Engagierte Literatur im Angesicht der Katastrophe

Ryo Kikuchi dichtet in seinem Debüt „Schlechte Zeit für Haiku“ fünf Jahre nach Fukushima über die Schuld des Schweigens und die Notwendigkeit des Erinnerns

Von Martin ThomasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Thomas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang des Werkes „Schlechte Zeit für Haiku“ von Ryo Kikuchi steht ein großes „Ungeheuer“. Es trägt den Namen Radioaktivität – entfesselt durch die Wasserstoffexplosion, die sich in Reaktorgebäude 1 des Kernkraftwerkkomplexes Fukushima Daiichi vor nunmehr fünf Jahren ereignete und unzählige Menschen sprachlos vor den TV-Bildschirmen zurückließ. Seither ist es der japanischen Bevölkerung nicht mehr von der Seite gewichen und auch dem Leser der vorliegenden Gedichtsammlung wird es diesen Gefallen keineswegs tun. Im Gegenteil: Es kommt Vers für Vers näher, flüstert von hinten ins Ohr und greift frontal an, wenn auch auf die in hiesigen Gefilden bestehenden Risiken der Atomenergie verwiesen wird.

Insgesamt besteht das zweisprachig gehaltene Debüt des 1979 in Tokio geborenen Autors aus 88 kürzeren Texten, die durchgängig in freien Versen geschrieben sind, wobei die deutsche Variante der japanischen zeitlich vorausgegangen ist. Mit der im Titel benannten Haiku-Dichtung haben die Texte selbst jedoch nur wenig gemein, was nicht sonderlich verwundert, da der Autor das Ableben der Gattung eindrucksvoll in einem seiner Gedichte inszeniert: „Das Haiku ist tot! / Das Haiku ist tot! / Wir haben es getötet – ihr und ich!“ Seine durchaus provokante These: Mit der Atomkatastrophe von Fukushima habe der „nukleare Winter“ Einzug gehalten; die für die traditionelle Haiku-Dichtung als notwendig erachteten Jahreszeiten existierten nicht mehr.

Den eigentlichen Auftakt der Sammlung bildet eine vierteilige Sequenz, die als „Vorspiel“ bezeichnet wird. In dieser klug konzipierten Hinführung, in der uns das eingangs beschriebene Ungeheuer zum ersten Mal begegnet, wird das Anliegen des Autors konkret formuliert: Er möchte den Leser zu einer symbolischen „Trauerfeier“ in seinen „Schreibergarten“ einladen. Kritisch geht er dabei gleich zu Beginn mit sich selbst ins Gericht, indem er notiert: „Mit der Fremdsprache / Gerüstet / Bin ich fremd / In der Fremde / Geschützt / Vor der Strahlung“. Dieses selbstreflexive Moment, das auch vor der Frage nach der eigenen Schuld an der nuklearen Katastrophe nicht zurückschreckt und die Anthologie davor bewahrt, in einen belehrenden Ton zu verfallen, ist gleichzeitig eine der Stärken Kikuchis. Immer wieder ist daher von „wir“ die Rede, wenn es in Gedichten wie „Totentanz“ heißt: „Wir haben nicht aufgehört / Zu tanzen / Als unsere Nachbarn schrien / Weil die Musik noch spielte“.

Die folgenden Abschnitte widmen sich dann, im Hinblick auf das vom Autor in einem Interview formulierte Darstellungsziel des „Untergangs einer Welt“, jeweils einer der vier Jahreszeiten. Damit wird nicht nur erneut Bezug auf die These vom „Tod des Haiku“ genommen, auch das Konzept des gesamten Werkes kann anhand dieser Kategorisierung nachvollzogen werden. So begeben wir uns gemeinsam mit dem Autor auf eine Reise, begonnen beim schuldhaften Frühling über den verheerenden Sommer und verseuchten Herbst hin zum ewigen Winter. Ihre volle Wirkung entfalten die Texte daher nur in ihrer konkreten Abfolge, sodass in verhaltenem Ton von einer gut durchstrukturierten Gesamtkomposition gesprochen werden kann.

Blicken wir ins Detail, so begegnet uns im „Frühling“ neben einer Kritik der modernen Konsumgesellschaft („Das Kaufhaus“) und dem Hinweis auf die immer drastischer werdenden sozialen Ungleichheiten („Entmythologisierung des Menschen“) insbesondere der Vorwurf der Arglosigkeit in Anbetracht der Katastrophe. Dieser wird neben der bürgerlichen Gesellschaft, die sich durch Spaß und Spielerei von der Realität ablenken lässt, konkret auch an Politik, Wirtschaft und Medien gerichtet. Im Gegensatz dazu erwartet den Leser im „Sommer“ eine wahre Feuersbrunst, die eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellt. Die Opfer der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki, die zu Beginn dieses Abschnitts im Zentrum der Gedichte stehen, scheinen allmählich mit denen der Atomkatastrophe von Fukushima eins zu werden, womit auf die paradoxe Rolle Japans als „Opfer des Atomaren“ angespielt wird. Tod, Zerstörung und Leid sind hierbei die gängigen Motive, die ohne jegliche Beschönigung dargestellt werden: „Meine brennende Mutter / Riecht wie das Fleisch / Das sie gestern für uns / Gegrillt hat“.

Bevor im letzten Abschnitt des Hauptteils der bereits erwähnte „atomare Winter“ beginnt, wird im „Herbst“ das Augenmerk auf die Folgen der nuklearen Katastrophe gerichtet. Hierbei steht die Verseuchung der Umwelt im Mittelpunkt der Texte, die anhand der Auswirkungen auf Flora und Fauna („Die Erntezeit“) thematisiert wird. Unser Ungeheuer, das wir zu Beginn der Sammlung trafen, ist nunmehr zur „ewigen Beilage“ geworden, die Wasser, Luft und Erde befallen hat. Der sich anschließende „Winter“ hält bis auf die Selbstreflexionen „Ein Romantiker im Winter“ und „Ein Dichter im Winter“ wenig Ansprechendes parat und ist genauso trist wie die übrigen Texte dieses Teils, der vor ewig grauen Metaphern überzuquellen scheint. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Autor diese Wirkung wohl beabsichtigt hat, wird der ein oder andere ihn wahrscheinlich dennoch als eine stimmige Ergänzung des Gesamtbildes empfinden.

Stilistisch bewegt sich Kikuchi durchaus auf ansprechendem Niveau, wobei einiges negativ ins Auge sticht. So sind Titel wie „Reflexion über die Geschichte der Philosophie“ recht erhaben gewählt, versprechen jedoch mehr als der zugehörige Text letztendlich bietet. Auch die zahlreich benannten Anlehnungen an Werke von Persönlichkeiten wie Friedrich Nietzsche, Immanuel Kant und George Berkeley wirken eher gezwungen und wie ein Mittel zur eigenen Profilierung. Hier hätte der Autor entweder selbst kreativ werden oder die Entschlüsselung entsprechender Stellen dem Leser überlassen sollen. Gegenteilig wäre eine größere Anzahl von Parodien, wie man sie in der Frühlingsvariante des periodisch wiederkehrenden Gedichtes „Schlechte Zeit für Haiku“ findet, wünschenswert gewesen. In diesem gibt Kikuchi einem bekannten Haiku des Poeten Matsuo Bashō (1644–1694) ein neues Gewand, ohne in eine plumpe Nacherzählung zu verfallen. Nach einer lyrischen Einleitung heißt es: „In den alten Teich / Springt der Frosch / Ohne Zuhörer“.

Generell ist ein großes Gefälle innerhalb der Texte spürbar. So wirken Fachbegriffe und antiquierte Ausdrücke wie „Miasma“, „Solipsist“, „moribund“ und „assortiert“ schon beinahe komisch gegenüber der zum Teil betriebenen Kinderpoesie à la „Doch leider ist Winter / Darum schlafe ich lieber / Es ist kalt und dunkel / Weil die Sonne fort ist“. Auch nichtssagende Texte wie „O weh!“, der aus der mehrmaligen Wiederholung desselben Ausrufs besteht, hätten zugunsten eines stimmigeren Gesamtbildes gestrichen werden sollen. Womöglich wollte man den Band aus redaktioneller Sicht jedoch nicht noch weiter schmälern und blieb daher bei der starren Einteilung von jeweils vier Gedichten für „Vorspiel“ und „Schluss“ sowie jeweils 20 Gedichten für die Beiträge zu den einzelnen Jahreszeiten.

Weitere Aspekte, die auffallen, sind der apokalyptische Grundton, die zahlreichen Bibelverweise sowie die gelegentlich zum Einsatz kommende Erlösungsmethaphorik. Gedichte wie „Durchdringend“, die prinzipiell auch in verschlüsselter Weise auf unser Ungeheuer anspielen, sollte man wohl eher als religiöse Aphorismen bezeichnen, die nur im entferntesten Sinn an Haiku erinnern: „Nichts ist gut / Was durchdringend ist / Außer Gottes Liebe“. Solche Zeilen sind wie diejenigen, die die benannten Personenverweise oder fachsprachliches Vokabular enthalten, mit großer Wahrscheinlichkeit auf die Biografie des Autors zurückzuführen, der neben Philosophie in Stanford auch Caritaswissenschaften in Freiburg studierte. Die Kritik richtet sich hierbei jedoch auch gar nicht an das Vorhandensein der benannten Elemente, dies sei dem Autor überlassen, sondern ereilt die zahllosen Wiederholungen ähnlicher Motive, Formulierungen und Bilder, die nach einigen Seiten, vor allem gegen Ende des Bandes, eine gewisse Langeweile erzeugen. Auch hier wäre mehr Abwechslung oder eine konzisere Fassung der Sammlung wünschenswert gewesen, sodass man zu dem Fazit kommt, dass der Autor sich für sein Erstlingswerk noch etwas mehr Zeit hätte lassen sollen, was mit dem symbolträchtig gewählten Erscheinungsdatum des 11. März wohl jedoch nicht vereinbar gewesen wäre, hätte man nicht ein weiteres Jahr warten wollen.

Der größte Schwachpunkt der Sammlung ist neben diesen kleineren, lyrischen Schwächen, über die sich bekanntlich streiten lässt, jedoch unweigerlich das Vorwort des Herausgebers Jürgen Buchmann. Zwar beinhaltet es zahlreiche nützliche Informationen, die es dem Leser erleichtern, das Werk in seinem gesellschaftlichen und politischen Kontext zu verorten, doch ruft der weiheähnliche Tenor eher Unmut hervor. Nicht nur, dass der Herausgeber dem Leser noch vor der eigentlichen Lektüre des Werkes das Werturteil abnimmt, indem er diktiert, er müsse es eher politisch denn poetisch rezipieren, auch die Behauptung, dass sich nach Fukushima ein pauschalisiertes Schweigen verbreitet hat, ist schlichtweg falsch, zeugt von Unkenntnis der gegenwärtigen japanischen Literatur und ist überdies Schmähung und Missachtung all jener Autoren, die sich seit Anbeginn der Katastrophe in ihren Werken engagieren.

So mag ein getroffener Vergleich der Gedichte Kikuchis mit den Werken des niederländischen Malers Hieronymus Bosch (1450–1516) zwar durchaus treffend sein, da Ähnlichkeiten in der kryptischen Darstellungsweise nicht zu leugnen sind, doch wirkt die Bezugnahme zu Theodor W. Adornos berühmtem „Auschwitz-Zitat“ an dieser Stelle mehr als abgedroschen. So besonders sind Kikuchis Verse am Ende nämlich nicht, abgesehen von der Tatsache, dass hier ein lyrischer Band auf Deutsch vorliegt, der sich explizit mit der Dreifachkatastrophe von Fukushima auseinandersetzt. Der Japanisch sprechende Leser hat jedenfalls genug andere Alternativen zur Auswahl und selbst auf Deutsch sind bereits zahlreiche für sich stehende Werke erschienen.

Auch die Behauptung, dass Haiku nur eine Gattung sei, die den „Einklang mit der Natur“ beschwöre, bedient Vorurteile, die seit mehreren Jahrzehnten keine Gültigkeit mehr besitzen. Der provokative Titel „Schlechte Zeit für Haiku“, der sicher den ein oder anderen Leser unabsichtlich in die Arme des Buches treibt, da er womöglich selbige Gattung zum Inhalt erwartet, sollte daher mit Blick auf die Realität eindeutig negiert werden. Das subversive Potenzial, das gerade auch in den klassischen Vertretern der mittlerweile modernisierten Form steckt, wird vom Herausgeber, genauso wie vom Autor, verkannt. Möchte man böse sein, könnte man mit einem Blick auf die aktuelle japanische und deutsche Haikulandschaft daher behaupten, dass es dem Autor einfach am nötigen Talent mangelt, seine Botschaft in der kurzen Form wiederzugeben.

Doch genug der Kritik, Kikuchi gebührt Ehre, denn er hat dem vielgescholtenen Genre der „politischen Lyrik“ mit seinen Gedichten neues Leben eingehaucht. Mit der Herausgabe der Publikation, an der sich die Geister mit Sicherheit scheiden werden, beweist er nicht zuletzt auch eine gehörige Portion Mut. Werfen wir daher die häufig beschworene Dichotomie von Poesie und Politik endgültig über Bord und lassen uns erst gar nicht auf unnötige Diskussionen ein, die die Texte aus den Augen verlieren. Denn eines schafft der Band mit Sicherheit: Er regt zum Nachdenken an, womit der Autor sein persönliches Ziel auch erreicht zu haben scheint. Wie formulierte Jean-Paul Sartre, der Meister des literarischen Engagements, einst so treffend: „Werke, die von solchen Problemen betroffen sind, können nicht zunächst gefallen wollen: sie irritieren und beunruhigen, sie bieten sich als zu erfüllende Aufgaben dar“. So lässt sich am Ende auch erklären, warum man sich zu keinem Zeitpunkt so richtig wohl in dieser Sammlung zu fühlen scheint, die mit ihrem permanenten Bohren in den Wunden der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft jegliche Komfortzone vermissen lässt. Der mystische und rätselhafte Charakter einiger Verse unterstreicht das hervorgerufene Unbehagen, wobei er nicht selten dafür sorgt, dass die Gedichte an die Grenze der Verständlichkeit stoßen.

Bevor wir dem Autor nun abschließend noch einmal das Wort überlassen, geben wir ihm den lieb gemeinten Rat mit auf den Weg, bei seinem nächsten Werk, das man nach der Lektüre des vorliegenden zweifellos in die Hand nehmen wollen wird, mehr Sorgfalt walten zu lassen und gegebenenfalls auf den ein oder anderen unreifen Text zu verzichten. Eine Fortsetzung wäre wünschenswert, wenn sie, wie der abschließende Vers in „Feuersturmliteratur (2)“ belegt, aus dem dringenden Bedürfnis entstanden ist, schreiben zu wollen, schreiben zu müssen, weil Schweigen am Ende immer die falsche Alternative sein wird: „Darum dichten wir / Die Trauernden, die Hinterbliebenen / Zum Gedenken / Zur Mahnung“.

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Ryo Kikuchi: Schlechte Zeit für Haiku. Gedichte nach Fukushima.
Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Jürgen Buchmann.
freiraum-Verlag, Greifswald 2016.
146 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783943672848

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