Das Ende eines Mythos?

Paul Kahl schreibt die erste Geschichte des Goethe-Nationalmuseums

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es kommt nicht häufig vor, dass in der Goethe-Forschung noch echtes Neuland betreten wird. Auch wenn man sich kanonischen Texten mit immer neuen Theorien und Zugängen nähern kann, gibt es kaum einen Vers, eine Seite Prosa aus der Feder des Autors, kein biographisches Detail, das nicht schon bis zum Überdruss durch die Hände der Exegeten gewandert scheint. Doch zumindest ein wichtiges Kapitel der Goethe-Rezeption war bisher ungeschrieben geblieben, nämlich die Geschichte des Hauses am Weimarer Frauenplan, das der Autor von 1782 bis zu seinem Tod bewohnte. Seit 1886 trägt das Gebäude offiziell den Namen „Goethe-Nationalmuseum“, auch wenn man umgangssprachlich einfach vom „Goethehaus“ spricht.

Der in Göttingen lehrende Germanist Paul Kahl legt nun erstmalig eine Geschichte des ikonischen gelben Baus vor. Kahl ist dafür ein idealer Kandidat: Zum einen ist er ausgewiesener Experte für die deutsche Literatur um 1800, zumal in der archivbasierten Forschung – er war es, der 2004 zum ersten Mal überhaupt das Bundesbuch des Göttinger Hains herausgab. In diesem Buch dokumentierte Kahl die wichtigste Dichtergruppe des Sturm und Drang sowie die Poeme, die ihre Mitglieder bei ihren regelmäßigen Treffen vortrugen. Zudem hat er sich seit vielen Jahren auf die Geschichte des Dichterhauses spezialisiert.

Tatsächlich wollte Kahl laut Vorwort zunächst auf eine Kulturgeschichte des deutschen Dichterhauses als „Personengedenkstätte“ hinaus, wie sie im 19. Jahrhundert entstanden ist – eigentlich die säkulare Form eines heiligen Ortes. Das wird noch im gewählten Titel seines Buches deutlich. Gedenkstätten sind ursprünglich sakrale Orte, können aber auch national-historischen Ereignissen gewidmet sein, was auf so divergente Orte wie das Leipziger Völkerschlachtdenkmal und das Berliner Holocaust-Mahnmal zutrifft. Viele dieser Gedenkstätten beziehen sich aber auf bestimmte Personen, die entweder Politisches oder Künstlerisches geleistet haben, was sich wiederum mit der nationalen Geschichte verklammern kann, aber nicht muss. Das Weimarer Haus am Frauenplan ist ein paradigmatischer Fall, in Kahls Augen ein „Kompensationsprojekt zwischen Kultur und Politik, […] ein Stück deutscher Identitätsgeschichte im zwanzigsten Jahrhundert“.

Über die Jahre hinweg ist Kahl tief in die Archive getaucht und hat auch bislang nicht ausgewertete Quellen berücksichtigt. Das Ergebnis ist ein elegant geschriebener, faszinierender Bericht über die wechselvolle Geschichte des Hauses. Ein Buch über das Goethehaus als Prototyp der literarischen Personengedenkstätte ist Die Erfindung des Dichterhauses aber gerade nicht geworden; dafür liegt hier überhaupt zum ersten Mal eine monografische Darstellung zum Thema vor. Dabei verwendet Kahl wenig Raum auf Johann Wolfgang von Goethes Lebzeiten, auf den Zeitraum zwischen 1845 und der Wiedereröffnung des Hauses als Goethe-Nationalmuseum 1886, die Jahrhundertwende und die Weimarer Republik. Ersteres ist nicht sein Thema, zu den anderen Epochen existieren wohl auch weniger Quellen als zu den vier Schwerpunkten, die Kahl sich setzt. Im 19. Jahrhundert sind dies die Versuche des Deutschen Bundes zwischen 1842 und 1845, das Haus von seinen damaligen Besitzern, Goethes Enkeln Walther und Wolfgang, zu kaufen sowie die Gründung des Museums selbst. Im 20. Jahrhundert folgt die Geschichte des Hauses im Nationalsozialismus und in der DDR; beide hätten das Haus jeweils für ihre Zwecke vereinnahmt, so Kahl. Es handelt sich durchgehend um Zeitpunkte, in denen das Museum als Museum und die Bedeutung Goethes für die Konstruktion nationaler Identität eine Rolle spielen.

Die beiden ersten Schwerpunkte sind aus heutiger Sicht nicht weiter kontrovers und man hat sie noch nie mit so viel Akribie und Sachkenntnis dargestellt gelesen. In der zweiten Hälfte allerdings wechselt Die Erfindung des Dichterhauses das Genre und wandelt sich von einer neutralen Darstellung zur Streitschrift,  sozusagen zur recherche engagée. Das Buch wird zum Plädoyer gegen eine ideologische Vereinnahmung Goethes und die Legende von der ungebrochenen Authentizität des Hauses, das seit 1832 nicht verändert worden sei. Beides fließt im Anhang der Studie zusammen und man versteht sie vielleicht am besten, wenn man sie von dort her liest. Es handelt sich um einen kurzen Text Reinhold Schneiders von 1946 zur Frage, ob man das im Krieg zerstörte Frankfurter Goethehaus wieder aufbauen solle: „Der Kult klammert sich an den Dingen fest, dem Hausgeräte des Genies; echte Verehrung verpflichtet sich dem Geist und ringt mit ihm.“ Schneiders damalige Botschaft ist bescheiden: kein Wiederaufbau des im Krieg zerstörten Frankfurter Goethehauses, stattdessen die sorgsame Auseinandersetzung mit den Texten, womit man den Autor tatsächlich ehren würde.

Dass sich das Weimarer Haus seit Goethes Tod tatsächlich verändert hat, ist unstrittig. Es gibt aber viele Quellen, vor allem von Besuchern, die diesen Umstand falsch wiedergeben. Schon im 19. Jahrhundert war die repräsentative Zimmerflucht an der Straßenseite vermietet worden, wofür man das originale Mobiliar selbstverständlich ausräumte. Die komplette Innenausstattung wurde 1942 ausgelagert und der westliche Teil des Hauses im Februar 1945 durch eine Fliegerbombe schwer beschädigt. Erst zu Goethes 200. Geburtstag 1949 wurde das Haus wieder neu eröffnet. Was heute zu sehen ist, ist unbestritten „nur“ eine Rekonstruktion des früheren Zustandes, wobei in vielen Räumen lediglich belegt ist, welche Einrichtungsgegenstände sich dort einmal befunden haben, nicht aber, wo genau sie aufgestellt waren. Schon deshalb wird man den originalen Zustand nie wieder herstellen können. Die Frage nach Authentizität und Rekonstruktion ist jedoch keine Problematik, die für das Goethe-Nationalmuseum spezifisch wäre. Sie stellt sich in jedem Museum, das einen vergangenen Zustand wiederherzustellen sucht, und wird heute in der Museologie auch entsprechend reflektiert. Sollte man aber dem Besucher deutlicher vor Augen führen, dass ihm eine Rekonstruktion präsentiert wird? Kahls Antwort ist ein eindeutiges Ja.

Noch problematischer ist aber aus seiner Sicht der politische Umgang mit Goethe von 1933 bis 1945 und vom Kriegsende bis zum Fall der Mauer. Der erste Abschnitt manifestiert sich für Kahl vor allem in der Person des 1885 geborenen Hans Wahl, der nur wenige Tage vor dem Ende des Großherzogtums 1918 Direktor des Goethe-Nationalmuseums wurde und ab 1928 auch das Goethe-und-Schiller-Archiv leitete. Beide Ämter versah er bis zu seinem Tod 1949. Lange Zeit galt Wahl als Musterbild eines integren Bürgers, der Museum und Archiv durch schwere Zeiten geführt habe, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. Dieses Bild stellt Kahl nachdrücklich infrage, indem er Wahls Verstrickung in den Nationalsozialismus und sein lange zur Schau getragenes Selbstverständnis als überzeugter Antisemit dokumentiert. Mit seiner Kritik steht er nicht allein: Auch im Sammelband Hans Wahl im Kontext, den Franziska Bomski, W. Daniel Wilson und Rüdiger Haufe 2015 herausgegeben haben, wird das Thema beleuchtet. Neben Wahls Rolle hinterfragt Kahl vor allem die „‚bruchlose‘ Verbindung von klassischem und sozialistischem Humanismus“ in der DDR. Er kritisiert damit eine Gedenkpolitik, die Goethes „Humanität“ als etwas „Eigentliches“ gegen die Pervertierung des deutschen Nationalcharakters im Faschismus in Stellung bringt – eine Aufteilung, die so nicht funktioniert. Wie gesagt, in diesen Teilen ist Kahls quellengesättigtes Buch eher ein engagierter Diskussionsbeitrag als eine neutrale Darstellung.

Kritiklosigkeit an der Vergangenheit kann man der heutigen Trägereinrichtung, der Klassik Stiftung Weimar – bei der auch der Rezensent arbeitet –  allerdings nicht vorwerfen. So gibt es seit 2008 die „Forschungssammlung NS-Raubgut in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek“, die enteignete oder unter Zwang verkaufte Stücke ausfindig zu machen und zu restituieren sucht. Am Aufgang zur Dauerausstellung „Lebensfluten – Tatensturm“ im Goethe-Nationalmuseum sind heute als Erinnerung an die Verbindung zwischen Weimar und Buchenwald drei der Kisten ausgestellt, die die KZ-Häftlinge für die Auslagerung anfertigen mussten.

Dass Kahls Die Erfindung des Dichterhauses sich von der neutralen Darstellung zur Streitschrift entwickelt, kann man problematisch finden. Das Exemplarische des Goethe-Nationalmuseums für die Geschichte der „literarischen Personengedenkstätte“ gerät so scheinbar aus dem Blick. Dabei wäre es interessant gewesen, einen Schritt zurückzutreten und eminente Fragen zu stellen, die die von Kahl genutzten Quellen so nicht hergeben: Warum wurden zum Beispiel gerade Schiller und Goethe um 1850 „vereinnahmt, um einen kulturellen Ersatz zu schaffen für die fehlende politische Einheit Deutschlands“? Warum nicht Christoph Martin Wieland, Friedrich Gottlieb Klopstock oder offen nationalistische Autoren wie Theodor Körner, Heinrich von Kleist, Henrik Steffens oder Ernst Moritz Arndt? Weil sie offen gegen die Kleinstaaterei eintraten, aus deren höfischer Welt des 18. Jahrhunderts Goethe und Schiller stammten, und damit als Bedrohung des feudalen Status quo vor und nach 1871 empfunden wurden? Spielen Goethe und Schiller nach 1990 tatsächlich nur noch eine periphere Rolle für die deutsche Nationalidentität, wie Kahl behauptet? Wenn die Besucherzahlen des Goethehauses sich tatsächlich seit den 1980er-Jahren halbiert haben, wie der Autor angibt, lag das dann nicht gerade an der Erinnerungspolitik der DDR, in der jede Schulklasse des Landes sowohl Buchenwald als auch Goethes Wohnhaus verpflichtend besuchen musste? Und mag der Bezug auf die Weimarer Klassik auch für Deutschlands kulturelles Selbstverständnis heute weniger konstitutiv sein, für sein Bild in der Welt ist es das nach wie vor, beispielsweise in Südostasien und in Russland. Nicht nur ziehen Weimar und zumal das Goethehaus bis heute Touristen aus aller Welt an. Deutsche Kulturarbeit wird weltweit nirgends so stark repräsentiert wie von den Goethe-Instituten, die erst seit 1951 so heißen.

Selbstverständlich gibt es auch heute eine Goethe-Forschung, die ihre Fragen aus aktuellen Bezügen gewinnt, die mit Goethe und seinem Werk nicht primär verbunden sind. Wer heute nach der Bedeutung von Goethes Begriff der Weltliteratur fragt oder seine Auseinandersetzung mit islamischen Kulturen im West-östlichen Diwan (1819) thematisiert, hat natürlich mit der heutigen Gesellschaft zu tun, befragt die Texte aus aktuellen Konstellationen heraus – würde man auch das eine Funktionalisierung im von Kahl kritisierten Sinne nennen, oder entstehen literaturwissenschaftliche Fragestellungen unvermeidlich aus dem Kontext ihrer Zeit heraus, obwohl sie das zu kaschieren suchen und stattdessen vorgeben, endlich die „wahre“ Bedeutung eines Werkes herauszupräparieren? Es bleibt auf jeden Fall wichtig, die historische Bedingtheit der eigenen Fragestellung mitzureflektieren und die gewonnenen Erkenntnisse nicht als „ewige“ Wahrheiten zu verkaufen. Möglich, dass auch heutige Arbeitsergebnisse eines Tages ebenso revisionsbedürftig geworden sein dürften wie die jetzt in diesem Buch kritisierten Positionen. Man muss Paul Kahls Ansichten nicht in jedem Punkt teilen, aber es ist wichtig, dass er sie vorbringt und den Umgang mit der Vergangenheit zur Diskussion stellt.

Wer es genauer wissen will, greift ohnehin am besten zu den beiden Begleitbänden mit Dokumenten, die Kahl neben seiner Monografie herausgibt. Sie sind „historisch-dokumentarisch“ und stehen im Zeichen einer „germanistischen Grundlagenforschung mit kulturgeschichtlich geweitetem Blickfeld“. Der erste, den Kahl gemeinsam mit Hendrik Kalvelage herausgegeben hat, versammelt eine Vielzahl von Texten von Goethes Einzug 1782 bis zum Jahr 1899; ein wesentlicher Teil wird hier zum ersten Mal überhaupt im Druck veröffentlicht. Ein zweiter Band zum 20. Jahrhundert, den Kahl derzeit gemeinsam mit Katja Stuckatz erstellt, soll noch 2016 folgen. Ob Kahl damit tatsächlich „die Museumsgeschichte als eigenes Forschungsfeld“ der Philologie begründen kann, wie er im Vorwort postuliert, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall kann man sich anhand der fast 900 Quellentexte allein im ersten Band ein vertieftes und nuanciertes Bild von der Geschichte des Hauses bilden, wie es die kürzere, für ein breiteres Publikum gedachte Monografie so nicht vermag. Einen deutlichen Schwerpunkt bilden auch hier wieder die Verkaufsverhandlungen mit dem Deutschen Bund. Obwohl man das Ergebnis kennt, verfolgt man über mehr als 300 Seiten gebannt dem Nervenkrieg, den sich Goethes Enkel, ihre Vormünder, Goethes Nachlassverwalter Friedrich von Müller und die Diplomaten diverser deutscher Staaten liefern, nur damit am Ende alles beim Alten bleibt und das Haus erst nach Jahrzehnten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Man darf jedenfalls gespannt auf den zweiten Teil sein, gerade weil Kahl damit seine  Ausführungen zum Goethehaus im 20. Jahrhundert untermauern könnte – oder liefert er die Bausteine für eine ganz andere Sichtweise?

Titelbild

Paul Kahl / Hendrik Kalvelage (Hg.): Das Goethe-Nationalmuseum in Weimar. Band 1: Das Goethehaus im 19. Jahrhundert. Dokumente.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
856 Seiten, 69,90 EUR.
ISBN-13: 9783835316362

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Titelbild

Paul Kahl: Die Erfindung des Dichterhauses. Das Goethe-Nationalmuseum in Weimar.
Eine Kulturgeschichte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
352 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783835316355

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