Das Kino als Erziehungsanstalt

Jospeh Roths Feuilletons zum Film sind vor allem eines: eine Hymne auf die Kunst des Dokumentarfilms

Von Jens PriwitzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Priwitzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man kann sich kaum vorstellen, wie begeistert Joseph Roth zu Beginn seiner Karriere als Journalist ins Kino gegangen ist. Der Große Krieg war zu Ende, die Habsburger Monarchie der Republik gewichen, die Macher des neuen Mediums Film versuchten sich an neuen Themen und Formen. Zwar zeigt sich Roth durchaus interessiert an den vielfältigen Sujets der Erstaufführungen, die er zumeist im Auftrag einer Zeitung besucht, doch dabei hinterlässt das Publikum oft einen stärkeren Eindruck auf ihn als der aktuelle Streifen. Wie in vielen anderen Betrachtungen, die der angehende Journalist zwischen 1919 und 1920 verfasste, geraten deshalb in den Filmkritiken die unteren Bevölkerungsschichten ins Bild, über die andere Kritiker lediglich die Nase rümpften. Der „rote Joseph“, wie er manchmal seine Texte unterzeichnet, sitzt mitten unter ihnen, links und rechts „Dirnen und Zuhälter, lärmende Schminke auf Backenknochenpolen, bandagierte Hände, verkommende  Krüppel“. Der Kritiker schreibt aber nicht mit dem kühlen Blick eines Filmsoziologen. Roth fabuliert, überspitzt, ironisiert, doch er stellt die Menschen, die er mit wenigen Zeilen einfängt, nicht bloß, sondern gibt ihnen mit prägnanten und geradezu sprechenden Details eine scharfe Kontur.

All dies lässt sich nun in dem Band „Drei Sensationen und zwei Katastrophen“ nachlesen, in dem die Herausgeber Helmut Peschina und Rainer-Joahim Siegel Roths „Feuilletons zur Welt des Kinos“ nach den Erstdrucken versammelt und sorgfältig kommentiert haben. Und wie man nach der Lektüre weiß, spannt sich der Bogen von einer frühen Begeisterung Roths für das neue Medium bis hin zu einer späten Resignation. Angesichts der Erfolge des Tonfilms plagen ihn apokalyptische Visionen. Der erste Artikel stammt von März 1919, der letzte Text wurde im Februar 1935 veröffentlicht. Sei es Zufall oder nicht, beide beschäftigen sich mit der Verwicklung von Politik, Zeitgeschichte und Filmschaffen. Roths erste Arbeit für die „Filmwoche“ mit dem Titel „Film im Freistaat“ lässt nicht nur erkennen, dass sich der Beobachter gut in die Materie eingearbeitet hat, sondern zugleich wird deutlich, dass der Filmkritiker von der Hoffnung getragen ist, der Film werde „eine neue Zeit im wahrsten Sinne des Wortes ‚anschaulich machen‘“. Roth imaginiert neuen Realismus in der Darstellungskunst – eine „Natürlichkeit“ –, die „Byzantinismus und Tartüfferie“ der Kaiserzeit vergessen lassen.

Diese Natürlichkeit wird er beim Unterhaltungsfilm mit seinen monumentalen Erzählungen, unwahrscheinlichen Wendungen und dem einsetzenden Starkult nicht finden. Einer seiner frühen Texte spielt bereits mit den Tropen, die der Detektivfilm in seiner kurzen Geschichte bereits entwickelt hat. So heißt es zum Detektiv selbst: „Die besten Einfälle und die scharfsinnigsten Gedanken saugt er aus seiner kurzen englischen Pfeife. Ohne diese Pfeife müsste er den Beruf wechseln.“ Den Spott über das neue Medium Film teilt er mit vielen Intellektuellen seiner Zeit, doch Roth schaut genauer hin und erkennt durchaus Potenzial – und zwar als „Erziehungsanstalt“ der Massen. Für Roth ist das Kino ein „anschaulich gemachter Knigge“, in dem der Zuschauer Manieren und Gesten des Schauspielers übernehmen und sich dadurch zivilisieren und kultivieren könne.

Im Dokumentarfilm drückt sich die Natürlichkeit des Films am deutlichsten aus

Doch seine wahre Leistung vollbringt der Film in den Augen Roths nicht als Spiel- oder Unterhaltungsfilm, sondern als Dokumentarfilm. Nur dann könne der Film sich überhaupt von anderen Kunstformen, insbesondere vom Theater, emanzipieren. Die Themen, die sich Roth vorstellt, sind so vielfältig wie die Welt: „das Wachstum einer Pflanze, die Weltordnung eines Ameisenhaufens, der Liebesroman eines Schmetterlings, aber auch die Wunderwelt der Technik, der märchenumsponnene Meeresgrund, Dramatisierung der Volkssage“. Kurz, die Aufgabe des Dokumentarfilms besteht darin,  „Das Verborgene aufzudecken, Geheimnisse zu entschleiern, das Unsichtbare darzustellen.“ Und das gelingt dem Film gerade dann, wenn die Sujets große Expeditionen oder Naturdarstellungen sind. Die französisch-US-amerikanische Koproduktion „Nanuk“, die im Februar 1924 in die deutschen Kinos kam, veranlasste Roth zu einer fulminanten Besprechung. Nicht nur der allgemeinen Begeisterung war dies geschuldet: „Noch nie hat Berlin, die Stadt der Sachlichkeit und des zweckhaften Rhythmus so einen Gast begrüßt: mit so viel stürmischer Neugier, mit so viel herzlicher Wehmütigkeit; mit so viel wahrer Gastfreundschaft, in der sich die Bewunderung des Unverständlich-Fremden mit dem gefühlvollen Miterleben mischt.“ Vielmehr offenbart sich für Roth im Inuit Nanuk die „Einfalt“ des naturverbundenen Menschen, die sich über die zerstreuende „Vielfältigkeit“ des modernen Büromenschen erhebe. „‚Nanukʻ ist große Dichtung; Gott dichtet sie alle Tage und Nanuk ist einer seiner Millionen Helden und das Eismeer die große Bühne, auf dem die Dichtung aufgeführt wird, der Sturm und der Schnee sind großartige Regisseure, die gefrorene Schweigsamkeit läßt sich von keinem Applaus unterbrechen.“

Rund 10 Jahre später ist von dieser Euphorie des jungen Filmkritikers nichts mehr zu spüren. Vielmehr beklagt Roth, dass das Filmverkehrsabkommen zwischen Österreich und dem Deutschen Reich bereits den „Anschluss“ der österreichischen Filmindustrie an Nazi-Deutschland bedeute. Die wirtschaftlichen Überlegungen führen aber „zu verheerenden politischen Folgen für ein Land, das den Kampf um seine Unabhängigkeit mit allen Mitteln führen muss, unter Umständen auch mit den Mitteln des Film.“ Doch das sei nun schlichtweg nicht mehr möglich, wenn österreichische Schauspieler eine arische Abstammung nachweisen müssten und österreichische Filme weder „Preussen noch das Neu-Heidentum des Nationalsozialismus“ angreifen dürften.

Zwischen 1919 und 1935 feierte Roth Erfolge als Journalist und Schriftsteller, ging von Wien nach Berlin und Frankfurt am Main, schrieb glänzende Reisereportagen aus Russland, Albanien oder Italien. Ende der 1920er-Jahre siedelte er nach Paris und Südfrankreich über, wo er so etwas wie eine Heimat fand. Währenddessen entstanden meisterliche Romane wie „Hiob“ und „Radetzkymarsch“, die das untergegangene Reich der Habsburger Monarchie und die verlorene Welt des Ostenjudentums wehmütig beschreiben – auch eine Art von Heimat, aber eine, die unwiederbringlich verloren war. Ins Kino führte ihn in sein Weg zu dieser Zeit immer weniger. Roths Filmkritiken für den Berliner Börsen-Courier und die Frankfurter Zeitung fallen zudem weniger enthusiastisch aus als die der Wiener Zeit. Sei es aus mangelnder Zeit, weil er andere redaktionelle Pflichten hatte – und für das Ressort Film in der Frankfurter Zeitung kein geringerer als Siegfried Kracauer zuständig war –, sei es aus wachsender Distanz dem Medium gegenüber, die Essays aus der Mitte der 1920er-Jahre wirken zumeist wie Pflichtübungen. Erst zum Ende des Jahrzehnts beschäftigte sich Roth wieder ein wenig intensiver mit dem Film, wenngleich seine Perspektive immer pessimistischer wurde.

Anfang der Dreißiger Jahre wird aus Hollywood „Hölle-Wut“

In seinem Buch „Der Antichrist“, seiner mit biblischem Furor geschriebenen Abrechnung mit der Moderne, kommt deshalb auch der Film – insbesondere der Unterhaltungsfilm – denkbar schlecht weg. Ein Vorabdruck des entsprechenden Abschnitts im „Pariser Tageblatt“ aus dem Jahr 1934 findet sich unter dem Titel „Im Land der Wolkenkratzer“ ebenfalls im vorliegenden Band. Hollywood wird zu „Hölle-Wut“ verunglimpft und als Reich der Schatten gebrandmarkt, als „Ursprung aller Schatten der Welt, der Hades, der seine Schatten für Geld verkauft, die Schatten der Lebendigen und der Toten, an alle Leinwände der Welt“. Das Kino, so Roths Fazit, verführe zum Bösen: „Mit dem Kino beginnt das 20. Jahrhundert, das ist: Das Vorspiel zum Untergang der Welt.“ Trotz dieser apokalyptischen Diagnose ist sich Roth für einen „Pakt mit dem Antichrist“, wie Peschina und Siegel in ihrem Nachwort schreiben, nicht zu schade.

Bereits im Jahr 1933 wurde ein Vertrag mit der Twentieth Century Fox Film Corporation über die Verfilmung von „Hiob“ abgeschlossen. Der Film kam drei Jahre später unter dem Titel „Sins of Man“ in die Kinos. Aus dem Exil heraus, in dem er seit 1933 lebte, versuchte er nun, seine literarischen Stoffe der Filmindustrie gegenüber anzupreisen. Aber auch als Drehbuchautor versuchte sich Roth. Zusammen mit Leo Mittler, dessen Streifen „Jenseits der Straße“ von 1929 gekonnt die sozialkritischen Anliegen des proletarischen Film mit moderner Kamerasprache und Ästhetik verband, erarbeitete Roth Ende der 1930er-Jahre zwei Treatments. Realisiert wurden beide Filmideen nicht. Zum Glück, muss man sagen. Denn sowohl „Kinder des Bösen“ als auch „Der letzte Karneval von Wien“ sind mehr Kolportage als Kunst. Beide Treatments und ein weiterer, unvollendeter Film-Entwurf, an dem Roth kurz vor seinem Tod arbeitete, sind im Anhang des Essay-Bandes abgedruckt.

Viele der Filme, die Roth bespricht, sind heute – wohl zu Recht – vergessen, andere hingegen zu Klassikern geworden. Während sich einige Texte aus heutiger Perspektive sehr mühsam lesen lassen, gerade immer dann, wenn Roth sich durch den wirren plot einer melodramatisch-kitschigen Geschichte quält, so sind doch zahlreiche Perlen zu entdecken, die den Humor und den Biss des kritischen Beobachters zeigen. Bestes Beispiel sind die fiktiven Dialoge zu Beginn: „Schrecklich! Ich soll ein Kinodrama schreiben, und mir fällt gar nichts ein! – Nun, ich bin häufig in der Lage! – Was tust du dann? – Ich schreib’ – eine Operette“. Viele Texte entführen zudem den Leser in eine auf den ersten Blick fremde, auf den zweiten doch so vertraute (Kino-)Welt, in der Hellseherdarbietungen zum gewohnten Vorprogramm gehörten und die Reichszensur bauchfreie Frauen auf Kinoplakaten verbot.

Eine Leseausgabe über den Filmkritiker Roth

Auch wenn man mit diesem Band Joseph Roth nicht „neu entdecken“ kann – alle Texte sind, bis auf die drei Drehbücher, bereits in der sechsbändigen Werkausgabe abgedruckt –, so bietet er doch eine Vielzahl von Miniaturen, die Roths stilistische Kunst aufzeigen. Somit ist die, auch handwerklich schön gemachte Ausgabe vor allem als Lesebuch zu verstehen, die alle Texte zum Thema Film sammelt. Damit ergänzt sie auch die übrigen Bände von und zu Joseph Roth, die in den vergangenen Jahren im Wallstein Verlag herausgegeben wurden. Hilfreich ist auch der Kommentar, der nicht nur den Erstdruck der Essays nennt, sondern auch alle auftretenden Personen mit einer Kurzbiographie vorstellt. Die „Feuilletons zur Welt des Kinos“ sind daher gut als Einstieg in das Schaffen Roths zu gebrauchen – wenn sie die Begeisterung auslösen, sich (wieder einmal) einem seiner Romane oder den Reisereportagen zuzuwenden, wäre schon sehr viel gewonnen.

Titelbild

Joseph Roth: Drei Sensationen und zwei Katastrophen. Feuilletons zur Welt des Kinos.
Herausgegeben und kommentiert von Helmut Peschina und Rainer-Joachim Siegel.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
400 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835313828

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