Transiträume der Flucht

Dekonstruktionen der „Heimat Europa“

Von Ulrike SteierwaldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Steierwald

Shabbyshabby Apartments, München im Oktober 2015. An 23 Orten der Stadt sind die auf den Grundbedarf einer Übernachtung hin reduzierten, in ihrem Ideenreichtum faszinierenden Wohnformen zu finden. Die Münchner Kammerspiele haben die „Kunst- und Protestaktion“ zusammen mit dem „raumlaborberlin“ initiiert. Von der „Erdhütte“ auf dem Platz vor der Oper – historische Reminiszenz an die Unterbringung von Wanderarbeitern des 19. Jahrhunderts – über das Altkleider-Zelt „Zur feinsten Seide“ direkt vor Hermès in einer Parkbucht der Maximilianstraße bis zur „Besenkammer“, zusammengesetzt aus den erst 2014 durch Plastik ersetzten Reisigbesen der Straßenkehrer, vor dem Isartor: Die kulturtheoretisch mit Tagung und Führungen grundierte Botschaft, über Urbanität und prekäre Lebensräume zu reflektieren, ist zumindest für Feuilletonleser/innen und das Publikum der Münchner Kammerspiele offensichtlich. Aber während mir eine meiner Lieblingsschaupielerinnen der Kammerspiele bei einer Führung auf der Maximilianstraße erzählt, wie Journalisten, Wies‘nbesucher und andere Bewohner dieses reichen Landes – wie ich selbst – die temporären, heterotopischen Räume für 35 Euro inklusive Frühstück buchen und sich von Lust und Schauder des bewusst inszenierten, sozial „anderen“ Wohnens einfangen lassen, stehen mir die aktuellen Bilder unübersehbarer Zeltstädte mit Millionen vor Krieg und Gewalt fliehender Menschen vor Augen, und ich denke nur: „Falscher Zeitpunkt!“

Ähnliche Vorbehalte und Skrupel schleichen sich angesichts der Flucht zahlloser Menschen nach Europa in meine Überlegungen zum kaum übersetzbaren deutschsprachigen Begriff „Heimat“. Er erlebt seit vielen Jahren nicht nur in den Kultur- und Geisteswissenschaften eine Renaissance – wie Thomas Anz in seiner Einleitung zur ersten Folge dieses Heimat-Schwerpunktes gezeigt hat –, sondern auch in zahlreichen unterschwelligen Diskursen. Der seit den späten 1960er Jahren als ideologisch besetzt kritisierte Begriff schien sich in den 1980er und 90er Jahren parallel zur Aufweichung der politischen und wirtschaftlichen Ost-West-Blöcke zu neutralisieren. Im Mikrobereich der Regionalismen wie im Makrobereich der geistigen „Heimat Europa“ wurde er erneut, bis heute, hochwirksam. Dabei begegnete man der durch die frühere Ideologiekritik benannten Gefahr, dass eine räumliche Verankerung des eigenen Selbstverständnisses mit aggressiven Strategien der Ab- und Ausgrenzungen verbunden ist, mit ironischen oder historisch bewussten, selbstkritischen Relativierungen.

Die Wiederbelebungen der Identifikation mit „Heimat“ stoßen auf sehr breiten gesellschaftlichen Konsens. Prominentes Beispiel für den Werbeeffekt regionaler Heimatbindung sind die seit Jahren erfolgreichen Spots des Bayerischen Fernsehens, die offensiv den Anspruch, „dahoam“ zu sein, inszenieren. Eine Logik der Ausgrenzung durch Integration ist aber in diesen Werbeclips offensichtlich: Die Künstlerin So Yang wie der Kasper der Augsburger Puppenkiste oder ein Alt-Rocker namens Landy sind alle im gleichen verbalen und ikonographischen Stereotyp des Heimatlichen zuhause: „I bin da Landy, und da bin i dahoam“. Die den Ausgrenzungseffekt scheinbar relativierenden Öffnungen der „Heimat“ täuschen nicht darüber hinweg, dass die impliziten Differenzbildungen des Eigenen und Fremden wirkungsmächtig bleiben und jederzeit in gesellschaftliche Selektions- bzw. Ausschlussprozesse münden können.

Die inzwischen globale werbestrategisch-ökonomische Wirksamkeit des bayerischen „dahoam“ beweist die Macht einer ironischen Reproduktion von Stereotypen. Die Süddeutsche Zeitung hatte schon 2012 „genug von dahoam“: Journalisten, Branding-Spezialisten und andere Kreative, sie alle texteten nur noch Sätze, in denen „dahoam“ vorkomme. Die Firma Händlmaier bewirbt „ihren Senf mit der Losung ‚Bei uns dahoam‘, Zeitungen titeln ‚Welcome dahoam‘, und die Allianz-Versicherung schmückt das Foto der nach ihr benannten Arena mit der Zeile ‚Hoam sweet hoam!‘. Die Fröttmaninger Arena mit ihrem bargeldlosen Zahlungsverkehr, den Business-Seats und VIP-Logen – ist sie nicht genau das, was sich die Leute immer unter Heimat vorstellen?“

Diese naheliegende Frage in kulturkritischer Absicht ist dennoch falsch gestellt, denn das Phänomen der „Heimat Allianz-Arena“ zeigt nur konsequent, dass sich der Topos Heimat in seiner Lokalisierung nicht über bestimmte Orte, sondern über den Identifikationsanspruch der Verortung selbst generiert. Die Statik dieses Topos steht dem der Flucht diametral entgegen und birgt bei all seiner gemütlichen Bodenständigkeit und ironischen Brechung ein massives Gewaltpotenzial. Die scheinbare Offenheit des „Welcome dahoam“, die vor wenigen Wochen noch an regionalen Identifikationen einer Willkommenskultur des Heimatlichen festzumachen war, wird angesichts der übergreifenden Fluchtbewegung „Fremder“ ins „Eigene“ sukzessive aufgegeben.

Im Zuge medialer Virtualisierung gewinnen „Orte“, also die im Gegensatz zum „Raum“ positionierten Lokalisierungen, eine umso größere Bedeutung. Diese Orte sind nicht mehr im Kontext einer analogen Karte, eines zweidimensionalen Musters, bestimmt, sondern definieren sich im Wechselspiel von Bewegung und Fixierung. Hier kommen in den Konstruktionen der eigenen Identität die emotionale Bindung, die Anbindung und damit die Verankerung des Wiedererkennbaren und Identischen ins Spiel. Diese Lokalisierungen liegen zwar jenseits einer Kartierung, sind aber in ihren Festlegungen und Bestimmungen ebenfalls vom hegemonialen Gestus der Selbstermächtigung und Selbstbestätigung getrieben.

Auch die Geschichte der Kartographie zeigt, wie sehr die europäisch-neuzeitlichen Raumordnungen die Konsolidierung von Identität, Identifikation und damit Selbstbehauptung bestimmten. Eine kartographische Orientierung hat im Zeitalter von GPS nur scheinbar abgenommen. Die hohe Relevanz von Identifikationsmustern im Sinne raumkonstituierender Wahrnehmung und Handlung nimmt in den digitalen Kulturen sogar stetig zu. Weiterhin gilt Henri Lefebvres grundlegende Feststellung, dass der jeweilige historische Handlungsraum durch die Gleichzeitigkeit von kulturell voraussetzungsvoller Setzung und gesellschaftlicher Praxis bestimmt ist: Eine Gesellschaft produziert Räume, indem sie diese gleichzeitig sich aneignet und beherrscht. Das den Heimatbegriff prägende räumliche Selbstverständnis war nie durch festgelegte Orte, sondern durch Raumprojektionen bestimmt, die einerseits in europäischer Denktradition stehen, andererseits Europa selbst formierten. In den auffällig lokal verankerten und sich massiv radikalisierenden Protestbewegungen gegen Immigration und die Aufnahme von Flüchtlingen spielt die dezidiert gegen „außereuropäische“ Kulturen gerichtete Aggression eine maßgebliche Rolle.

Auch der „letzte Deutsche“ Botho Strauß definiert sich über ein Angst-Szenario der „Entwurzelung“, also über die Raum-Metapher eines Identitäts- wie Ortsverlustes. Sein im vergangenen Monat erschienener Spiegel-Artikel entwickelt seine gefährliche Sprengkraft nicht nur durch das Konzept einer „kulturellen Heimat“, das mit einem breiten Konsens rechnen kann. In der Projektion des eigenen Selbstverständnisses auf Flüchtlinge als aus einer fremden Kultur Entwurzelte, also kulturell Heimatlose, besteht die eigentliche Anmaßung. Der durch die „Entwurzelten“ in seinen ‚Wurzeln‘ bedrohte Dichter vollzieht nicht nur eine Ausgrenzung, sondern eine diskursive Überwölbung und damit Elimination der Fliehenden. Denn sprachanalytisch präzis beschreibt der Begriff „Flucht“ gerade nicht eine „Entwurzelung“, wie die von einem Ursprung her denkende Raum-Metaphorik suggeriert, sondern die gewaltgetriebene Bewegung des „weg von“, deren klare Definition Ruth Klüger in ihrem Text weiter leben im Hinblick auf die Shoa gefordert hat. Der Nicht-Zustand, die nicht durch ein Ziel definierte Bewegung der Flucht ist in ihrer Unbedingtheit ernst zu nehmen. Eigentlich steckt bereits in der Bezeichnung „Flüchtling“ eine begriffliche Unschärfe, die einen Status, einen Zustand, ein vermeintliches Angekommensein suggeriert. Die aktuelle Dramatik des Fliehens – die Statuslosigkeit – zahlloser Menschen wird sprachlich verunklart. Diese Ungenauigkeit wird gefährlich, wenn die verdrängte Dynamik metaphorisch an flüssig-elementare Gewalten von Körpermassen wie Strom, Welle, Flut rückgebunden wird. „Flüchtlingsströme“, „Flüchtlingswellen“ werden dann zu Bildern politischer Angst-Szenarien.

Die ökonomischen wie politischen Interessen im europäischen Einigungsprozess sind seit Beginn von diskursiven und sehr labilen Definitionen einer historisch oder ethisch gefassten Identität flankiert. Auch in Versuchen einer Abgrenzung, einer „Grenzsicherung“ der Europäischen Union wird auf eine Identität im Sinne universalistisch wirksamer Werte der europäischen Aufklärung – auf Demokratie, Toleranz, Selbstbestimmung – rekurriert. In Abwehr der „Flüchtlingsströme“ gibt es inzwischen gar keine Skrupel mehr, in dieser Logik von der Notwendigkeit einer „Festung Europa“ zu sprechen.

Der Mangel an terrestrischer Einheit eines Kontinents Europa wird bereits im Gründungsmythos kompensiert, und diese Kompensation entspricht dem räumlich-narrativen Konstrukt der „Heimat“. Schon der Mythos installiert die weibliche Figur der Europa durch den Gewaltakt einer Entführung aus Asien an einen anderen und damit den „eigentlichen“ Ort. Die Geschichte Europas beginnt mit einer erzwungenen Reise, die maßgeblich durch ihr Ziel bestimmt ist. Die Schwierigkeit, Europa als terra continens zu definieren, wird durch die mythologische Erzählung kompensiert, deren räumlich abgrenzende Macht bis heute fortgeschrieben wird.

Kolonialismus und Aufklärung, die maßgeblichen historischen Ordnungsmächte Europas, schließen den eigenen Aufbruch in die Fremde, Raub, aber auch Toleranz, Integration und Pluralität als mögliche Denkmuster ein. „Flucht“ jedoch ist nicht Teil des europäischen Selbstverständnisses, das sich mit den Begriffen „Vertreibung“ und „Entwurzelung“ immer schon das Eigene, den Ursprung und damit die Machtpositionierung des Eigentlichen und Ursprünglichen gesichert hat. Die Möglichkeit, dass die Flucht – d.h. eine inverse Bewegung, die nicht zuletzt durch die massiven Störungen, Zerstörungen und Verwerfungen der kolonialisierten Kulturen ausgelöst wurde – Europa erreichen könnte, war in diesem Denken nicht vorgesehen. Insofern markiert die gegenwärtige Ohnmacht Europas tatsächlich eine historische Zäsur, deren Folgen unabsehbar sind.

Momentan ist daher vielleicht weniger den Entwurzelungen, Utopien oder Heterotopien der Heimat – ernstgemeinten wie ironischen – nachzugehen. Es ist vielmehr nach den Dekonstruktionen dieses Denkens zu fragen, die die Muster und Stereotypen einer „Heimat Europa“ und der Verankerungen von Identität nicht reproduzieren, auch nicht kulturkritisch in Frage stellen, sondern im Denken des „Anderen“ ein fremdartiges Selbstverhältnis aufscheinen lassen. Eine Ästhetik der Groteske steht in ihren Figurationen eines Fremdverhältnisses den skizzierten Denkmodellen der Verortung entgegen. Sie führt den imperialen Gestus der Raumbemächtigung in der Konfrontation mit dem Fremden, dem Anderen vor, einer Konfrontation, in der sich die beschriebenen Muster verkehren und damit neue Räume öffnen.

Meine Überlegungen zur Ästhetik der Groteske sind Teil eines umfangreicheren Projektes, aus dem in der Frage nach der „Heimat Europa“ in diesem Beitrag nur ein konkretisierendes Beispiel aus dem Bereich des zeitgenössischen Films gegeben werden kann. Die räumliche Dimension des Fremden liegt bereits in der etymologischen Ableitung der „Groteske“ begründet. Als in der Renaissance in der römischen Domus Aurea Fresken und Stuckaturen mit fremdartig-phantastischen Darstellungen aus dem 1. Jhdt. n. Chr. entdeckt wurden, mussten sie ergraben werden, da der Palast Kaiser Neros seit Jahrhunderten mit Erdschichten bedeckt war. Topographisch wurde der dunkle, verschüttete, verborgene Ort, die Grotte, zur sprachlichen und bildlichen Figuration des Unbekannten, Fremden.

Dorothea Scholl hat an der Poetik des Grotesken in der italienischen Renaissance gezeigt, dass in dieser Entdeckung ein anderes Dispositiv, eine Verneinung des Bestimmten und Definierten, eine inverse Projektion wirken. Der Fundort der Grotte selbst konstituiert den Diskurs, den Gestus des Grotesken. Im Gegensatz zu den Rekonstruktionen im 18. Jahrhundert, in denen diese Figuren als tradierte künstlerische Formen adaptiert und damit historisiert wurden, war die Renaissance in ihren kulturellen Denk- und Handlungsweisen selbst von der Ästhetik der Groteske geprägt. Sie unterliegt noch nicht den kompensatorischen oder subversiven Funktionen, die Michail Bachtin und Wolfgang Kayser ihr aus kulturkritisch-moderner Perspektive zuschrieben, sondern kann als ‘eigen-artige’ Denkbewegung begriffen werden. Sie zeigt sich als inverse, vielleicht uneuropäische Figuration, die die teleologische Richtung verlässt und den Blick in die Grotte, das Dunkle, das Andere als Unbestimmtes, Unbestimmbares latent hält.

Aki Kaurismäkis preisgekrönter Film Le Havre aus dem Jahr 2011 kann in seinen theatralen Inszenierungen als Figuration der Groteske gesehen werden. In einer Szene zu Beginn des Films wird das Auffinden von Flüchtlingen aus Gabun in einem Schiffscontainer gezeigt: Eine Gruppe weißer Amtsträger – Polizisten, Pressevertreter, Sanitäter – versammelt sich vor dem Container als „Publikum“. Die mit der Perspektive des Kollektivs und mit den Maschinengewehren des Sondereinsatzkommandos der Polizei zielgerichtete„ Kamera fokussiert den Blick des Zuschauers schließlich ins Innere. Das Publikum im Film wie das Publikum des Films wissen bereits, dass die Flüchtlinge ungeplant mehrere Wochen statt fünf Tage eingeschlossen waren und durch ein „technisches Versehen“ nicht in London, sondern in der französischen Hafenstadt gelandet sind.

Der Blick in den Container, die Öffnung zum Unbekannten decouvriert die aufgebaute Erwartungshaltung gegenüber dem Fremden und Unheimlichen. Close ups verletzter und beschädigter Körper gehören zu den filmischen Standard-Einstellungen, die der zu bewältigenden Konfrontation mit dem Schrecken dienen. Kaurismäkis Regie wahrt dagegen die Distanz, hält die Spannung im Wechselspiel von Eigenem und Fremdem aufrecht. Die Perspektivierung dreht sich: Der Junge Idrissa (Blondin Miguel), einer der beiden Protagonisten des Films, verlässt den Container – die als Flüchtling klassifizierte Figur wird zum Eroberer. Permanent wird die Zuschreibung von Opferrollen, die die Selbstpositionierung des Publikums als Helfer wie Täter sichern würde, gestört.

Der Titel des Films, der Name der französischen Stadt Le Havre (Hafen, Zufluchtsort), markiert eine Grenzlage Europas, einen Transitraum, aus dem in einer Binnen- oder Außenperspektive auf diesen Kontinent geschaut werden kann. Ein Schiffscontainer ist ein unverorteter Transitraum per se und lässt sich mit Marc Augés Definition der „Nicht-Orte“ beschreiben: Diese stehen in größtmöglichem Widerspruch zu den „anthropologischen Orten“, die im Wechsel von individueller Sinnzuschreibung und kollektiver Interaktion als Erinnerungsräume, aber auch als utopische Projektionen fungieren können. „So wie der Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen läßt, einen Nicht-Ort.“ Diese Räume schaffen also keine Identität, da keine Relationen festzumachen sind und die Dialektik von kultureller Identifikation und Abgrenzung nicht greifen kann. Kaurismäki widersteht der Versuchung, dem Transitraum der Einsamkeit und Entpersönlichung „Europa als Heimat“, als einen „anthropologischen Raum“ entgegenzusetzen.

Eine groteske Spannung des Heterogenen durchzieht die Ästhetik des Films: Klare Komplementärfarben, allegorisch-rätselhafte Motive, leerstellendurchsetzte Dialoge und die Hybridität von zeitlich auseinanderliegenden Design- und Stilformen bestimmen neben der räumlich-grotesken Inszenierung den Film. So gelingt es dem Regisseur in der Groteske, die europäisch-hegemoniale Perspektive zu verlassen, ohne politische, moralische oder andere identifikatorische Alternativen anzubieten. Neben hymnischen Kritiken erhielt der Film daher aus kulturkritischer Sicht Vorwürfe, zu artifiziell, künstlich-ignorant mit der politischen Problematik umzugehen. Die grotesk unerwarteten „Wunder“ des Films wurden als Happy Ends im Sinne konventioneller Lösungen missverstanden.

Unterschwellig wirken in Kaurismäkis Film die Konstruktionen und Dekonstruktionen europäischer Diskurse der Demokratie und Whiteness (Richard Dyer) mit. Die normative Wirkung von Herkunft, d.h. von familiären bzw. sozialen Kontexten, die die anthropologischen Räume bestimmt, schafft auch den Legitimationsraum der Demokratie. Das demokratische Ideal einer an soziale und territoriale Voraussetzungen gebundenen, in ihrem Anspruch jedoch universellen Gleichberechtigung ist seit seinen Anfängen im antiken Athen für das Selbstverständnis Europas legitimierend. Die europäische Identität beruft sich bis heute auf die Idee eines kollektiven, allgemeinen Volkswillens, der aber nur repräsentativ in Erscheinung treten kann. Stuart Hall hat in den 1990er Jahren diese Aporie aufgedeckt: Die im demokratischen Ideal ungelöste Spannung zwischen den Konstruktionen von „gleich“ und „different“ wird durch die Globalisierung westlicher kultureller Standards besonders virulent. Dabei geht die Entscheidung über Gleichheit oder Differenz, ob sie nun im Sinne der Integration oder Ausgrenzung gefällt wird, weiterhin von einer „weißen“ Perspektive aus, die in ihrem eigenen Konstruktionscharakter nicht tangiert wird.

Die Groteske kehrt das historisch verankerte Selbstverständnis der Whiteness, d.h. die Selbstverständlichkeit, auch in den Zielen der Toleranz, Integration und Gleichberechtigung vom Primat des Weißen, Europäischen her zu denken, um: Die Differenz greift in einer Wahrnehmungsverschiebung auf die Konstruktion des eigenen Selbst über.

In Kaurismäkis Le Havre werden mit den beiden Figuren Marcel Marx (André Wilms) und Idrissa – dem ehemaligen Pariser Bohémien, der mit stoischer Gelassenheit als Schuhputzer in einem surrealen, als Theaterkulisse erkennbaren Vorort von Le Havre lebt, und dem Kind aus Gabun – ein kosmopolitisch-offener, toleranter Europäer und ein Flüchtling, Einwanderer, Nicht-Europäer scheinbar holzschnittartig gegenübergestellt. Schon in der ersten Begegnung zwischen Marcel und Idrissa wird die räumliche Inszenierung des Blickes in die Dunkelheit aus einer der ersten Sequenzen des Films wieder aufgegriffen: Der Europäer macht, am Rand des Hafenbeckens sitzend, dem unter ihm im dunklen Wasser stehenden Afrikaner klar, dass die erreichte Stadt nicht das „gegenüberliegende“ London, sondern Le Havre sei. Er begibt sich als aktiv handelnder Protagonist auf die Suche nach dem Großvater des Jungen, versteckt Idrissa in einem puppenstubenartig inszenierten „Zuhause“, akquiriert Geld und mobilisiert die nachbarliche Gemeinschaft des Vorortes, die als anarchisch-subversives Kollektiv die Weiterreise des Jungen zu dessen Mutter nach London ermöglicht.

Dieser Plot könnte als mustergültige Reproduktion von Stereotypen der europäischen, „weißen“ Identität und eines anthropologischen Ortes der heimatlichen, nachbarschaftlichen Umgebung jenseits staatlicher Institutionen und Repressionen gesehen werden, verweigert sich dem aber in seiner grotesken Ästhetik. Alle Normen des Eigenen und Fremden werden in den Vexierbildern der unbestimmten Transiträume der Hafenstadt nivelliert. In der Logik des Rassismus wird Marcel auf der Suche nach Idrissas Großvater zum Verwandten – auf die überraschte Nachfrage der Behörden hin zum „Albino“ der afrikanischen Familie. Die unausgesprochene, zivilgesellschaftliche Kollektivbildung der heterogenen Nachbarschaft rund um ein von Marcel Marx organisiertes Rock-Konzert für die Finanzierung der Weiterreise lässt an die karnevalesken Figurationen Michail Bachtins denken. Die Groteske inszeniert Nicht-Identität, den Verzicht einer Verortung, die momenthaften Erfahrungen von unerwarteter Gesundung und Glück – hier repräsentiert im traditionellen Zitat der unzeitigen Kirschblüte, die aber in die Kulissen eines bühnenartigen, theatral-künstlichen Vorgartens verlegt ist.

Im Dialog zwischen Marcel und einem in Frankreich als Chinese (!) legalisiert lebenden Vietnamesen wird die europäische Dialektik von Identifikation, Integration, Gleichberechtigung und gleichzeitiger Auslöschung des „Anderen“ deutlich. Im Mittelmeer gebe es weniger Fische als Geburtsurkunden, derer sich die Flüchtlinge bei der Überfahrt entledigt hätten. Kaurismäki wies in einem Interview darauf hin, dass die Namen vieler Schauspieler, die illegal eingewandert waren, im Abspann des Films nicht gezeigt werden konnten. Seine Kritik impliziert aber nicht den Zusammenhang von Urkunden- und Persönlichkeitsverlust, sondern zielt grundsätzlich auf den die westlichen Gesellschaften tragenden Konnex von Identifikation, Legalisierung und damit Lebensberechtigung: „I’m certain it must come across that somebody is just being what he is, not doing anything, but just being.“

Auch die Schlusssequenz des Films nimmt die Raumkonzeption des Beginns wieder auf. Idrissa versteckt sich unter Deck des Fischerbootes, das ihn nach London bringen soll. Nach der Ausfahrt des Schiffes verlässt der Junge den geschlossenen Raum und wendet sich in der Perspektivierung der Filmkamera zurück. Zum ersten Mal wird Le Havre als Stadt, als Ufer wahrgenommen. Dieser Perspektivenwechsel ist nicht europäische, teleologisch gerichtete Projektion im Sinne des Aufbruchs zur Meeresfahrt und Eroberung „neuer Ufer“, sondern impliziert den von Jacques Derrida in Rekurs auf Paul Valéry formulierten Gedanken des „anderen Kaps“.

Europa, dieser kleine Fortsatz (= Kap) der Landmasse Asien, be-hauptete (caput=Haupt) sich durch den in diesem Beitrag skizzierten Bewegungsmodus der Expansion. Die europäische Kultur ist durch Aneignung, Verfügung und Beherrschung im Sinne von Imperialismus, Kolonisation und dem universalistischen Anspruch der Aufklärung geprägt. Aber auch der Gestus der Selbstreflexion und damit des sich letztlich verfehlenden Versuchs einer Selbstbestimmung ist nach Derrida spezifisches Kennzeichen einer „Kultur“. Vielleicht könnte dieser Gestus der Rückwendung auf sich als das „fremde Eigene“ in der inversen Ordnung eines ästhetisch-grotesken Handlungsraumes eine Alternative zur „Festung Europa“ darstellen.

Hinweis: Dieser Essay rekurriert auf den Aufsatz von Ulrike Steierwald mit dem Titel „Europa – Heimat als Groteske“ im gerade erschienenen Band „Regards croisés sur l’Europe et les voisins européens“ der Zeitschrift Germanica (56/2015, S. 73-94).

Zitierte Literatur in der Reihenfolge ihrer Erwähnung:

Wolfgang Görl: Genug von dahoam. Süddeutsche Zeitung, Nr. 115, 19./20.5.2012

Henri Lefebvre: La production de l‘espace, Paris: Anthropos 1974

Botho Strauß: Der letzte Deutsche. Debatte – Uns wird die Souveränität geraubt, dagegen zu sein. Eine Glosse.. Der Spiegel, Nr. 41, 3.10.2015

Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend, Göttingen: Wallstein 1992

Dorothea Scholl: Von den „Grottesken“ zum Grotesken. Die Konstituierung einer Poetik des Grotesken in der italienischen Renaissance, Münster: LIT 2004

Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, München: Hanser, 1969

Wolfgang Kayser: Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung, Oldenburg: Stalling, 1957

Le Havre. Finnland, Frankreich, Deutschland 2011, Regie, Buch: Aki Kaurismäki, mit Blondin Miguel, André Wilms, Kati Outinen, Jean-Pierre Darroussin u.a.

Marc Augé: Nicht-Orte, München: Beck 2010

Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt am Main: Fischer 1994

Richard Dyer: White, London [u.a.]: Routledge 1997

Stuart Hall: Populismus, Hegemonie, Globalisierung (Ausgewählte Schriften, Band 5), Hamburg: Argument-Verlag 2014

Aki Kaurismäki: The Uncut Interview, Interview mit Peter von Bagh, fimcomment 2011, http://www.filmcomment.com/article/aki-kaurismaki/

Jacques Derrida: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa (1991), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992 (edition suhrkamp NF; 769)

Paul Valéry: Die Krise des Geistes (1919), in: Zur Zeitgeschichte und Politik (Werke in 7 Bänden, Band 7), Frankfurt am Main: Insel Verlag 1995

Germanica

Regards croisés sur l’Europe et les voisins européens

Germanica, 2015 (56)

ISBN 9782913857353  / ISSN 0984-2632