Werdet endlich erwachsen!

Plädoyer für eine aufgeklärte Haltung: Die amerikanische Philosophin Susan Neiman ermutigt zu einem reiferen Umgang mit einer Welt, die nicht so ist, wie sie sein sollte

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Betrachtet man die Lebensläufe islamistischer Terroristen, fällt auf: Fast alle von ihnen sind in der westlichen Kultur verwurzelt und aufgewachsen. Für Susan Neiman ist das kein Zufall, sondern ein Beleg für das defizitäre Sinnangebot, das der Westen Heranwachsenden mache – letztlich habe die westliche Welt, wie sie sich heute darstelle, an Werten wenig mehr zu bieten als das „Go shopping“, mit dem George W. Bush nach dem 11. September an seine Landsleute appellierte, behauptet die US-amerikanische Philosophin in ihrem neuen Buch „Warum erwachsen werden?“: „Solange nicht klar ist, ob Erwachsenwerden mehr bedeutet, als die eigene Spielzeugsammlung zu vergrößern, werden Jugendliche den einfachsten verfügbaren Ersatz suchen.“

„Spielzeug“, das sind für Susan Neiman all jene Technik-Gadgets, mit denen sich heute viele Menschen lieber beschäftigten als mit sogenannten „kindischen Träumen“ wie dem von einer „gerechteren und humaneren Welt“: für Neiman eine für unsere Zeit typische „perfide Verkehrung, die uns dauerhaft verwirrt“. In einer vom Konsumismus infantilisierten, vom Jugendlichkeitswahn beherrschten Gesellschaft stehe es schlecht um das Ideal des Erwachsenwerdens, so Neiman, auch deshalb, weil die herrschenden Eliten gar kein Interesse an wirklich „erwachsenen“ Bürgern hätten.

Das zeige der Erfolg von Politikern wie Angela Merkel mit ihrer „Mutti kümmert sich um alles“-Botschaft ebenso wie der durch Edward Snowden aufgedeckte Überwachungsfuror der Geheimdienste: „Das Streben des Staates nach Kontrolle und unser Streben nach Bequemlichkeit bringen im Verbund Gesellschaften hervor, in denen es weniger Konflikte gibt, nur sind es Gesellschaften ohne mündige Bürger.“

Eine Gesellschaft von mündigen Bürgern – davon träumten schon die Aufklärer. Und tatsächlich ist für Susan Neiman Immanuel Kant noch immer erheblich wichtiger als Steve Jobs. Schon in ihrem letzten Buch, „Moralische Klarheit“ (2010), einer Abrechnung mit der Politik der Bush-Regierung, hat die Direktorin des Potsdamer Einstein-Forums dafür plädiert, sich wieder auf die Werte und Ideen der Aufklärung zu besinnen. Für sie führt die modische Ablehnung der Aufklärung nur „zu vormoderner Nostalgie oder zu postmodernem Misstrauen“. Angesichts der noch immer verbreiteten Unmündigkeit sei Kants Motto – „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ – unverändert aktuell und die Frage der Erziehung wichtiger denn je.

Doch kann uns die Pädagogik des 18. Jahrhunderts wirklich noch helfen? Waren es nicht die Aufklärer, die vor Lesesucht oder Onanie warnten und deren „Sapere aude!“ sich selbstverständlich vor allem an den männlichen Bürger richtete? Neiman weist selbst auf einige naheliegende Einwände hin: Jean Jaques Rousseau etwa, der als erster über die Frage der Erziehung als philosophisches Problem nachdachte, gab seine eigenen Kinder ins Waisenhaus. Und Kant träumte angesichts des desolaten staatlichen Schulsystems seiner Zeit von privaten Bildungseinrichtungen – dass diese heute wie in den USA von Unternehmen wie Coca-Cola gesponsert und als Absatzort für ihre Produkte missbraucht werden, hätte er sich nicht träumen lassen. 

Dennoch können wir von Kant und Co. etwas Entscheidendes lernen, glaubt Neiman: nämlich wie man auf erwachsene Weise mit dem Umstand umgeht, dass die Welt nicht so ist, wie sie sein sollte. Oder, aus Erziehersicht, wie man Kinder auf eine solche Welt vorbereitet. Wie reagiert man etwa als Elternteil, wenn das eigene Kind erstmals erleben musste, ungerecht behandelt worden zu sein, in der Schule beispielsweise? Teilt man einfach nur die kindliche Empörung oder antwortet man darauf mit einem resignierten „Die Welt ist halt so“?

Weder noch, denn Neimans Modell des Erwachsenwerdens verlangt den schwierigen Balanceakt: zwischen naivem Idealismus einerseits und desillusioniertem Zynismus andererseits. Oder besser gesagt: Es will beide Extreme auf fruchtbare Weise verbinden – ähnlich wie einst Kant in seiner Erkenntnistheorie Dogmatismus und Skeptizismus zusammenführte. Vor allem in der Auseinandersetzung mit Rousseaus „Émile“, Kants „Kritik der reinen Vernunft“, der Stoa und Hannah Arendt, entwickelt Nieman ihr Modell, das sie als ein „subversives Ideal“ bezeichnet. Erwachsensein hieße demnach: Gleichermaßen ernüchtert wie „nicht-resignativ“ zu sein – eine engagierte Haltung, die die Grenzen der Realität zwar sieht, aber vor allem als Ansporn nimmt, mitzuhelfen, das Sollen und das Sein zusammenzubringen: „Erwachsenwerden verlangt, sich der Kluft zwischen beidem zu stellen, ohne eines davon aufzugeben.“

So weit, so gut: Aber wie wird man nun erwachsen? Hier nun wird es leider ein wenig banal und teilweise auch verzopft. Viel lesen, vor allem die kanonischen Klassiker, empfiehlt Neiman, und sich eine möglichst sinnvolle Tätigkeit suchen, und zwar am besten im Ausland, weil nichts so bewusstseinserweiternd sei wie die intensive Begegnung mit einer fremden Kultur. Immerhin räumt Neiman selbst ein, dass in einer Zeit, in der die Jugendarbeitslosigkeit in Europa mehr als 20 Prozent beträgt, die Kluft zwischen Sein und Sollen besonders groß ist.

Wenig überraschend, sucht man auf ihrer Empfehlungsliste vergebens den Rat, auch in späteren Jahren möglichst oft zu spielen – dabei ist etwa von Edward Snowden bekannt, dass er seine moralische Haltung, sein eigenes Schicksal dem gesellschaftlichen Wohl unterzuordnen, beim Zocken von Computerspielen entwickelt hat. Worüber sich wiederum ein anderer Kantianer, Friedrich Schiller nämlich, gar nicht gewundert hätte.

Titelbild

Susan Neiman: Warum erwachsen werden? Eine philosophische Ermutigung.
Carl Hanser Verlag, München 2015.
240 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446247765

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