Für Jürg Laederach

Eine nachträgliche Rede zu seinem 70. Geburtstag

Von Friederike KretzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friederike Kretzen

Laederach ist noch keiner auf die Schliche gekommen. Er ist einfach zu viele. Was ich darum hier auch gar nicht erst versuchen möchte.

Für alle anderen Arten von Geschichten hingegen eignet er sich immer. Beispielsweise für solche, die anfangen wie: Laederach und die Toaster. Er hatte einen hohen Umsatz an Toastern, immer die neuesten Modelle. Sie konnten toasten, kochen, braten, überbacken. Seine Kochkunst bestach durch reines toasten. Einmal kam dabei die Decke runter und zertrümmerte den Toaster, ein anderes Mal, mit einem anderen Toaster, fing eben jener Feuer und die Küche dann auch. Woraufhin Laederach schrieb „Leichen ausgraben: Burgwegs Küche brannte am 6. Februar ab.“

Oder die Geschichten von Laederach und den Mails. „Moorleiche entdeckt. So qualvoll starben die irischen Könige“, so die Überschrift eines mitgeschickten Zeitungsberichts, was die eine Art von Mail ist, die er gerne verschickt, wozu auch Witze gehören. Mann beim Arzt. Nach langer Untersuchung sagt der Arzt: Ich habe zwei Nachrichten für sie. Die gute zuerst: Sie sind kein Hypochonder.

Die andere Sorte von Mails geht wie folgt: „Wahr! In meiner Nähe ist eine kleine schicke Papeterie mit netter blonder Verkäuferin und schönen englischen Briefumschlägen. Vor drei Tagen plötzlich Feuerwehr, Sanität, Polizei vor dem Laden. Die Verkäuferin hatte sich falsch auf den Warenlift in den Keller gestellt und wurde vom fahrenden Lift geköpft. Guten Tag. J“. Er schrieb zwar wahr!, was mich misstrauisch machte, aber dennoch glaubte ich ihm sofort. Ich kannte die Frau, jetzt war sie tot, wie grässlich. Diese Neuigkeit erzählte ich natürlich allen, die die Frau auch kannten. Bis mir eines Tages jemand beinahe enttäuscht sagte, er sei von ihr bedient worden, sie sei gar nicht tot.

Gerne würde ich auch etwas zu der Geschichte von Laederach und den Tigerknöpfen seiner dicken Plüschmäntel sagen, die aussahen, als wäre er der Sohn eines Grafen, dessen Kleider er aufträgt. Die Mäntel selbst hingen ein bisschen vage an ihm dran, doch die goldenen Knöpfe mit Tigerköpfen hielten der Lockerheit, mit der Laederach seine Kleidung trägt, entschlossen stand. Denn ein Tiger frisst niemals Gras, wie die Inder wissen.

Oder ich könnte von seiner Liebe zu Kopien erzählen. Hier nun allerdings von Anfang an. Wie ich ihn kennenlernte. Herbst 1982 auf der Frankfurter Buchmesse. Mein damaliger Freund Andres Müry kannte ihn und zwei Tage später bekam ich an die Adresse von Müry meinen ersten Brief von Laederach geschickt. Der erste von diesen phantastischen Sendungen, für die wir hier ihn alle lieben, – sie sind sozusagen die Früchte unserer Liebe, wie er sie uns in Form der Briefe, denen oft CDs, Texte, Bücher beigelegt waren, beantwortete.

Sein erster Brief machte mich sprachlos. Ein Din A4-Blatt mit etwa fünfzig kopierten Automatenpassfotos von ihm. (Damals kamen gerade Kopierer auf und er – klar – hatte schon einen.)

Rechts in der Ecke ganz klein in seiner schnellen, getarnten Schrift das einzige Wort des Briefs: sein Name.

So lernte ich die Laederach-Sprache kennen, die auf Anhieb alles auf den Kopf stellt, demontiert, durch einfachen Gegenzauber für ein bisschen Klarheit in unserer abgetakelten, durchgedrehten Welt sorgt.

Im nächsten Brief schon lud er mich dann ein, nach Basel zu kommen. So bin ich mit allerhand Verwicklungen, ganz wie es zu Laederachs Art gehört, in die Schweiz geraten und geblieben. Sozusagen durch das Laederachsche Nadelöhr.

Bevor ich Laederach kennenlernte, kannte ich noch zwei andere Schweizer. Der eine spielte in Köln den Banco in Bondys Macbeth-Inszenierung, der andere war Andres Müry, Dramaturg bei Jürgen Gosch am gleichen Theater. Beide schon so lange in Deutschland, dass sie mir als Schweizer nicht besonders kenntlich waren. Lange Zeit habe ich also ohne jeden Begriff oder Vorstellung, was die Schweiz und das Schweizerische wären, verbracht. Ich fuhr auch nicht hin, nur einmal auf dem Weg nach Italien durch. Zusammen mit zwei Freunden übernachteten wir in einer Wohngemeinschaft am Rand von Luzern, wo uns am Morgen – wir wollten früh weiter, sassen in der Küche, tranken Kaffee, als die Türe aufging, – eine junge, nackte Frau erschien. Sie grüsste freundlich und liess sich nicht weiter stören. Zog sich einen Stuhl vor den Küchenschrank, kletterte hinauf, streckte sich auf die Zehenspitzen, wühlte oben auf dem Schrank herum, bis sie gefunden hatte, was sie suchte, kletterte wieder herunter, nickte uns nochmals zu und verschwand. Niemand von uns wagte etwas zu sagen, fluchtartig fuhren wir weiter. Auch Wochen später wussten wir nicht, ob wir diese Szene in der Küche einer Wohngemeinschaft wirklich erlebt hatten. Die uns seitdem als Wunder von Luzern galt. Und nun also Laederach. Der zweite wirkliche Schweizer neben der Nackten und ich hielt ihn, so irrsinnig das klingen mag, für den typischen Schweizer.

Ein wunderbares Dafürhalten, über das ich mich noch heute freue. Denn wie auch immer, im Grunde ihrer schweren, düsteren Herzen sind die Schweizer Anarchisten. Das weiss ich durch Laederach, verdanke es seinen Kunststücken, seiner Meisterschaft im Ungeschickten und wie mir seine Texte mit seiner Person als Gesamtzauberkunststück zusammenwirken.

Denn in Wirklichkeit ist Laederach Medizinmann. Keiner hat wie er Körper und Körperzustände dermassen virtuos zerstückeln können, so dass sie sich anders, ein bisschen heiler, auch geistreicher wieder zusammenfügen. Was so weit geht, dass es gewisse Texte von ihm gibt, die ich nicht wage, laut vor anderen vorzulesen, sonst, so meine Furcht, könnte jemand meinen, ich würde mich über ihn, den Autor, die Person Laederach, seine lange schwere Krankheit lustig machen. Obwohl doch er den Text geschrieben hat.

So schonungslos schreibt er von Wahn und Wirklichkeit, Figur und Autor und bringt mit der Sprache auch die Körper zum Delirieren. Dabei geraten wir auf phantastische, verwirrte, auch abbrechende Bahnen, – was als Arbeit selbstheilender Kräfte bezeichnet werden kann, ihres entbundenen Irrsinns, ihrer Verdrehtheiten, ihres Eigenwillens, und ihrer dabei sich ereignenden, ganz laederachschen Form von Schönheit.

Wodurch er uns genauer davon berichten kann, wie verrückt beispielsweise die Welt, die Lehrerin, das Tellergesicht, die Negerin, Hirse, der Bröckelhund und Dummweg, das Hermelin sich anstellen. Seine Figuren – das macht sie gross, – bestehen auf ihrer Ungeschicktheit, sie wollen ihr Nicht-Können haben, sie sind ihr Nichtkönnen, dort finden sie ihre stille Radikalität und Komik.

Und Laederach? Ich möchte ihn einfach dazu zählen, auch er einer von ihnen, in bester Gesellschaft, sich selbst mit ihnen Gesellschaft leistend, seine heimsuchenden Gesellen, die irre Schar der komischen Vögel.

Jeder gute Medizinmann behandelt sich zunächst einmal selbst, wird also auch als erster einmal krank, um uns von diesem Zustand her etwas vom Gesundwerden, vom Heilen als einer Art ausgedehntem Grenzgang der Sprache mitteilen zu können. Das ist eine Frage der Ästhetik, für die es, wie Deleuze es nennt, „eine kleine robuste Gesundheit“ braucht.

Weißt du, sagte Laederach mir eines Tages am Telefon, ich sehe aussen anders aus als innen. Das war vor ein paar Jahren. Noch ein paar Jahre vorher sagte er mir unter vier Augen, der Körper nämlich neige dazu, von sich aus zu heilen. Die Medizin baue auf diese Kraft, sonst sei sie sowieso verloren. Das sind Laederachs Grundsätze vom Grund. Michaux sagt dazu: „Eines Tages wird man vielleicht wissen, dass es keine Kunst, sondern nur Medizin gab.“

Wo Laederach auftritt, entsteht sofort ein Sog. Er erzeugt eine Leere, in der dann Anziehungskräfte zur Wirkung kommen. Sogar seine ihn operierenden Ärzte lieben ihn, die Sogwirkung scheint jede Narkose zu übersteuern.

Im letzten Frühling traf ich ihn im Café Schiesser. Er sprach mir von den immer hungrigen Bären, also den strukturell hungrigen. Denn Bären fressen nur Pflanzen, Wurzeln, Beeren, ab und zu mal einen Fisch, müssen sich in der kurzen Zeit, in der sie nicht schlafen, den Vorrat anfressen, der sie durch den Winter bringt. Er schilderte mir die Bären so eindringlich, dass ich sie förmlich vor mir sah, wie sie hungerten, wie sie durch die Wälder liefen, irgendwie gottverlassen, einem Auftrag anheimgegeben, der sie dazu verpflichtete, immer mehr essen zu müssen als sie gerade brauchten und darum immer hungrig zu bleiben. Sie mussten ja einfach für zwei Fressen, den Bären jetzt und den im Winter, in seinem niederfrequenten Herzschlagschlaf. War das nicht tragisch, war das nicht die Fessel ihres doch so starken, einsamen, grossen Lebens, verurteilt zum ewigen Hunger? Sie konnten fressen, so viel sie wollten, der Winter würde bald kommen und schon war da wieder der Hunger, der sie, auf der Jagd nach Fressen, durch die Wälder trieb. Es hätte nicht viel gefehlt, und wir hätten beide über das harte Leben der Bären zu weinen angefangen. Das alles aus Vorsorge für den bald wieder anstehenden Winter, den langen Schlaf und nie würden sie den Eindruck der immer gefrässigen wilden Tiere, die sie doch nur waren, weil sie so viel schlafen mussten und während sie schliefen, nur das hatten, was sie sich vorher angefressen hatten, ändern können. Im Grunde assen sie nie mehr als andere Tiere, nur in kürzerer Zeit. Konnten sie je satt werden? Während er mir erzählte, ass er Torte, dann noch einen Eiscafé und wurde nur immer hungriger. Die anderen Gäste schauten verstohlen zu uns rüber, drehten sich schnell weg. Die Kellnerinnen kamen besorgt angelaufen, gingen wieder. Laederach erzählte weiter. Nun von den Wölfen, gegen die es keine Hilfe gibt. Sie sind einfach stärker, immer im Rudel. Einer tot? Macht nichts, sofort ist ein anderer Wolf da. Genaue Choreographie des Angriffs, immer mehrere, können von sich als einzelnem Wolf absehen. Haben Zeit, lassen sich Zeit, können warten. Erlegen auch Bären, die immer allein sind. Der Wolf immer viele. Gibt zusammen? Sieben Leben.

Die Szene im Café war gleich nach seinen ersten Sätzen gekippt. Aber Laederach war unbezwingbar, jedenfalls von keiner Besatzung eines Cafés. Er war das Rudel phantastischer Wölfe, die wie vorher die Bären um unseren Tisch herumliefen, aber nichts gegen uns ausrichten konnten, wir kannten sie, wir kannten ihre Fähigkeit viele zu sein, zu warten, Hunger zu haben, das konnten wir an diesem Nachmittag auch.

Die Rede wurde im Januar 2016 anlässlich des 70. Geburtstags von Jürg Laederach am 20. Dezember 2015 gehalten.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen