Große Lektüre

Die Andere Bibliothek entdeckt mit „Eine Straße ins Moskau“ den ersten Roman von Michail Ossorgin für uns, und wir bedanken uns dafür

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von dem Roman eines Exil-Russen wird man 1929 keine Hymnen über die eben erst gegründete Sowjetrepublik erwarten dürfen. Erst recht, wenn er gerade jene ersten Jahre der Sowjetunion miterlebt und 1922 – nach einer längeren Haft und einer konkreten Todesdrohung – des Landes verwiesen wurde, in dem es besonders gewaltsam und chaotisch zuging. Das Regime konnte mit diesem Michail Ossorgin, 1878 als Michail Andrejewitsch Iljin in Perm geboren, nichts Gescheites anfangen, zumal Ossorgin nach den Missernten des Jahres 1921 an der Organisation des Hungerhilfe-Komitees beteiligt war, das zwar höchst erfolgreich agierte, dabei aber das Misstrauen des bolschewistische Machthaber auf sich zog. Wenn nicht die Partei das Elend der Massen beseitigen konnte, sollte es wohl auch kein anderer können. Ossorgin ging über Berlin und Italien nach Paris, wo er mehr schlecht als recht überlebte. Er arbeitete als Journalist und schrieb schließlich an einem Roman. „Eine Straße in Moskau“, 1929 in Paris erschienen, machte Ossorgin zu einem erfolgreichen und bekannten Autor. Die erste deutsche Übersetzung erschien noch im selben Jahr, eine englische Ausgabe folgte 1930 und wurde, folgt man dem Nachwort des Bandes, zum Bestseller. Dennoch scheint Ossorgin, der vor allem für Zeitungen arbeitete, Anfang der 1930er-Jahre fast völlig verarmt gewesen zu sein. Die Nazis trieben ihn schließlich in die Flucht, 1942 ist Ossorgin in Chabris gestorben. Eine Biografie, wie sie typischer nicht sein könnte für das frühe 20. Jahrhundert, das an gebrochenen Biografien reich ist, aber ebenso reich an einer Literatur, die Ihresgleichen in der Literaturgeschichte sucht. Ossorgin ist ein bedeutender Teil davon.

„Eine Straße in Moskau“ (oder genauer, „Der Wolf kreist“, wie der Roman in der ersten deutschen Übersetzung überschrieben war) muss freilich wie eine Kampfansage an das kulturelle und gesellschaftliche Klima in Europa angekommen sein. Der Roman steht in klarem Gegensatz zu der Faszination, die das Experiment Sowjetunion auf ganz Europa ausübte: Es gehörte fast schon zum guten Ton europäischer Journalisten und Autoren, gleich welcher Couleur, eine Reise in diese neue Land zu unternehmen. Das Schlagwort vom Kommunismus als Sowjetmacht plus Elektrifizierung weist bereits darauf hin. Im Rennen der neuen Welten Amerika gegen Sowjetunion sahen zahlreiche Reisende die Sowjetunion vorn – Egon Erwin Kisch, der in jenen Jahren gar zwei Reiseberichte über die Sowjetunion publizierte und das Engagement und die Begeisterung der Bevölkerung in den Vordergrund stellte, ist das in Deutschland bekannteste Beispiel. Aber eben auch Erich Kästner oder Walter Benjamin waren in der UdSSR, deren vorgeblich klassenlose Gesellschaft die Lösung der Modernisierungskrise im beginnenden 20. Jahrhundert versprach.

Zwar gab es auch zahlreiche warnende Stimmen, die das ökonomische Desaster der Sowjetunion, das spätestens durch den Zweiten Weltkrieg beschleunigt wurde, voraussahen. Aber die Sowjetmacht versprach ja so etwas wie das ganz Andere einer Gesellschaft, wie sie bis dahin bekannt war: Statt nationalistischer, bürgerlicher und kapitalistischer Staaten, deren Reichtum auf dem Rücken der arbeitenden und besitzlosen Klassen errichtet war, die zugleich eine teils rohen Unterdrückungspolitik ausgesetzt waren, wuchs hier ein Arbeiter- und Bauernstaat heran, dessen Ziel die klassenlose Gesellschaft war, das Ende aller Ungerechtigkeiten und Herrschaft, außer eben der des Volkes.

Wer davon angesichts der Gewalt, die auch und gerade in den bürgerlichen Gesellschaften des frühen 20. Jahrhunderts herrschte, nicht berührt war, hatte in den 1920er-Jahren weder Herz noch Hirn.

Nun aber dieser Ossorgin: Sein Roman zeigt keine engagierte Volksgenossen, sondern die Gewaltherrschaft einer Clique, die nicht weniger abstrakt und korrupt zugleich ist als das zaristische Regime zuvor. Mit dem Krieg und der Revolution bricht die gesamte gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung zusammen. Die Bewohner jener Straße in Moskau, in der das Haus des Ornithologen Iwan Alexandrowitsch und seiner Enkelin Tanjuscha steht, kämpfen ums Überleben: In die Häuser und Wohnungen werden Fremde einquartiert, Verdächtige oder unliebsame Elemente werden eliminiert, Lebensmittel gibt es nur selten über rare Zuteilungen, ebenso wie Kleidung oder Brennstoff. Wie aber überleben in einer Zeit, in der nichts mehr gesichert zu sein scheint und jeder bedroht ist, mit und ohne Grund? Die Menschen betreiben Tauschhandel mit allem, was sie haben. Sie reduzieren ihr Leben auf das Nötigste (das heißt, sie stehen an und warten), und verdienen auf jede erdenkliche Weise hinzu. Iwan Alexandrowitsch verkauft seine Bibliothek, Tanjuscha, eine talentierte Pianistin, gibt Konzerte.

Mit dem Zerfall der sozialen und wirtschaftlichen Ordnung scheint auch das Haus zu zerfallen – ein Motiv, dem Ossorgin lange im Roman folgt, bis er es sang- und klanglos aufgibt. Denn, auch wenn es merkwürdig klingt und es keine Anzeichen für Besserung gibt, das Leben bricht nicht zusammen, sondern setzt sich selbst fort. Menschen sterben, wie der Philosoph Astafjew, der in die Fänge der Geheimpolizei gerät und schließlich von seinem Nachbarn Sawalischin hingerichtet wird. Der gleichfalls kurz danach nach einer Nieren-OP stirbt. Aber Menschen leben auch weiter, wie eben Tanjuscha, die keine glänzende Hochzeit feiert oder eine große Karriere beginnt, sondern sich in einen kleinen Beschaffer verliebt, der die Nischen des Systems für sich zu nutzen versteht. Die wiederkehrenden Schwalben sind dafür ein fast schon überkitschiger Hinweis.

Freilich und ja, dieser Roman ist voller Kitsch und Gerümpel und dennoch stilistisch nicht nur auf der Höhe seiner Zeit. Seine Mischung aus sachlichem Erzählen und kleinem Pathos, aus der großen Linie, die sich in knappen, short cuts ähnlichen Kapiteln erkennen lässt, ist ungemein modern und trifft auch den heutigen literarischen Geschmack. Das mag auch an der neuen Übersetzung liegen, die von Ursula Keller stammt, die ebenfalls den Anmerkungsapparat und das Nachwort geschrieben hat.

Ossorgins Kritik an der Revolution ist zugleich derart zurückgenommen, dass er nicht einmal antibolschewistisch genannt werden kann. Mithin, darauf kam es Ossorgin anscheinend nicht an, sondern auf eine vielleicht vitalistisch zu nennende Durchführung eines Grundprinzips. Im Leben der kleinen Leute gibt es viele Katastrophen, aber dennoch überleben sie sie alle – oder eben nicht. Und das Ganze ist auch noch tröstlich gemeint, zweifelsohne.

Titelbild

Michail Ossorgin: Eine Straße in Moskau. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Ursula Keller unter Mitarbeit von Natalja Sharandak.
AB - Die andere Bibliothek, Berlin 2015.
527 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783847703679

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