Von letzten und ersten Worten
Vom Lesen und Schreiben (2)
Von Klaus Modick
Über berühmte („Mehr Licht“ – Goethe) und weniger berühmte („Rechts ist frei“ – Der unbekannte Beifahrer) letzte Worte sind ganze Bibliotheken vollgeschrieben worden. Die Maske fällt – angeblich; das Wort, mit dem wir sterben, soll endlich sagen, wer wir waren – was uns auch nichts mehr nützt, sondern höchstens noch den überlebenden Ohrenzeugen, die aus den letzten Röchlern dann Legenden stricken und Geniekulte basteln. B. Traven war allerdings der bedenkenswerten Ansicht, das letzte Wort eines Sterbenden sei noch weniger wichtig als das eines Mannes, der sinnlos betrunken ist. Und Mark Twain empfahl, man solle die Worte, die man als letzte von sich zu geben gedenke, beizeiten auf einen Zettel schreiben und die Meinung seiner Freunde dazu einholen. Denn ob uns schlagfertiger Galgenhumor auch noch beim letzten Schnaufer treu bleibt, ist immerhin zweifelhaft. In jenem Moment ist man vermutlich körperlich wie geistig nicht mehr so fit wie der sprichwörtliche Turnschuh. Wahrscheinlich fällt einem das brillante Bonmot, das man der Nachwelt durchreichen wollte, gar nicht mehr ein; und außerdem ist man von schluchzenden Familienmitgliedern umringt, die bereits die Erbschaft hochrechnen. Wie soll einem unter solchen Umständen das geistesblitzend gewitzte Wort gelingen? Twain schlug deshalb vor, die vorvorletzten Worte der Geistesgrößen zu sammeln: aus denen könne man dann posthum vielleicht noch etwas Zufriedenstellendes zusammenstoppeln.
Über die geistige Physiognomie eines Menschen sagen vermutlich die ersten Worte, die seinem Mund entkommen, viel mehr aus als die ominösen letzten. Leider ist man im entsprechend zarten Alter noch nicht fähig, sich seine Eröffnungsweisheit zu notieren. Das wäre Sache der Eltern, die aber zumeist gerade mit anderen Dingen beschäftigt sind – Windeln waschen oder wechseln, sich schlaflos im Geschrei des Zahnenden wälzen und dergleichen Elternfreuden mehr. So gehen die ersten Worte häufig verloren und werden unverdientermaßen nicht berühmt.
Da! da! da! Erste wortähnliche Gebilde, mit denen meine älteste Tochter aus den wogigen Regionen unartikulierter Laute zur Sprache kam. O! o! o! lautete später die Version ihrer jüngeren Schwester. Da, da, da – das heißt: Da ist etwas, das ich erkenne; vielleicht ist es sogar ein Wiedererkennen von etwas dunkel Geahntem, das plötzlich im Licht der Welt wirklich wird, Form findet und Gestalt annimmt. O, o, o, das ist das Staunen, dass es etwas gibt und dass es ist, wie es ist, ein noch begriffslos stammelndes Staunen, für das man eigentlich einen grammatischen Begriff wie den des expressiven Demonstrativpartikels einführen müsste.
Jeder spricht irgendwann seine ersten Worte – niemand weiß, dass er sie spricht, niemand erinnerte sich an sie, gäbe es nicht die Menschen, die diese Worte hören und registrieren und sie uns dann später, wenn wir so selbstverständlich sprechen können, als hätten wir’s nie gelernt, erzählend zurückgeben. Wir sind also mehr als wir selbst. Unsere Identität kristallisiert sich nicht nur aus unseren eigenen Erinnerungen und Erfahrungen, sondern auch aus Zuflüssen, deren Quelle jene Erinnerungen und Erfahrungen sind, die uns berichtet, erzählt, vorgelesen – mithin überliefert werden.
Der Strom unserer Existenz gleicht von Anfang an keinem eng begrenzten Kanal, sondern einem Delta mit Seitenarmen und Altwassern. Wenn wir mit den Booten unserer Erinnerung, unseres Wissens, unseres Bewusstseins, später versuchen, diesen Strom zu erforschen und die Geographie des Deltas zu ermessen, geraten wir früher oder später an jene Verzweigungen, die wir nur wiedererkennen, weil andere sie vor und für uns erkannt und kartiert haben. Und dennoch sind sie Teile von uns; sie gehören uns an, weil niemand nur sich selbst angehört. Je genauer man auf sich zurückblickt, desto vielgestaltiger wird man: Figuren huschen vorbei, die alle Fragmente ein und derselben Person sind. Wir entspringen dem Mischungsverhältnis unserer Eltern und Ahnen, genetisch, biologisch, soziologisch und kulturell; wir leben unser Leben in Mischungsverhältnissen, und wenn wir Leben fortpflanzen, schaffen wir neue Mischungsverhältnisse, in denen auch wir präsent bleiben.
Eugène Ionesco notierte in seinem Journal en miettes, die Jahre der Kindheit seien vorbei, sobald man wisse, dass man sterben werde. Von diesem Augenblick an gebe es keine Gegenwart mehr, sondern nur noch Vergangenheit, die dem Abgrund der Zukunft entgegenstürze, dem Tod. Die Auszehrung reiner Gegenwart durch Vorstellungen von Anfang, Ende und dazwischen gespannter Zeit setzt jedoch mit Bewusstseinsentwicklung und Erinnerungsvermögen viel früher ein und hängt unmittelbar damit zusammen, dass Sprache in die Geistesgegenwart des Kindes einwandert und diese zu strukturieren beginnt. Da, da, da und o, o, o, das sind die Zungenstöße, mit denen erstmals Dasein und Bedeutungen auseinander getrieben werden. Indem Sprache dem Kind Welt erklärt und deutet, verzehrt sie zugleich das reine In-der-Welt-Sein.
Ein kindliches Wissen um die eigene Sterblichkeit gibt es bereits im Spiel, aber es verschränkt sich dort mit einem Gefühl von Unsterblichkeit- es ist eine Art Theatersterblichkeit: Als Cowboy oder Indianer, Ritter oder Soldat, bin ich in meiner Kindheit zahllose Tode gestorben. Den Ort dieser sterbenden Unsterblichkeit bildete eine verwilderte, ausgedehnte Gartenanlage in der Nähe meines Elternhauses, durchsetzt von Grundmauern und eingestürzten Kellergewölben der ehemaligen Großherzoglichen Stallungen. Dies Gelände hieß unter uns Kindern „der Park“. Niemand wusste, woher die Bezeichnung stammte, jeder benutzte sie. Es schien, als hätte der Park sich selbst seinen Namen gegeben. Unsere Phantasie verwandelt ihn in einen Märchenwald voller Burgen und Schlösser, in Dschungel und Sümpfe, Savannen und Rocky Mountains. Wir sind Raubritter mit Cowboyhüten, Riesen mit Zwergenschuhen, Indianer in kurzen Hosen. Der Park verwandelt auch uns, und aus seinen Mauerresten strahlen Erinnerungen an Vorzeiten, in denen alles kein Spiel, sondern leibhaftige Wirklichkeit war. Die Eisenbahnlinie, die das Gelände nach Norden begrenzt, könnte, statt nach Ostfriesland und Groningen, genau so gut, besser, in den Wilden Westen oder in den Orient unserer Träume führen. Und wer hier sein Ohr auf die moosbewachsenen Stufen der mürben Gemäuer legt, der hört noch die Pferde des Großherzogs schnauben und trappeln, wenn er mit seinem Gefolge zur Jagd aufbricht. Das Gefolge sind wir und galoppieren durch Forste, über Felder, verfolgen und werden verfolgt, schmachten in finsteren Kerkern, befreien und werden befreit, sterben in grausamen Kämpfen und stehen unsterblich wieder auf.
Mit solchem kindlichen Wissen von Sterblichkeit lässt sich jedenfalls das Kindheitsende nicht bezeichnen; eher vielleicht mit einsetzender Zeugungs- und Gebärfähigkeit, dem Zeitpunkt also, von dem an Leben weitergegeben werden kann. Oder endet die Kindheit erst in der Erfahrung eigener Elternschaft, in der Dimensionen der eigenen Vergangenheit spiegelbildlich erfahrbar werden, Dimensionen, die uns bislang nur in Erzählungen anderer erreichten?
Vielleicht endet Kindheit nie, weil ihre Prägungen uns bis zum Tod begleiten. Sie verdünnt sich nur und wird fadenscheinig wie die Strümpfe, die ich, bereits mehrfach gestopft, von meinem Bruder übernahm und aufzutragen hatte, bis sie eines Tages so durchlöchert waren, dass meine Mutter, um sie zu retten, mehr Garn in sie hätte wirken müssen, als an ihnen noch war. Und so wirkt auch das Erzählgarn unserer Erinnerungen beständig daran, dass unsere Kindheit erhalten bleibt und sich zugleich stetig verändert, weil wir ihr den Stoff unserer Gegenwart zusetzen.
Gegenüber der von Mund zu Ohr reichenden Leibhaftigkeit mündlicher Erzählungen ist das stumme Lesen von Texten eine kühle und einsame Angelegenheit von Auge und Hirn. Die mündliche Überlieferung vollzieht sich von Mensch zu Mensch, vom sichtbaren Körper und seinen Gesten, vom Körper, der atmet und mit Atem, Kehlkopf, Gaumen und Zunge Worte hervorbringt, zum Körper des Zuhörenden, der, wenn er „ganz Ohr ist“, doch auch sieht und riecht, schmeckt und spürt. Es sind solche, mit sinnlicher Unmittelbarkeit in uns versenkten Mitteilungen fremder Erfahrungen und Wahrnehmungen, die wir uns, und sei es nur in Bruchstücken und abgestuften Mischungen, zueigen machen.
Wenn sich dem aus Erzähltem Wahr-Genommenen insofern ein, wenn auch sprachverdünnter, Erfahrungswert zusprechen lässt, liegt hier nicht nur die Schnittstelle zwischen dem, was uns wirklich zugestoßen ist und dem, was uns „lediglich“ zugetragen wurde. Vielmehr erweitert sich hier unser Erfahrungsraum um vier, in Ausnahmefällen fünf Generationen, die uns vorangingen, reichen doch die Erinnerungen unserer Großeltern bis auf deren eigene Großeltern zurück – Erinnerungen wohlgemerkt, die aus Augen- und Ohrenzeugenschaft stammen, nicht nur aus verschriftlichten Dokumenten, nicht nur aus den steif-würdevollen Fotografien und Daguerreotypien von einst, wie sie etwa als braunstichige Ahnengalerie neben dem Schreibtisch meiner Großmutter hingen. Dieser Schreibtisch ist aus dem Holz eines Kirschbaums gefertigt worden, der im Garten des Elternhauses meiner Großmutter stand. Sie vererbte den Schreibtisch meinem Vater, und nach dessen Tod nahm meine Mutter ihn in Gebrauch. Schön wäre es, hätte sich zwischen den Fotos und Porträtzeichnungen auch ein Bild jenes Kirschbaums gefunden. Aber es gibt keins – und so mache ich es mir in meinen Vorstellungen: Ein weißer Blütentraum, vom Wind geschüttelt, ein Augenaufschlag und vorbei.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen