Die implizite Bibliothek des Dichters?

Nina Mindts Untersuchung zu „Martials epigrammatischem Kanon“

Von Daniel WendtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Wendt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Epigramme des römischen Dichters Martial gehören aus latinistischer Sicht sicher zu den interessantesten, auf jeden Fall aber zu den vergnüglichsten Texten der Antike. Nachdem die literaturwissenschaftliche Forschung ihn lange Zeit vernachlässigt hat, ist der Dichter inzwischen (wieder) zum Klassiker geworden und gar zu einem beliebten Schulautor avanciert. Dass auch Martial selbst sich mit Fragen der Kanonbildung auseinandersetzte und sich im literarischen Feld zu behaupten suchte – Probleme, die sich speziell in der Flavischen Epoche als einer nach-augusteischen, ‚epigonalen‘ Zeit ganz neu stellen –, zeigt Nina Mindts leicht gekürzte Habilitationsschrift über Martials epigrammatischen Kanon.

Die Arbeit fügt sich ein in eine Reihe literatur- und kulturwissenschaftlicher Studien zum Kanon, die in jüngerer Zeit in der Klassischen Philologie entstanden sind. Martials Epigramme bieten sich für eine solche Untersuchung gewissermaßen von selbst an, da er gleich zu Beginn im Vorwort zum ersten Epigrammbuch mit Catull, Marsus, Pedo und Gaetulicus einen Kanon an Epigrammdichtern aufruft – exempla, denen er nicht nur folgen will, sondern neben denen er auch im Bücherregal platziert werden möchte (Mart. V.5). Das grundsätzliche Bestreben der Selbstkanonisierung ist also deutlich erkennbar. Mindt wählt demgemäß für ihre Untersuchung das Bild einer imaginierten Bibliothek, die der Dichter entwirft, um (s)einen Kanon zu konstruieren und sich diesen für seine Epigramme nutzbar zu machen. Diese spezielle Zusammenstellung an Autoren, die Martial thematisiert und wertend einordnet, bilden, so Mindts These, seinen epigrammatischen Kanon.  Hierzu arrangiere er wie ein neuer Bibliothekar die traditionellen literarischen Ordnungssysteme um, er verändere gewissermaßen die Ordnung der Bibliothek: Manche Bücher stelle er in eine andere Abteilung, manche bekämen eine andere Signatur, andere verbanne er gänzlich aus dem Bestand und stelle stattdessen sich selbst hinein. In Martials Bibliothek würden demnach Kanonisierungsprozesse sichtbar.

Diese implizite Bibliothek rekonstruiert Mindt aus den über Martials gesamtes Œuvre verstreuten Aussagen über andere Autoren. Hier liegt allerdings eine methodische Schwierigkeit: Mindt unterschätzt den dynamischen (fragmentierenden) Charakter dieses Kanons, der vom Leser aus den präsentischen, bisweilen widersprüchlichen und ironischen Aussagen der Epigramme zu extrahieren ist und dabei kontinuierlich gebrochen wird. Die Bewertungen anderer Autoren geschehen in der Regel ad hoc und gelten, wenn überhaupt, temporär. Aus solch fragmentarischen Aussagen der Dichter-persona(e), die zudem in einem Zeitraum von über zwei Jahrzehnten getroffen wurden, einen homogenen Kanon zu konstruieren, erscheint also fragwürdig und widerspricht dem Konzept des Spiels der Epigramme (epigrammatum lusus). Auch dem von Martial häufig zur Schau gestellten Bestreben der Selbstkanonisierung steht sein eigener, vielfach geäußerter Hinweis entgegen, andere Autoren würden zwar gelobt, seine eigenen Epigramme hingegen tatsächlich gelesen (Mart. IV.49). Man denkt unweigerlich an Tucholskys Ausspruch, Klassiker seien fürs Bücherregel (und würden dadurch gerade nicht mehr gelesen). Martial stellt also vielmehr die Frage nach der Legitimität und den Kriterien von Kanonisierung statt diese zu affirmieren. Im Zentrum der Untersuchung steht die Frage „nach der in der Dichtung vorgenommenen Konstruktion und Destruktion von ‚Klassikern‘, das heißt die Frage nach den Prozessen innerliterarischer Kanonisierung und Dekanonisierung“. In diesem Zusammenhang fokussiert die Untersuchung die „immanente Literaturgeschichte“ (Ernst A. Schmidt), d. h. die poetologische Reflexion und die Positionierung des Dichters gegenüber der literarischen Tradition mittels Intertextualität (implizit) und Literaturkritik (explizit). An den Beispielen Cicero und Vergil (als Klassiker), Catull und Ovid (als Intertexte), Horaz und den beiden Senecae (als einem „versteckten Kanon“) sowie einiger Zeitgenossen Martials (im Sinne der typisch satirischen Einst-Jetzt-Antinomie) illustriert Mindt Martials epigrammatische (oder besser: satirische) Rezeptionstechniken wie die Umkehrung von Hierarchien, die Reduktion, die Obszönisierung und die Manipulation von Zitaten oder des bestehenden Kanons. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Bilder der entsprechenden Autoren zu Martials Zeit beziehungsweise älterer Traditionen arbeitet Mindt die speziell epigrammatische Zeichnung und Martials Transformations- respektive Rezeptionspraktiken heraus.

Die Arbeit weist insgesamt eher einen rezeptionsgeschichtlichen Charakter auf. Der Kanonbegriff wird dabei so weit ausgedehnt, dass er viel von seinem Erklärungswert einbüßt. Sicherlich können Kanonisierungsstrategien „als eine Form literaturhistoriographischen Diskurses“ verstanden werden, umgekehrt weist aber nicht jedes Geschmacksurteil, nicht jede Rezeption anderer Dichter (wie etwa die „Epigrammatisierung Catulls“) oder die Anknüpfung an  bestimmte Traditionen direkt auf Kanonisierungsprozesse hin. Hierzu bedarf es weiterer Strategien und Bedingungen, die jeweils im literarischen Feld ausgehandelt werden. Die Fragen also, wer in der Flavischen Zeit kanonisieren konnte und nach welchen diskursiven Regeln dies vonstattenging, bleiben ungeklärt. Der spannende Aspekt der Selbstkanonisierung, den Mindt leider nur am Rande behandelt, evoziert ferner die Frage, welche Strategien Martial nutzt (und nutzen konnte), um sich im literarischen Feld zu platzieren und zu behaupten. Hinter den meta-literarischen Aussagen verbirgt sich vielmehr eine bestimmte posture (Bourdieu), die es zu untersuchen gälte. Denn laut Bourdieu beruht beispielsweise „das Monopol literarischer Legitimität [darauf], aus eigener Machtvollkommenheit festzulegen, wer sich Schriftsteller nennen darf.“ Hierzu bietet Martial wiederum umfangreiches Material (zum Beispiel Mart. XIV.194: der Buchhändler).

Die Lektüre von Martials epigrammatischem Kanon lohnt allemal, da Martial – wie Mindt zurecht betont –  interessante Beiträge zur Kanondiskussion liefert, die kenntnisreich analysiert werden. Lateinische Zitate werden in den Fußnoten textnah übersetzt, was die Arbeit auch LeserInnen, die mit der Klassischen Philologie unvertraut sind, zugänglich macht. Warum der Teil über die griechischen Autoren, der – wie Mindt selbst zugesteht – für Martial von großer Relevanz ist, separat veröffentlicht wird, erschließt sich nicht und trübt ein wenig die ansonsten umfassende und detailreiche Untersuchung.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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Nina Mindt: Martials ‚epigrammatischer Kanon‘. Zetemata, Monographien zur klassischen Altertumswissenschaft, Heft 146.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
318 Seiten, 78,00 EUR.

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