext unter der Überschrift Auf der Stadtbahn (Von einem Modernen) durch den Kakao zieht, sondern auch in einem unmittelbar nachgeschobenen Aphorismus, demzufolge man „bei manchen modernen Dichtern“ nie recht wisse, „ob die vielen Gedankenstriche nicht etwa lauter unanständige Wörter vertreten sollen“.

Wo das Gegensatzpaar von Anständigkeit und Unanständigkeit oder gar die „Erfüllung der Pflicht“ als oberste Kategorien ins Spiel kommen und die durchaus ernst gemeinte Maxime das ironische Spiel der Stimmen quittiert, dass „Ernst sein […] Alles“ sei (zumindest lauten so die letzten Worte des Bändchens), da schleicht sich immerhin der Verdacht ein, dass sich die ostentative Feier der eigenen Autonomie, die Cossmann gegen die Masse der „Schwächlinge“ verteidigt, bei aller formalen Brillanz doch in recht engen und bescheidenen Grenzen bewegen könnte. Dabei muss man erst gar nicht bis in den Anhang blättern, wo sich unter den verstreut publizierten Aphorismen auch mal Plattitüden wie die folgende finden: „Ein Mann, ein Wort. Eine Frau, viele Worte.“ – Dass der Zwang zur Originalität noch den begnadetsten Aphoristiker zuweilen zu Ausrutschern führt: geschenkt. Spätestens bei Sätzen wie: „Was hilft es, die Lüge zu töten! Der Lügner bleibt am Leben“ drängt sich dem Leser, der um Cossmanns weitere Entwicklung zum rechtsradikalen Publizisten weiß, aber vielleicht doch die Frage auf, inwieweit in diesem pflichtbewussten Wahrheitsfanatiker der 1890er-Jahre schon der nachmalige Verfechter einer nationalistischen ‚Wahrheit‘ im Kampf gegen ‚Kriegsschuldlüge‘ und andere vorgebliche ‚Ammenmärchen‘ zumindest ansatzweise angelegt war.

Und dann ist da noch jenes kurze Kapitel in den Aphorismen, das bereits unter den Zeitgenossen der Jahre um 1900 die größte Aufmerksamkeit hervorgerufen hat, wie die von Yannik Behme akribisch ermittelten Rezeptionszeugnisse belegen: „[…] beachte mal das merkwürdige Kapitel ‚Liebe‘“, schreibt etwa Rainer Maria Rilke nach der Lektüre von Cossmanns Büchlein im Jahr 1899 an Lou Andreas-Salomé über den besagten Abschnitt, der noch den heutigen Leser beim ersten Zugriff kurz innehalten lässt und die Frage aufwirft, ob er nicht etwa ein drucktechnisches Mängelexemplar in Händen halte: Auf den Zwischentitel, der Aphorismen über die Liebe ankündigt, folgen nämlich schlichtweg zwei leere Seiten – was man zunächst einmal als einen „shandyesken Einfall“ goutieren kann, der die ironische Polyphonie des Bandes um einen weiteren Akzent bereichert. In Kenntnis von Cossmanns späteren Veröffentlichungen bis hin zu seinen nationalistischen Pamphleten könnte man freilich auch versucht sein, diese frühe Leerstelle als eine durchaus symptomatische zu begreifen. Denn die Liebe hat im weiteren Werk des Publizisten Cossmann tatsächlich nur mehr eine marginale Rolle gespielt.

Dass und in welchem Umfang Cossmanns publizistisches Schaffen viel eher schon vom blanken Gegenteil der Liebe, nämlich von offen artikuliertem Hass getragen war, wird schlaglichtartig durch die Lebenserinnerungen des Münchner Rechtsanwalts und SPD-Politikers Philipp Loewenfeld illustriert, die auch einige Abschnitte über Cossmann enthalten. Vor allem lassen sie die bereits zitierten Sätze vom Weiterleben des Lügners in einem veränderten Licht erscheinen, indem sie die implizite Aussage, die Lüge könne nur dann aus der Welt geschafft werden, wenn auch die sie verbreitenden Personen getötet würden, mit einem erschreckend realen Anwendungsfeld konfrontieren. Loewenfeld berichtet nämlich von einem Schaukasten der Münchner Neuesten Nachrichten, den Cossmann in den 1920er-Jahren regelmäßig nicht nur mit Porträtphotographien aktueller Prominenz, sondern auch mit den Konterfeis politischer Gegner samt einschlägiger Bildunterschriften versehen ließ, um die vermeintlichen Lügner im wahrsten Sinne des Wortes an den Pranger zu stellen: „Klar war, daß eine solche öffentliche Anprangerung in der Zeit des blühenden Fememordes als klare Mordpropaganda anzusehen war“ (Philipp Loewenfeld: Recht und Politik in Bayern zwischen Prinzregentenzeit und Nationalsozialismus).

Dass der solchermaßen die Methoden von Julius Streichers Stürmer vorwegnehmende Cossmann – der selbst aus einem jüdischen Elternhaus stammte, aber zum Katholizismus konvertiert war – nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten als bekennender Monarchist wie als Jude seinerseits dem nationalsozialistischen Terror zum Opfer fallen und 1942 im KZ Theresienstadt umkommen sollte, macht ihn nicht nur zu einer durchaus tragischen Figur der deutschen Geschichte, sondern vor allem auch zu einer exemplarischen, die auf die verworrenen Gemengelagen im intellektuellen wie im politischen Feld des 20. Jahrhunderts verweist.

Als solche wartet der nun wiederentdeckte Aphoristiker noch immer auf eine angemessene und differenzierte Würdigung durch die Wissenschaft.

Titelbild

Paul Nikolaus Cossmann: Aphorismen.
Mit einem Nachwort herausgegeben von Yannik Behme.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2015.
99 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783865254412

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