Ein kongenialer Künstler-Roman

Über Ralph Dutlis „Soutines letzte Fahrt“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Übersetzer und Herausgeber – vor allem der zehnbändigen Werkausgabe Ossip Mandelstams –, als Lyriker und als Essayist war er im Literaturbetrieb längst ein Begriff: der in Schaffhausen geborene und seit einiger Zeit in Heidelberg lebende Autor Ralph Dutli (Jahrgang 1954). Mit seinem ersten Roman „Soutines letzte Fahrt“ ist ihm gleich ein Coup gelungen. Der ist, um es gleich vorweg zu sagen, zu Recht für den Deutschen Buchpreis 2013 nominiert worden – wie im Übrigen auch sein neuer Roman „Die Liebenden von Mantua“ auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2015 steht. Sein Roman um den weißrussisch-jüdischen Maler Chaim Soutine (geboren 1883 oder 1884, gestorben 1943) hatte es zudem auf die Shortlist für den Schweizer Buchpreis 2013 und geschafft und wurde mit dem Rheingau Literaturpreis 2013, mit dem Preis der Literatour Nord 2014 sowie mit dem Düsseldorfer Literaturpreis 2014 ausgezeichnet. Entsprechend überschwängliche Kritiken begleiteten den biografischen Roman, der ein faszinierendes Kabinettstück über den eigenwilligen Zeitgenossen Marc Chagalls, Pablo Picassos und Amedeo Modiglianis ist.

Die Handlung des Romans setzt am 6. August 1943 im französischen Chinon an der Loire, in der Nähe von Tours, ein. Der schwerkranke Maler Chaim Soutine, dessen Bilder als entartet gelten und der als Jude in Gefahr ist, von der Gestapo verhaftet zu werden, soll heimlich in einem Leichenwagen nach Paris gebracht werden – in die von den Deutschen besetzte „Hauptstadt des Schmerzes“. Ein Magengeschwür, sein jahrelanger „Doppelgänger, der ihn verhöhnt und quält“, droht aufzubrechen. Die lebensnotwendige Operation kann jedoch nicht im Krankenhaus von Chinon, sondern nur in Paris durchgeführt werden. Dabei ist eine Fahrt mit einem normalen Krankentransport auf dem direkten Weg viel zu riskant: „Am 31. Juli war er mit der Ambulanz eingeliefert worden. Die letzten Tage des Monats waren schrecklich gewesen, ans Malen war nicht mehr zu denken, der Schmerz im Oberbauch war zu bohrend geworden, ließ ihm kaum mehr Pausen, die er vorher noch gnädig, mit einer unvorhersehbaren Lässigkeit gewährt hatte.“

Die Geliebte, Marie-Berthe Aurenche, genannt Ma-Be und Ex-Frau von Max Ernst, initiiert den langen Transport, während dessen sich Soutine im Fieber- und Morphin-Delirium an sein Leben erinnert, Gegenwart und Vergangenheit verschmelzend:

Ich bin … der Mörder … meiner Bilder. Es musste nicht immer Feuer sein, das die Lösung brachte. Öfter waren es Angriffe mit dem Messer gewesen, ein blindes Aufschlitzen, um die farbigen Geschwüre auf der Leinwand nicht mehr sehen zu müssen. […] Im Feuerritual war mehr wütender Triumph: das Hervorzerren der Leinwände, die Fäuste am Rahmen festgekrallt, das Hineinschleudern in den rauchenden, schlecht ziehenden Kamin, das Auflodern, wenn die Flamen das Öl geleckt hatten. Keiner hat mehr Bilder zerstört als er, keiner.

Schon früh erlebt Chaim Soutine, in der Nähe von Minsk als zehntes von elf Kindern in eine bettelarme jüdisch-orthodoxe Schneiderfamilie geboren, Gewalt und Elend. Es zieht ihn zu Farben, zum Zeichnen, wobei er auf erbitterten Widerstand seiner Familie und des Rebbe stößt, der ihn noch im Traum im Leichenwagen Vorwürfe macht, seine Pinsel verschmiere „die Welt zu Fratzen“ und er verhöhne mit seiner Malerei die Schöpfung: „Die Schöpfung will nicht gemalt sein, Chaim, die Schöpfung ist am Ende der Woche da […] Du sollst dir kein gegrabenes Bildnis … noch irgend ein Gleichnis machen“.

Doch die Sehnsucht nach Farben, nach Zeichnen und Malen ist stärker als die Gewalt der Brüder; der junge Chaim schafft es – bettelnd und mithilfe von Gelegenheitsjobs – 16-jährig nach Wilna an die Kunstakademie und schließlich 1913 nach Paris zu gehen, wo er zunächst Mitglied der Künstlerkolonie „La Ruche“ wird und obsessiv zu malen beginnt, auch um seiner Herkunft zu entfliehen.

Doch für Soutine bleiben doleur und couleur untrennbar verbunden, denn „die Farben sind Schwestern der Schmerzen“, wie er im Traum Dr. Bog erläutert. Das ist in der Villa Seurat genauso wie in Céret am Fuße der Pyrenäen oder in Cagnes. Auch der Erfolg durch den Ankauf von 50 bis 100 Soutines durch den amerikanischen Kunstsammler und Pharmazeuten Barnes, der unter anderem den berühmten Konditorlehrling von Céret erwirbt, der auch den Umschlag von Dutlis Roman ziert, befreit Soutine nicht vom Schwindel durch das „Taumeln der Dinge in einer heillosen Welt“. Am Ende ist er – das steht am Anfang des Textes – als lebende Leiche auf dem Weg nach Paris.

Subtil, einfühlsam und doch Distanz wahrend – besonders in der Schilderung der Beziehungen Soutines zu Ma-Be oder zu Gerda Michaelis, genannt „Garde“ – gelingt Dutli mit „Soutines letzte Fahrt“ ein kongenialer Künstler-Roman, ein Text, der Lust darauf macht, ihn gleich ein zweites Mal zu lesen, und der auch dazu anregt, sich von Soutines Bildern berühren zu lassen.

Titelbild

Ralph Dutli: Soutines letzte Fahrt. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
272 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835312081

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