Wo Realität und Fiktion verschwimmen

Paul Gauguins Künstlererzählung „Noa Noa“ in einer neuen, erweiterten Ausgabe

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Hina Tefatu (Der Mond und die Erde)“ (1893) heißt ein Gemälde von Paul Gauguin: Eine junge Maori als  Rückenakt, Hina, die Mondgöttin verkörpernd, im Zwiegespräch mit einem überlebensgroßen männlichem Haupt – es ist ihr Sohn Fatu, der Gott der Erde. Hina fleht ihn an, den Menschen Unsterblichkeit zu verleihen. Doch Fatu besteht darauf, dass die Erde, die Vegetation und auch die Menschen sterben müssen. Die Geschichte von Hina und Fatu  hat Gauguin auch einer seiner Skulpturen, die er aus Baumstämmen schnitzte, oder auch dem Holzschnitt „Te atua (Die Götter)“ der Suite „Noa Noa“ von 1893/94 zugrunde gelegt. Vor allem aber knüpft an den Titel Gauguins Künstlererzählung „Noa Noa“ an: „Es sprach der Mond zur Erde“ (mit der Übersetzung ins Deutsche hat hier eine Umkehrung der Geschlechter stattgefunden). Sie ist in Form eines halb erfundenen, halb den tatsächlichen Ereignissen entsprechenden Tagebuches abgefasst. Ihr Titel „Noa Noa“ bedeutet „Wohlgeruch“ und spielt auf die Düfte Tahitis an.

Wie beschrieb Gauguin die ungewohnte Landschaft Tahitis mit ihrem gleißenden Licht und den Farben in „Noa Noa“? „Die ganze Landschaft machte mich blind, blendete mich“. Das helle Licht des Südens war für europäische Künstler kaum zu fassen. Gauguins Empfindung, visuell „geblendet“ zu sein, steht auch in Beziehung zu der tieferen Erfahrung und Erkenntnis, mit einer Kultur konfrontiert zu sein, in der er bei aller Anpassung doch immer nur ein Außenseiter sein konnte. Das manifestierte sich in seiner Malerei wie in seinen Erzählungen durch eine ungelöste Spannung zwischen den Fakten, die sein Auge wahrnahm, und den Bedeutungen, die er auf sie projizierte.

Gauguin wollte tatsächlich eine Art Paradies heraufbeschwören. Und er war der Ansicht, dass solch ein Paradies wirklich einmal existiert hatte, dass es jedoch durch die westliche Zivilisation zerstört worden und nur noch als ein Schatten in sehr primitiven Gesellschaften aufzuspüren sei. Hier allerdings wird es besonders schwer, den Künstler Gauguin aus den Legenden herauszulösen, die sich um ihn gebildet haben. Denn der Künstler gab tatsächlich seine Laufbahn als Börsenmakler in Paris auf  und ging nach Übersee, um ein primitives Leben auf den Pazifischen Inseln zu führen. Darüber hinaus förderte er seine eigenen Legenden noch, indem er idyllische Berichte über dieses Leben schrieb (so in „Noa Noa“, seinem weitgehend fiktionalen Bericht über die zwei Jahre seines ersten Aufenthalts in der Südsee). Wir wissen aber aus seinen Briefen, dass sein Leben dort keineswegs so ablief, wie er es in seinen Bildern und Erzählungen dargestellt hat.

Das sich aus vielerlei Quellen zusammensetzende Traumgebilde des Paradieses auf Tahiti hatte bei Gauguin schon mit der Ankunft in der Insel-Hauptstadt Papeete im Juni 1891 einen Schock der Enttäuschung ausgelöst, denn die französische Kolonialmacht hatte hier Schritt für Schritt die alten Zustände, Lebensweisen und Bräuche verschwinden lassen. Doch er schwärmte weiter von Tahiti und seinen Menschen und mischte in seine Beobachtungen die Topoi der paradiesischen Verhältnisse auf der Insel. Aber wer sollte ihm noch Auskunft geben können über die alten Zeiten Polynesiens, die vergangenen Bräuche und Traditionen, Legenden  und Mythen? In „Noa Noa“ konnte er wenigstens noch von einer Begegnung mit der Witwe des verstorbenen Königs, Joann Marau, berichten, und sein Co-Autor Charles Morice versuchte das Defizit durch eine erfundene Szene mit einer Prinzessin auszugleichen. So legte Gauguin die Mythen Tahitis seiner späteren Geliebten, Tehamana – sie heißt hier Tehura, das ist die Koseform von Tehamana (in der Rohfassung von „Noa Noa“ ist aber ihr richtiger Name genannt) – in den Mund. Sie liegt nachts in seinen Armen und führt, ungewöhnlich für ein etwa 13-jähriges Mädchen, kluge Gespräche. Und obwohl er immer heftiger an Krankheiten, wohl der Syphilis, litt, stellte er in „Noa Noa“ sein Leben als paradiesisch erfüllt dar. Er orientierte sich an dem 1880 veröffentlichten Tahiti-Roman des französischen Schriftstellers Pierre Loti, „Le Mariage de Loti“, und übernahm daraus Begebenheiten und Motive, die er selbst nicht mehr erlebt haben konnte.

Die Tahitianer warnen Gauguin vor den Tupapaú, den Geistern der Toten, die Schrecken verbreiten und vor denen sich auch Tehamana fürchtet. Dazu gibt es ein Gemälde mit dem Titel „Manao tupapau (Der Geist der Toten wacht)“ (1892): Tehamana liegt angstzitternd bäuchlings auf ihrem Lager, hinter ihr eine Schattengestalt, der Geist der Toten. Diese Begebenheit beschreibt Gauguin in „Noa Noa“ so:

Schnell zündete ich ein Streichholz an und sah – Tehura reglos, nackt, platt hingestreckt auf dem Bett, die Augen vor Angst übermäßig weit geöffnet. Sie sah mich an und schien mich nicht zu erkennen. Ich selber blieb einige Augenblicke in seltsamer Ungewissheit stehen […]. Niemals hatte ich sie so schön, von so rührender Schönheit gesehen. […] Wusste ich denn, was ich in diesem Augenblick für sie war? Ob sie mich mit meinem entsetzten Gesicht nicht für einen Dämon oder Geist, einen der Tupapaus hielt, die ihren Sagen nach in schlaflosen Nächten erscheinen?

Tehamana quält die Eifersucht und sie verdächtigt ihren Liebhaber, den Erzähler von „Noa Noa“, sich mit anderen Frauen zu treffen. Gauguins Bild „Aha oe feii? (Wie? Du bist eifersüchtig?)“ von 1892  könnte genau diese Situation treffen. Aber auch auf die Mythen und Riten des Ethnologen Jacques-Antoine Moerenhout in dessen  Buch „Voyages aux iles du grand océan“ (1837) hat Gauguin zurückgegriffen und ließ Tehamana ganze mythologische Texte sprechen, obwohl das eigentlich nur Priester durften.

Gauguins Autobiografie ist offensichtlich nur in wenigen Teilen ein verlässliches Dokument seines realen Lebens auf Tahiti. Er erfand oder zitierte hier Geschichten um seiner Gemälde willen. Häufig beziehen sich die Erzählungen auf bestimmte Bilder, deren fremde tahitianische Titel  durch die Episoden im Tagebuch erläutert werden. Dank der sehr persönlich gehaltenen Erzählweise lässt Gauguin seine Bilder als Ergebnisse seines Erlebens erscheinen, und umgekehrt hatten die Bilder sein tahitianisches Leben als ein außergewöhnliches exotisches Dasein hervorzuheben. Realität und Fiktion gehen vollständig ineinander über. Die beobachtete tahitianische Wirklichkeit verknüpfte er mit Motiven der Literatur und mit Quellen der Kulturgeschichte; zur Veranschaulichung dieser collagierten Tahitibilder zog er eine Fülle von Zitaten aus dem reichen Fundus der Weltkunst heran.

Gauguins „vahine“ oder Gefährtin Tehamana sind die schönsten Seiten in „Noa Noa“ gewidmet. Vorher war er mit Titi, einer schon ans europäische Milieu angepassten Polynesierin, zusammen gewesen. Aber der Einzug dieses jungen einheimischen Mädchens in sein Haus erfüllte ihn mit neuer Hoffnung und inspirierte ihn zu einer Anzahl hervorragender Bilder. Tehamana erscheint in der Szene von Evas Versuchung durch die Schlange in „Parau na te varua ino  (Worte des bösen Geistes)“, wohl aber auch in „Te nave nave fenua (Das herrliche Land)“ (beide 1892). In letzterem Gemälde greift eine tahitianische Eva nach einer pfauenfederartigen Blume, eine tahitianische Version der biblischen Frucht, während ihr eine rot-geflügelte Eidechse – statt einer Schlange – Worte der Versuchung ins Ohr flüstert. Ob „E haere oe i hia (Wohin gehst Du?)“ (1892) oder „Tahitianerin mit Frucht“ (1893) wirklich Tehamana darstellen, bleibt umstritten. Aber die Frage „Wohin gehst du?“ gibt nicht nur den Gemälden, sondern auch den „Noa Noa“-Erzählungen einen direkten Sinn: Sie haben mit dem naiven Traum vom Südseeparadies begonnen und enden mit einer tiefsinnigen Betrachtung über das Leben.

Als Gauguin im August 1893 von der Südsee nach Paris zurückgekehrt war, plante er, ein Buch über das Leben der Eingeborenen – eben „Noa Noa“ – zu schreiben und es mit seinen Südseebildern zu illustrieren. Er konnte seinen Freund, den symbolistischen Dichter Charles Morice dafür gewinnen, anhand seiner Aufzeichnungen einen Text zu „Noa Noa“ zu verfassen. Mit „Noa Noa“ wollte Gauguin die Faszination für die Exotik und den Symbolismus der polynesischen Kultur dem französischen Publikum vermitteln. Vor allem aber sollte das Buch die Werke, die er aus Tahiti nach Paris mitgebracht hatte, verständlich machen. Diese Gemälde, auch die ersten „Noa Noa“-Holzschnitte, konnte er noch 1893 in der Pariser Galerie Durand-Ruel ausstellen – finanziell erwies sich die Ausstellung aber als Misserfolg. Allein seine Freunde aus dem Kreis der Symbolisten zeigten Bewunderung für seine neuen Arbeiten. Auch das gemeinsam mit Morice geplante Buch-Projekt verzögerte sich; es war noch immer nicht vollendet, als der Künstler im Juli 1895 wieder nach Tahiti zurückkehrte.

Als 1897 die ersten zwei Folgen des in Zusammenarbeit mit Morice entstandenen dichterischen Berichts „Noa Noa“ in der „Revue blanche“ erschienen, ergänzte Gauguin noch  das Manuskript. 1901 – zwei Jahre vor Gauguins Tod in Atuona auf der Insel Hiva Oa der Marquesas-Inseln – brachte Morice die erste Buchausgabe heraus, allerdings mit erheblichen Kürzungen und eigenwilligen Veränderungen. 100 Exemplare wollte er Gauguin zugeschickt haben, die dieser aber nie erhalten hat. Als  „endgültige“ Fassung bezeichnete sich dann zwar 1924  eine Pariser Ausgabe, doch schon 1908 war im Verlag von Bruno Cassirer in Berlin die erste deutsche Fassung (unter Verzicht der Beiträge von Morice) in der Übersetzung von Luise Wolf  erschienen. Sie fand gerade bei den deutschen Expressionisten lebhaften Widerhall. Doch die eigentliche „Original“-Fassung des Künstlerbuches wurde dann erst 1926 – mit Gauguins eigenen Bildern – in Berlin zum Druck befördert.

Die jetzt erschienene Neuausgabe von „Noa Noa“ ergänzt die erste deutsche Übersetzung von Luise Wolf  um wesentliche Aufzeichnungen Gauguins (Auszüge aus „Vorher und Nachher“, übersetzt von Erik Ernst Schwabach; Aufsätze, Briefe und Interviews, neu übersetzt von Doris Heinemann), in denen er sich zur Südsee und seiner Kunst äußert. Vor allem aber haben wir es hier mit dem bisher umfangreichsten Bildteil zu tun, der einer „Noa Noa“-Ausgabe beigegeben wurde: Gemälde, Holzschnitte aus der Suite „Noa Noa“, Manuskriptseiten mit Zeichnungen und Bildskizzen, Umschlagsillustrationen, auch Fotografien und geografisches Kartenmaterial – meist im Kleinformat, aber durchaus gut erkennbar. Ausführliche  Anmerkungen und ein kenntnisreiches Nachwort des Literaturwissenschaftlers Markus Bernauer erschließen „Noa Noa“ – diese Quintessenz von Gauguins persönlichem Tahiti-Mythos – und dessen literatur-, kunst- und kulturgeschichtlichen Kontext.

Was immer Gauguin in „Noa Noa“ entliehen, zitiert oder erfunden hat – er hat Tahiti und dem vielgerühmten Paradies erst ein Gesicht gegeben. Und dieses collagierte Künstlerbuch, in dem Text und Bild ineinander übergehen und sich ergänzen, ist zu einem „Klassiker“ der Moderne geworden.

Titelbild

Paul Gauguin: Es sprach der Mond zur Erde. Noa Noa – Erzählungen und Briefe aus der Südsee.
Herausgegeben von Markus Bernauer.
Ripperger & Kremers Verlag, Berlin 2015.
256 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783943999242

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