Keine Gesamtausgabe in Sicht

„Von Ozean zu Ozean“: Zum 150. Geburtstag Rudyard Kiplings erscheinen seine gesammelten Reiseberichte

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich kann nicht behaupten, viel herumgekommen zu sein“, sagte Rudyard Kipling 1914 in einer Rede vor der Royal Geographic Society in London. Das war natürlich ein Witz. Denn Kipling, der 1907 als erster britischer und bis heute jüngster Autor (mit 41 Jahren) den Literaturnobelpreis bekam, war zu diesem Zeitpunkt schon um die ganze Welt gereist. In Indien geboren, dort und in England aufgewachsen, ging Kipling 1882 nach Lahore, um als Journalist zu arbeiten. Ein paar Jahre später reiste er durch sein Heimatland und schrieb neben seinen Kurzgeschichten, mit denen er schnell berühmt wurde, auch Reiseberichte. Diese sind manchmal leicht ironisch gefärbt, manchmal auch selbstironisch, beschreiben meistens aber ganz ernsthaft die Vielfältigkeit dieses erstaunlichen Subkontinents. Wie beispielsweise den Palast von Amber in der Nähe von Jaipur:

So betrat der Engländer diesen Palast aus Stein, auf Stein gebaut, aus steilem Fels herausragend, und erreichte auf Steinwegen – nichts anderes als Stein. Falls ein Gebäude den Charakter seiner Bewohner widerspiegelt, dann müsste es für jemanden, der in einem orientalischen Palast aufgewachsen ist, unmöglich sein, geradlinig zu denken oder frei zu sprechen oder – doch hier widersprechen die Chroniken von Rajputana der Theorie – freimütig zu handeln. Die engen und verdunkelten Räume, die schmalen, glattwandigen Korridore mit Nischen, in denen ein Mann ungesehen auf seinen Feind lauern kann, der Irrgarten aus auf- und absteigenden Treppen, die nirgendwohin führen, die allgegenwärtigen Zwischenwände aus marmornem Maßwerk, die so viel verbergen oder enthüllen können – all dies riecht nach Verschwörung und Gegenverschwörung, Bündnis und Intrige.

Mit großer Lust beschreibt Kipling die großen Sehenswürdigkeiten wie den Taj Mahal in Acra, aber auch die abseitigen Orte wie die verwinkelten Gassen Kalkuttas mit ihren Spielhöllen und Opiumhöhlen, an denen ein Tourist eher vorbeiläuft. Er erzählt auch von seinen Abenteuern, wie einmal in der Wildnis ein Rad seines Wagens brach und die beiden Inder ihn mitten in der Nacht verließen, um Hilfe zu holen – nicht ohne ihn zu bitten, auf die Post, die sie ebenfalls transportieren, aufzupassen. Es war gespenstisch, trotz des Feuers, das er entzündete: „Die Ponys husteten ab und an traurig, doch konnten sie nicht das Gewicht der Totenstille lösen, das die Erde zu zermalmen schien. Nach einer Zeitspanne, die man nur in Jahrhunderten messen kann“, kommen die beiden wieder und erlösen ihn aus der Einsamkeit. Er erzählt nebenbei viele Geschichten und Anekdoten, streift auch die Geschichte des Landes, die er sehr gut kennt, und erlebt eine Pantherjagd mit, die er als „Mord“ bezeichnet: „Es ist ein schrecklicher Anblick, ein großes Tier sterben zu sehen, wenn seine Seele in zehn Sekunden aus dem zuckenden Körper gerissen wird.“

Kiplings Reiseberichte aus Indien sind von großer Anschaulichkeit, gemischt mit politischen Betrachtungen, die ihn als Vertreter eines aufgeklärten Imperialismus zeigen: Für ihn sind es die Briten, die den Indern die moderne Kultur bringen – bei aller Wertschätzung und Liebe für das bunte Leben und die alte Kultur des Landes, die kaum ein anderer Brite jemals so gezeigt hat. Manchmal scheint es sogar so, als ob er bedauerte, dass all das zu verschwinden droht.

1888 verlässt Kipling Indien, um nach England zurückzukehren. Aber er reist nicht nach Westen, sondern nach Osten: Er streift Ostasien, China und Japan, fährt von dort nach San Francisco und über Land durch die Vereinigten Staaten. Auch hier verfasst er Reiseberichte für Zeitungen. Aber sie sind doch anders als die aus Indien. Denn in Indien ist er aufgewachsen, hier kannte er sich aus, konnte aus seinem reichen Wissensschatz über Politik, Geschichte und Kultur schöpfen und seine sinnlichen Eindrücke souverän mit seinen Überlegungen verknüpfen. In den anderen Ländern war er fremd, war ein Tourist, der manche Beschreibungen aus seinen Reiseführern übernahm.

Japan beschämt ihn vor allem mit der Höflichkeit und Sauberkeit seiner Bewohner und der Eleganz ihrer kleinen Häuser:

Man nehme den Laden des bania (Getreidehändlers). Er verkauft Reis und Chili und getrockneten Fisch und Holzbecher aus Bambus. Die Fassade des Ladens ist ausgesprochen solide. Sie ist aus einen halben Zoll breiten Latten gebaut, die nebeneinander festgenagelt sind. Keine einzige Latte ist zerbrochen und jede vollkommen viereckig. Da er sich schämt, sein Haus so mürrisch zu verriegeln, füllt er die Hälfte der Vorderfront mit Ölpapier, das auf einen Viertelzoll dicken Rahmen aufgespannt ist. Kein einziges Ölpapierviereck hat ein Loch, und kein einziges dieser Vierecke, die in unzivilisierten Ländern eine Glasscheiben enthalten würden, wenn sie stark genug sind, fällt irgendwie aus der Reihe.

Kipling ärgert sich, dass er ständig seine Stiefel ausziehen muss, was sehr unelegant aussieht, und dass er dann in Strümpfen über die spiegelglatt polierten Korridore gehen muss. Haarklein beschreibt er die Schönheit der kleinen Bäume, die die Japaner im Haus haben: „Der bania hat ihn dort zu seinem Vergnügen hingestellt, weil ihn der Anblick erfreut und er ihn liebt. Sein Geschmack ist frei von westlichem Einfluss, und er hält sein Haus tadellos sauber, denn er schätzt Reinlichkeit und weiß, dass sie kunstvoll ist.“ Japan ist für ihn ein Wunder. In einem Teehaus notiert er: „Hier gab es Farbe, Form, Nahrung, Bequemlichkeit und Schönheit genug, um ein halbes Jahr darüber nachzusinnen.“

Natürlich sieht Kipling auch in Japan die Sehenswürdigkeiten, natürlich haben er und sein Begleiter, der nur „der Professor“ genannt wird, beim Essen Probleme mit den Stäbchen. Er geht in ein Theater und versucht umständlich, die ihm unverständliche Handlung zu beschreiben. Er besucht den Tempel von Chion-in in Kyoto und hört die berühmte große Glocke. Hier schreibt der Autor auch wieder lebendiger, man spürt seine Begeisterung, während er Ostasien mehr oder wenig abhakt.

In Amerika dagegen wird er politisch und ironisch, manchmal mischt sich sogar ein bitterer prophetischer Ton in seine Berichte. Mit kritischem Blick schaut er auf das politische System des Landes, eine Demokratie, in der man offen Wählerstimmen kauft. Er bewundert die Amerikaner, ihren jungen Geist, mit dem sie alle Probleme direkt angehen, aber ist doch auch immer ein wenig herablassend. Mit großer Freude beschreibt er abstruse Szenen, etwa seine Zugfahrt zum Yellowstone Nationalpark: „Wir waren eine fröhliche Bande. Ein Gentleman tat seine Absicht kund, den Fahrpreis nicht bezahlen zu wollen, und raufte mit dem Schaffner, der ihn mit einem Hüftschwung fein säuberlich durch ein doppeltes Glasfenster beförderte.“ Gar nicht gefielen ihm die Städte in der Prärie inmitten von Salbeibüschen: „Wir hielten in Pasco Juncion, und jemand erzählte mir, dies sei die Königin der Präriestädte. Ich wünschte, die Amerikaner würden nicht so sinnlose Lügen verbreiten. Ich zählte vierzehn oder fünfzehn Holzhäuser und ein Stück einer Straße, das wie ein Bluterguss auf der unberührten Oberfläche des blauen Salbeis aussah, der sich endlos bis zur untergehenden Sonne erstreckte.“ Sehr zivilisiert kamen ihm die Amerikaner sowieso nicht vor: „Im Raucherabteil des Pullman-Wagens hörte ich auf der ganzen Strecke nach Helena Geschichten, die bis auf wenige Ausnahmen alle von gewaltsamen, brutalen und heimtückischen Morden handelten. Am Ende einer jeden Geschichte versicherte man mir, die alten Tage seien längst vergangen und diese Anekdoten hätten mindestens fünf Jahre auf dem Buckel.“ Aber wer weiß, was daran alles wahr ist. Denn am Ende seiner Reise in den USA traf er sein großes Idol, Mark Twain, und dieser Vielreisende und Spötter sagte ihm kurz und bündig: „Sammeln Sie Ihre Fakten, um sie dann nach Lust und Laune zu verdrehen!“

Der schöne Band, in dem sich jetzt alle diese Reiseberichte gesammelt finden (Reisebriefe aus Japan gab es schon einmal, eleganter übersetzt von Gisbert Haefs), ist im Mare Verlag erschienen und natürlich, so ist das in diesem Verlag, prächtig ausgestattet: ein dicker Band im Schuber und mit zwei Lesebändchen, in einem schönen Rot gebunden und mit Vorworten des Übersetzers versehen, die allerdings doch etwas ausführlicher hätten ausfallen können. Denn Rudyard Kipling, der große Klassiker der englischen Literatur mit dem größten Wortschatz nach William Shakespeare, ist hierzulande kaum bekannt – allenfalls die Dschungelbücher werden noch gelesen. Und man hätte sich, statt dieser zwar interessanten, aber doch frühen Reiseberichte von Kipling doch noch etwas Anderes gewünscht – am liebsten hätte man zu Kiplings 150. Geburtstag natürlich endlich einmal eine Gesamtausgabe. In Deutschland hat es eine solche noch nie gegeben, der Haffmans Verlag hat es mal angefangen und es immerhin auf neun Bände gebracht.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist seit dem 5.1.2016 auch bei Literatur Radio Bayern zu hören.

Titelbild

Rudyard Kipling: Von Ozean zu Ozean. Unterwegs in Indien, Asien und Amerika.
Übersetzt aus dem Englischen und herausgegeben von Alexander Pechmann.
Mare Verlag, Hamburg 2015.
797 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783866481817

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