Delegieren und Importieren

Das Interpassivitätstheorem schlägt in einem von Silvan Wagner herausgegebenen Tagungsband erste Wurzeln in den mediävistischen Forschungsfeldern

Von Matthias DäumerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Däumer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Interpassivitätstheorem Robert Pfallers – entstanden aus einem Unbehagen an den Kunstdebatten der späten 1990er und Nullerjahre mit ihrer ‚Interaktivitätsverkultung‘ – lässt sich am besten an bestimmten (hier enorm vereinfachten) Denkbildern erläutern: das Programmieren des Videorekorders, der Sendungen aufnimmt (und damit stellvertretend schaut), die man selbst nie rezipieren wird; oder: das Dosengelächter der Sitcoms, das es einem einfach macht, selbst nicht zu lachen, sondern diese Rezeptionsleistung vom Kunstwerk selbst übernommen zu sehen. Bei Vorgängen wie diesen handelt es sich um ‚Delegationen von Genuss‘ an ein Anderes (die Maschine, das Kunstwerk), eine Übertragung, die – so Pfaller – die Rezipienten entlastet.

Bis hierhin scheint es noch unproblematisch, nach interpassiven Elementen in mittelalterlichen Kunstwerken zu suchen und Pfallers Theorem im Sinne einer „Importwissenschaft“ – so zitiert Silvan Wagner im ersten Satz seiner Einleitung Hartmut Böhme – in den mediävistischen Fächern zu erproben. Wagners anregende Einleitung zeigt die vielen Felder auf, in denen die Pfaller’sche Theorie in der Mediävistik neue Wirkungen entfalten könnte, macht aber auch deutlich, wo die Provokation dieses Imports liegt: Pfaller bezieht den Vorgang der Delegation auch auf Glaubensinhalte; er behandelt bestimmte Phänomene, die immer als ein ‚Glauben der Anderen‘ auftreten und dennoch aktive kulturelle Größen bleiben (wobei dieses Andere immer virtueller werden kann). Denkbild: ‚Weihnachtsmann‘ oder – laut Pfaller – der Umgang mit Horoskopen, die man immer nur lese um zu schauen, was die Anderen glauben. Es ist klar, dass dieser delegierte Glaube eine Denkfigur ist, die vor dem mittelalterlichen Horizont (oder zumindest vor dem, was man sich gemeinläufig als Horizont konstruiert) befremdlich wirken muss. Denn die Aura des Mittelalters als Zeit der unhinterfragten, ‚echten‘ Religiosität wird durch diesen Import – so er denn konsequent durchgeführt wird – in ein trügerisches Zwielicht gerückt. Die Positionierungen zu diesem Problem fallen in den Beiträgen des Bandes sehr unterschiedlich aus und müssen jeweils differenziert betrachtet werden. Aus diesem Grund bitte ich zu entschuldigen, dass ich für diese Rezension eine subjektive Auswahl treffen musste.

Der erste Beitrag von Pfaller selbst scheint die Kluft des Anachronistischen erst mal erheblich zu weiten. Einerseits liegt dies an dem enorm vereinfachten Mittelalterbild als ‚naiv-gläubig Anderes‘, mit dem Pfaller eingangs operiert: Man sollte eigentlich meinen, dass die ‚Norbert Elias-Brille‘ auch jenseits der mediävistischen Fächer endlich aus der Mode kommen könnte; ebenso das im teleologisch denkenden Historismus noch beliebte, heute jedoch weder politisch noch wissenschaftlich korrekte Parallelisieren des Mittelalters mit afrikanischen ‚Naturvölkern‘. Andererseits entsteht die Kluft aufgrund der psychoanalytischen Basis, die Pfaller für das interpassive Prinzip verabsolutiert. Auf freudianischen Wegen wird das Delegieren als Akt der Auslagerung von Narzissmus begriffen, als Vorgang also, der es dem Menschen erlaube, die in ihrer/seiner Entwicklung vermeintlich überwundene narzisstische Selbst- und Weltwahrnehmung am stellvertretenden ‚Genuss von Anderen‘ wieder zu erfahren und damit nicht vollständig verabschieden zu müssen. Dabei spielt das zelebrierte ‚Ungute‘ des Genusses ebenso eine Rolle wie die Übertragung der Wahrnehmung dieses Genussvollzugs an eine unbestimmte Instanz. Was Pfallers Beitrag für die Dramaturgie des Bandes erzeugt, ist vor allem ein Index für die Fallhöhe, die diesem Theorieimport innewohnt.

Zur Überbrückung der Kluft zu der prä- oder auch anti-psychologisch begriffenen (Kunst-)Epoche des Mittelalters setzt dann der Beitrag des Herausgebers an. Wagner spielt mit der besagten Fallhöhe des Imports, indem er aus dem Bereich der höfischen Romane und Kleinepik ausgerechnet die literarische Didaxe als Fokuspunkt wählt. Denn was könnte man sich schlechter als delegiert vorstellen als den Willen zum prodesse, der unseren Wertbegriff der mittelalterlichen Literatur tendenziell stärker als das munter hintendrein hüpfende delectare prägt? Und doch wird gerade bei diesem Thema deutlich, wie viel der Theorieimport zu leisten vermag. Textpassagen, die man ganz selbstverständlich als Aufrufe zu einer interaktiven Beteiligung eines Publikums und als Indikatoren eines den Text in die Realität verlängernden Lernvorgangs begriffen hat, erscheinen im Lichte der Interpassivität gar nicht mehr allzu didaktisch. Jedoch nicht, weil Wagner eine Theorie dem Text übergestülpt, sondern weil Analogien des Theorems sich als programmatische Reflexionen der Autorenfiguren finden lassen. Man denke nur an Hartmanns Zur-Schaustellung der Unsinnigkeit, selbst nach Meerwundern auf Tauchstation zu gehen (Erec, V. 7615-41): Hier ist ganz klar avant la lettre die interpassive Ladung der Didaxe gemeint. Der Rezipient muss nicht selbst lernen, wenn es ihr/ihm ermöglicht wird, jemand Anderem (nämlich dem Erzähler bzw. Rezitator oder einer fingierten Vermittlerfigur) beim Lernen zuzuschauen. Wagner kommt zu einem Fazit, das die Delegation des Genusses an das Kunstwerk (bzw. die Integration der Rezeptionshaltung) mit dem problematischen ‚Glauben der Anderen‘ harmonisiert: „Im epischen Kunstwerk des Hochmittelalters kann sowohl der Genuss als auch der Glaube an die Illusion literarischer Didaxe an den Erzähler delegiert werden; dadurch kann das Publikum teilhaben an der Illusion, dass sich die eigene Gesellschaft durch die bloße Rezeption höfischer Literatur zum Besseren verändert, ohne aber tatsächlich an die Illusion glauben zu müssen“. Es klingt ebenso desillusionierend wie richtig, wenn Wagner den ‚Lehrwert‘ der höfischen Texte als ‚Leerwert‘ enttarnt und so ein überlebtes Alteritätspostulat mittelalterlicher Literatur unter der Hand abbaut.

Gabriel Viehhauser nutzt das Interpassivitätstheorem als Erklärungsmuster, um dem Figuren-Dilemma in den Titurel-Dichtungen näher zu kommen. Aufbauend auf Walter Haugs und Helmut Brackerts Interpretationen zeigt er, dass die Sigune der Wolfram’schen Fragmente ihr Leben an die Lektüre des Brackenseils delegiert, die interpassive (Ersatz-)Befriedigung ihr (und fatalerweise dann Schionatulander) zum primären Ziel wird und so zum Weg in Tod und Trauer. Mit Blick auf den Jüngeren Titurel schließt Viehhauser diese Delegation kurz mit den homodiegetischen Verlesungen des Brackenseils, bei denen das Selbst-Lesen im Lesen-Lassen eine neue Vertreterinstanz erfährt und so die Delegationsvektoren verschoben werden. Durch dieses Schiften entsteht die Frage, ob die Literaturrezeption „zur Subjektkonstitution Sigunes (oder eben der Vermeidung ebendieser) beitragen soll“, eine Frage, die über Pfallers Theorie hinausweisend mit Louis Althusserls Kritik am ideologischen Zwang zur Subjektkonstitution erklärt wird. Viehhausers Beitrag zeigt, mit welchem Gewinn eine konkrete Anwendung von Pfallers Theorie zu einer präzisen Analyse führen kann. Wertvoll erscheint mir dabei vor allem, dass ein Wandel (den von der Performativität zur Skripturalität), den man eher als medienhistorischen und somit textexternen zu verstehen gewohnt ist, sich mittels der Interpassivität nicht nur im Sinne einer fiktiven Spiegelung medialer Bedingungen behandeln, sondern auch an die Figurenkonzeption rückbinden lässt.

Manuel Braun setzt bei der Frage an, wie man der historischen Rezeption des ‚Heros‘ und des ‚Minnenden‘ im Spannungsfeld von Faktualität und Fiktionalität näher kommen kann. Niemand würde (gegenwärtig) davon ausgehen, dass die Exorbitanz des Heros (beschrieben an Alpharts Tod) oder die Überreizung des Minnenden (in Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst) eine Realität bezeichnet – auch nicht für die historische Rezeption. Ebenso wenig ist es jedoch möglich, ohne anachronistische Verfälschungen von einer Fiktionalität dieser Gestalten auszugehen – eben weil ein vollwertiges Fiktionalitätskonzept sich im Mittelalter nicht als Denkoption nachweisen lässt. Eingespannt zwischen der „Rahmenbedingung einer christlichen Kultur, der Fiktionalität stets suspekt geblieben ist“ und dem fiktionswilligen Forscher als Gefangener eines „Kreterparadox[es]: Man versucht Texten, die doch möglicherweise fiktional sind, Aussagen über ihre Fiktionalität abzuhören“, bietet Braun den ‚Glauben der Anderen‘ als Alternative zu dieser verfahrenen Forschungsdebatte an. Geht man also davon aus, dass einem historischen Rezipienten die exorbitanten Heroen und die überreizten Minnenden gar nicht als ‚Fiktion vs. Fakt‘-Problem entgegentraten, sondern dass es ihr/ihm genügte anzunehmen, dass irgendwann mal irgendwer an diese Kolosse glaubte, fällt das Forschungsproblem in sich zusammen. Ob es sich bei dieser Interpassivität-Funktionalisierung um eine gangbare Theoriealternative oder aber eher um einen Schleichweg aus dem Dilemma handelt, wird sich freilich erst daran erweisen müssen, wie stark fast 20 Jahre nach Böhmes Äußerung der Wille zum theoretischen Import in der Älteren Philologie noch ist.

Bis zu diesem Punkt des Bandes ist es erstaunlich, wie gut und gewinnbringend die Interpassivität trotz aller aufgezeigten Klüfte auf die unterschiedlichsten Bereiche der Mediävistik übertragbar ist. Aus diesem Grund ist es für diese Rezension nun unabdingbar, das größte Importembargo des Bandes zur Sprache zu bringen: den mit der Frage „Was glaubt der Glaube?“ betitelte Beitrag Wolfgang Schoberts. Schobert rechnet weniger mit der Interpassivität als mit der Bildlichkeit des Delegierens ab. Er zeigt, dass die gängigen Pfaller’schen Bilder nicht jenseits ihrer jeweiligen sozialen Praxis zu verstehen sind. Der Videorekorder beispielsweise schaue nicht stellvertretend, sondern stelle nach kapitalistisch-neoliberaler Ideologie einen Akkumulator von Genuss-Optionen dar, generiere also die Potenzialität eines nicht delegierten, sondern aufgeschobenen Genusses. Das Dosengelächter wiederum ist in der Tradition des abgefilmten Theaters zu sehen – schließlich wurden viele Sitcoms der 1990er und 2000er auf Bühnen mit echtem Publikum aufgenommen. Das Lachen liefert deshalb eine spezifische Atmosphäre des Authentischen und – so würde ich es sehen – den Mehrwert, die Einsamkeit des TV-Konsums zu verschleiern und den Zuschauer damit rezeptionswillig zu halten.

Ähnlich wie diese beiden Bilder dekonstruiert Schobert viele andere; sein Hauptziel ist es aber zu zeigen, dass Pfallers ‚Glauben der Anderen‘ gar kein Glaube ist. Dabei ist vor allem Charles Taylors These ausschlaggebend, dass Glaube nur eine Entscheidung zu ebendiesem sein könne. Nach Taylor ist Glaube ja auch für das (verallgemeinerte) mittelalterliche Denksystem keine Option, da es nur Glaube geben kann, wo man sich auch für dessen Gegenteil entscheiden kann. Diese Entscheidungsleistung als Definiens ist (genauso wie das Subjektivistische, das nur ein ‚Ich glaube‘ kennen kann) mit einem delegierten ‚Glauben der Anderen‘ nicht vereinbar.

Schoberts Beitrag stagniert jedoch nicht im Widerspruch, sondern weist auch das Potenzial auf, welches das Interpassivitätstheorem haben könnte, wenn das Konzept des Delegierens es nicht verschleiern würde: Inter-Passivität als Bezeichnung eines ‚Dazwischen‘ von Aktivität und Passivität könnte eine produktive Denkgröße zur Vermittlung der „Zwei Glaubensweisen“ Martin Bubers sein, dem – vereinfacht ausgedrückt – Vertrauen (passiv) und der Anerkennung (aktiv). Schoberts Beitrag ist sowohl aufgrund des Engagements wie der Ausgewogenheit seiner Kritik äußerst wichtig für den Band. Denn er schafft einerseits Widerstand, schwächt aber andererseits keine der Thesen der vorigen Importe und Anwendungen.

Ausgehend von diesen Beiträgen ist Interpassives Mittelalter? ein gelungener Band mit viel Mut zum Experiment und einem hohen Grad an disziplinärer Selbstreflexion – welche sich nicht zuletzt auch darin zeigt, dass das Fragezeichen am Titel stehen bleibt. Hier ist noch nicht mal (im besten interpassiven Sinne) stellvertretend für Irgendwen das letzte Wort gesprochen – zum Glück.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Silvan Wagner (Hg.): Interpassives Mittelalter? Interpassivität in mediävistischer Diskussion.
Bayreuther Beitraege Zur Literaturwissenschaft.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2015.
315 Seiten, 61,00 EUR.
ISBN-13: 9783631662250

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