Lesebuch als Steinbruch
Andreas Erb und Hannes Krauss haben ein Kompendium der neueren deutschen Literatur editiert
Von Markus Oliver Spitz
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAufbauend auf das 1994 erschienene Standardwerk zum Unterricht in der Sekundarstufe II und an Hochschulen, Vom Nullpunkt zur Wende, legen die Herausgeber, beide Literaturwissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen, ein Kompendium deutschsprachiger Primärtexte vor. Sie haben dabei einerseits den Umfang um seitdem Erschienenes erweitert und andererseits Texte, die mittlerweile an Relevanz verloren haben, herausgekürzt. Die in dieser Hinsicht durchaus bedeutsame Frage nach dem Kanon tippen sie in ihrer Einleitung leider nur kurz an.
Was man an Namen und Texten aus den Bereichen Lyrik und Kurzprosa erwartet, ist vorhanden. Als Fachlehrer beziehungsweise Hochschuldozent begrüßt man, dass die Auswahl weit genug gesteckt ist und auch Liedtexte, unter anderen von den Ärzten und Ton Steine Scherben, beinhaltet. Das Gleichgewicht zwischen Ost und West, zwischen Männlein und Weiblein, zwischen hoher und populärer (ansatzweise auch Dialekt-)Kultur ist ausgewogen.
Strukturiert ist das Kompendium in die folgenden elf Abschnitte und geht insofern thematisch, nicht streng chronologisch vor: Trümmerjahre, Erinnern, Wirtschaftswunder, Von der Teilung zur Wiedervereinigung, Macht und Widerstand, Arbeit und Freizeit, Familienbande, Beziehungsweise(n), In Berlin und anderswo, Heimatkunde, Schreiben. Dies gewährleistet eine gewisse Bandbreite. Wie immer bei derartigen Überbegriffen lässt sich allerdings auch hier über die Einordnung streiten, beispielsweise wenn Arnfrid Astels dialektische „Lektion“ unter Familienbande aufgeführt wird.
Im Ganzen allerdings ergibt die Auswahl durchaus Sinn. Die Reflexionen über den Schreibprozess beinhalten ein gewohnt (selbst-)ironisches Gedicht Robert Gernhardts wie auch ein kulturpessimistisches von Christoph Meckel. Gerade aber, wenn weniger bekannte Perlen wie Helmut Heißenbüttels „Kalkulation über was alle gewusst haben“, Norbert Hummelts „feldpostkarte“, Klaus Schlesingers „Der Tod meiner Tante“, Alexander Kluges „Pförtls Reise“ oder Julia Francks „Streuselschnecke“ aus dem Kanon gefischt werden, wird deutlich, inwiefern Literatur vermittels fiktionaler Brechung und sprachlicher Ausgestaltung Aspekte wie den blinden Führerglauben, den Alltag des Frontsoldaten, die Schikane durch die Grenzkontrolleure der DDR, die Selbstentfremdung des Arbeiters oder zerrüttete Eltern-Kinder-Beziehungen derart darzustellen vermag, dass den Rezipienten eine differente Sicht auf (mehr oder weniger) bekannte Sachverhalte eröffnet wird.
Auf AutorInneninformationen haben die Herausgeber verzichtet und verweisen nicht zu Unrecht darauf, dass sich jene umstandslos im Internet finden lassen. Gleichermaßen fehlen allerdings auch kontextualisierende Kommentare. Stattdessen gibt es zu den jeweiligen Abschnitten Einleitungen, welche jedoch zu kurz gehalten sind. Daher gelingt es selbst ausgewiesenen Fachgelehrten wie Werner Jung, Rolf Parr und Jochen Vogt nur bedingt, einen Einstieg in die übergeordnete Thematik zu geben.
Hochschullehrende werden an dieser Stelle die fehlende Einbettung in die Literaturgeschichte kritisieren. Fachlehrer mögen in diesem Kompendium eine Art Steinbruch zur Gestaltung von Unterrichtsreihen zur jüngeren und jüngsten deutschen Literatur erblicken, dessen Inhalt sich – wie oben bereits angedeutet – mit gesellschaftspolitischen Ereignissen, literarischen Analyseansätzen und Übungen zur Steigerung der Sprachkompetenz verzahnen lässt. Beispielsweise lassen sich Texte aus Erinnern gut mit der Umerziehungspolitik der Siegermächte kombinieren oder solche aus Macht und Widerstand mit der Studentenbewegung, der APO und dem Linksterrorismus. Die konkrete Vernetzung zwischen Text und Interpretation kann darüber hinaus auch vermittels der angegebenen Internetseite der Universität erfolgen. Schließlich lässt sich die Auswahl für die produktive Rezeption nutzbar machen, indem Texte umerzählt oder weitergeschrieben werden. Ob es für all dies allerdings unbedingt des vorliegenden Kompendiums bedarf, werden FachlehrerInnen und DozentInnen vor dem Hintergrund ihrer Unterrichtsplanung entscheiden müssen.
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