Sie steht ihren Mann
Fariba Vafi erzählt im Roman „Tarlan“ aus dem Leben einer jungen Iranerin nach der Revolution von 1979
Von Behrang Samsami
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIran 1978: Millionen Menschen protestieren gegen die repressive Herrschaft von Mohammed Reza Pahlawi. Es kommt zu Streiks und Demonstrationen, die niedergeschlagen werden und zahlreiche Tote fordern. Als jedoch die USA und andere westliche Staaten auf der Konferenz von Guadeloupe im Januar 1979 dem Schah die Unterstützung entziehen, verlässt der krebskranke Herrscher das Land. Wenige Wochen später fliegt eine Air-France-Maschine den greisen Ajatollah Chomeini von Paris nach Teheran. Aus einem anfänglich linken Aufstand wird eine islamische Revolution.
In diesem Setting ist Tarlan, der erstmals 2006 erschienene Roman der iranischen Schriftstellerin Fariba Vafi, angesiedelt. Die 1963 in Täbris, der Hauptstadt des iranischen Aserbaidschan, geborene Autorin ist im deutschsprachigen Raum wenig bekannt. Vafi lebt in Teheran und hat bisher fünf Erzählbände und sechs Romane veröffentlicht. Für ihren 2002 erschienenen Debütroman Parande-ye-man („Mein Vogel“) erhielt sie den Huschang-Golschiri-Preis und den Yalda-Literaturpreis.
Parande-ye-man, eine Ich-Erzählung, ist 2012 unter dem Titel Kellervogel auf Deutsch erschienen und könnte das Vorbild für Asghar Farhadis Film Nader und Simin (2009) gewesen sein: In einer nüchternen und präzisen Sprache schildert eine Mutter, Ehe- und Hausfrau von ihrem engen, arbeitsreichen Leben mit nervigen Kindern und einer Mutter, die sich über den demenzkranken Vater beschwert. Während der Ehemann der namenlosen Ich-Erzählerin nach Kanada auswandern will und tatsächlich ausreist, allerdings nach Baku, will die Protagonistin im Iran bleiben.
Kellervogel erzählt von einer vorsichtigen Emanzipation der weiblichen Hauptfigur. Bei Tarlan ist es ähnlich, was auch im Namen der Protagonistin anklingt. Tarlan heißt übersetzt Falke. Sie ist eine junge Frau, als im Iran die Revolution ausbricht. Die Protagonistin stammt aus einer mittelständischen Familie aus Täbriz, liest viel, hängt linken Idealen nach, trägt in der Schule Gedichte des türkischen Dichters Nazim Hikmet vor und will Lehrerin oder Schauspielerin, am Liebsten aber Schriftstellerin werden: „Tarlans Leben war bisher weitgehend ereignislos verlaufen. Wenn sie Herausforderungen wollte, so musste sie sie suchen. Ihr Alltag kam ihr vor wie ein Tümpel, ein stehendes Gewässer, dessen glatte Oberfläche durch nichts in Bewegung geriet.“
Ermutigt in ihrem Wunsch, Schriftstellerin zu werden, wird Tarlan von einer „weisen Frau“, zu der sie nach der ersten Veröffentlichung einer ihrer Kurzgeschichten von Freundinnen gebracht wird: „Wir sind ein mitteilsames Volk. Wir können stundenlang reden, ohne auch nur eine einzige Zeile zu schreiben, denn Schreiben heißt: Verantwortung übernehmen“. Doch die junge Frau muss sich wie alle der Realität stellen. Ihr bleiben zwei Möglichkeiten, um das enge, konservative Elternhaus nach ihrem Schulabschluss zu verlassen: Entweder sie lässt sich heiraten oder findet einen Job.
In Zeiten der Arbeitslosigkeit gestaltet sich das schwierig. Tarlan muss sich mehrmals neu auf die Suche nach einer Anstellung machen und entscheidet sich schließlich, zusammen mit ihrer Freundin Rana eine Ausbildung zur Polizistin zu beginnen. Das wird vor allem mithilfe von Ranas Vater, der seine Kontakte spielen lässt, möglich. Tarlans Umgebung reagiert indessen ruhig: „In ihr einen Polizisten zu sehen und sie auch so zu nennen, fiel Freunden und Verwandten nicht schwer. In deren Augen passte der Beruf bestens zu ihr, ‚Tarlan steht ihren Mannʻ, sagten sie.“
Den Hauptteil des Romans macht die Ausbildung von Tarlan und Rana aus. Sie ziehen dafür nach Teheran, wo sie in einer Garnisonskaserne mit anderen jungen Frauen leben. Die Schule wird so zu einem Mikrokosmos des Vielvölkerstaates Iran, in dem verschiedene Sprachen und Kulturen aufeinanderprallen. Vafi hat ein Gespür dafür, weil sie Aserbaidschanerin ist und damit zur größten nicht-persischen Volksgruppe im Land gehört. Die Sticheleien einer Perserin namens Firuzeh gegenüber Tarlan und Rana, die beide als „Türkinnen“ bezeichnet, weisen auf die Haltung eines Teils der Perser hin, die den Begriff „Türke“ bewusst abschätzig für Aserbaidschaner verwenden.
Mit der Kommandeurin und Aufseherin hat Vafi zudem zwei Figuren geschaffen, die das Kasernen-Regime repräsentieren und die die Mädchen durch Drill und Tempo unter Kontrolle halten. Doch so unterschiedlich die „Soldatinnen“, die jungen Frauen, auch sind, kommen sie sich letztlich durch die Enge auch näher. Die Perserin Firuzeh entwickelt Interesse für Tarlan und bittet sie, ihre Karikaturen von den Dozenten und Aufseherinnen mit Texten zu versehen. Die Vielzahl an weiblichen Figuren mit und ohne Namen macht es jedoch schwierig, sie im Roman auseinanderzuhalten. Die Grenzen zwischen ihnen verschwimmen. Das mag von der Autorin durchaus beabsichtigt sein, doch auf den Leser wirkt es verwirrend.
Auch legt Vafi den Schwerpunkt ihrer Darstellung weniger auf den Unterricht als vielmehr auf die Gespräche zwischen Tarlan und den anderen Mädchen in der Kaserne. So wirkt dieser Teil wie ein Kammerspiel, in dem unterschiedliche Figuren auf- und abtreten, ihre Nöte und Wünsche äußern und so einen Eindruck davon geben, wie das Leben für junge Frauen nach der Revolution im Iran gewesen ist. Tarlan steht insofern exemplarisch für sie alle – auch wenn sie eine Außenseiterin ist.
Sie leidet an dem Stillstand und der geistigen Enge in ihrer Ausbildung. Das, was Rana über sich selbst sagt, gilt auch für die Protagonistin: „Das einzige, was unser miserables Leben ein bisschen erträglicher macht, ist doch unsere Wahrheitsliebe. Ich brauche keine Lügen. Im Gegenteil: ich bin wahrheitssüchtig“. Während Besuche daheim Tarlan ernüchtern, ermutigen sie Gespräche mit ihrem ebenfalls in Teheran lebenden Bruder Iradsch, sich mit ihrer Lage nicht abzufinden. Dieselbe Wirkung erzielen auch frühere Gespräche mit Ranas Bruder Reza, mit der „weisen Frau“ und einem ihrer Lehrer aus der Schulzeit, an die der personale Erzähler in Rückblenden erinnert.
Der Leser lernt Tarlan als eine junge Frau kennen, die durch ihre Ausbildung tief verunsichert wird und sich selbst und ihr bisheriges Denken in Frage stellt. Zugleich erscheint sie als ein Mensch, der sich nicht korrumpieren lässt und nicht im Strom mitschwimmen will. Das Nachdenken über sich und die eigene Entwicklung geht mit einer Reflexion über die Bedeutung des Schreibens bei der Wahrheitssuche einher: Schreiben heißt für Tarlan nicht nur Verantwortung zu übernehmen. „Ich denke, auch der Mensch nimmt Gestalt an, indem er schreibt. Er kommt ans Licht. Und wird frei“. Diese Worte ihres Lehrers hat Tarlan nicht vergessen. Der Leser wird Zeuge eines inneren Wachstums- und Reifungsprozesses.
Tarlan macht sich während ihres Aufenthalts in der Kaserne Notizen für ein „Panorama“ und ein „Schwarzbuch“, das sie schreiben will. Und genau ein solches Panorama über die junge iranische Republik aus weiblicher Sicht ist der Autorin Fariba Vafi mit ihrem zweiten Roman gelungen. Wie in Kellervogel besticht den Leser auch hier eine distanzierte und unaufgeregte Erzählweise, die allerdings auch nötig ist, um Tarlans Emanzipation zur damaligen Situation sachlich zu schildern – mit all den Restriktionen infolge gesellschaftlicher Konventionen, aber auch infolge der politischen Entwicklung. Den Lesern werden hier wohl mehr Antworten gegeben als sie selbst an Fragen hätten.
Die deutsche Erstausgabe von Tarlan weist jedoch einige Schönheitsfehler auf: Literarische Titel, die im Text auftauchen, wurden nicht kursiviert oder mit Anführungszeichen versehen, was die Lektüre erschwert. Ein Gedicht auf Aserbaidschanisch, das im Roman zitiert wird, wird sprachlich nicht ganz richtig wiedergegeben. So heißt es – um ein Beispiel zu nennen – korrekt „Ey daghlar sändä gözum war“ und nicht „Ey daghlar sundu guzum-war“. Zudem hätte man dem Buch ein Nachwort beigeben können, das die politische Lage im Iran um 1979, ihre Folgen für die Frauen und die im Roman angedeuteten Unterschiede und Probleme im Verhältnis der Ethnien im Land zueinander erläutert. Es hätte dem besseren Verständnis von Fariba Vafis Roman gutgetan. Nichtsdestotrotz – die Freude, dass der Sujet Verlag Tarlan auf Deutsch vorgelegt hat, wiegt stärker als diese Schwachpunkte.