Lasst alle Hoffnung fahren!

Gisela Elsners Romanfragment „Die teuflische Komödie“ präsentiert ein Endzeitszenario ohne Endzeit und bearbeitet die deutsche Geschichte sowie kollektive Ängste

Von Verena GoldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Verena Gold

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Angst ist ein Oberbegriff für eine Vielzahl von Gefühlsregungen und kann selbstverständlich auch unterschiedliche Auslöser haben. Als typische Bereiche kollektiver Angst können unter anderem Revolution, Endzeiterwartung, Staatsterror, Kalter Krieg und Atomkraft genannt werden. In Gisela Elsners Romanfragment „Die teuflische Komödie. Eine Menschheitstragödie“, das die Literaturwissenschaftlerin Christine Künzel im Rahmen der Gisela-Elsner-Werkausgabe nun als Erstveröffentlichung aus dem Nachlass der Autorin herausgegeben hat, werden diese Ängste anzitiert: Der Reiz des Textes, der von Elsner Ende 1986 begonnen worden ist und dessen Bearbeitung sie gegen Herbst 1989 schließlich abgebrochen hat, besteht sicherlich im Spiel – und vor allem im Bruch – mit Erzählstrukturen derjenigen Texte (und inzwischen vor allem auch Filme und Serien), die den Kampf ums Überleben in einer apokalyptischen Endzeit oder den meist vergeblichen Widerstand gegen ein totalitäres Regime in einer post-apokalyptischen Welt präsentieren.

Während Handlungssequenzen und atmosphärische Details dieser Szenarien übernommen werden, sind die Grundvoraussetzungen für die Zerstörung der alten Ordnung und die Etablierung eines neuen Systems und damit also die Motivation für die Existenzangst der Hauptfigur Flex radikal abgeändert: Die schwerwiegenden Veränderungen im Leben des Benno Flex ergeben sich gerade nicht daraus, dass die kollektiven Ängste bedient werden, also ein Krieg der verfeindeten Staaten ausgebrochen ist, eine atomare Verseuchung zu konstatieren ist oder eine bisher unbekannte Gefahr, seien es Viren, Zombies oder Aliens, sich ausgebreitet hat. Ganz im Gegenteil ist es Flex’ größtes Problem, dass das bereits geplante „Inferno“ einer kriegerischen und atomaren Weltzerstörung eben nicht stattgefunden hat, sondern die sogenannten „Gleichmacher“ die gesamte Menschheit von ihren Ideen überzeugen und damit eine kollektive Verweigerung bei Kriegsausbruch erreichen konnten: „Bataillonsweise begingen [die Soldaten] Fahnenflucht“. Statt die Handlung in eine weit entfernte Zukunft zu versetzen, greift Elsner dabei direkt die aktuelle Politik des Kalten Krieges auf und führt sie, wie sie es selbst nennt, als „Utopie“ zu einem vorläufigen Ende. Zur Etablierung der kommunistischen Gesellschaftsordnung ist dabei nicht einmal eine Revolution im eigentlichen Sinne vonnöten: „Unsere Gesellschaftsordnung […] erweist sich als so wenig standfest, dass sie die Gleichmacher nicht einmal zertrümmern müssen.“

Schon durch dieses Zitat lässt sich die Struktur des Widerspruchs zeigen, die den Roman in seiner Gänze prägt und den Leser immer wieder gerade erhaltene Informationen, aber auch eigene Analysen und Bewertungen infrage stellen lässt. Entgegen der Feststellung zu Beginn arbeitet das neue System nämlich nicht in Abwehr, sondern in Rückgriff auf die frühere Gesellschaftsordnung: Triebfeder des Volkes für die Unterstützung des neuen Systems sind nämlich weiterhin das eigennützige Streben nach Privilegien, eine latente Gewaltbereitschaft und eine lauernde Sensationsgier, die bei den großen Schauhinrichtungen befriedigt werden kann, die bezeichnenderweise auf französischen Guillotinen ausgeführt werden. Während in den Reden an das Volk Verbindungen zur Französischen Revolution und einer archaischen (und anarchischen) Vorzeit gezogen werden, nimmt das neue System immer mehr Züge einer totalitären Diktatur an, die – abgesehen von den propagierten Zielen – mit ihrem Personenkult, ihren Parolen, ihrer allumfassenden Überwachung und ihren Strukturen der Denunziation und Ausgrenzung am ehesten an das NS-System erinnert.

Die propagandistischen Selbstdarstellungen des neuen Systems und die manipulativen Bewertungen des Erzählers, des ehemaligen Fernsehkommentators und jetzigen „Volksfeindes“ Benno Flex, dem gerade die ständige Tatsachenverdrehung und Bestechlichkeit bei gleichzeitiger Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit angelastet wird, macht eine objektive Beurteilung des Geschehens durch den Leser kaum möglich. Dabei stehen sich die beiden Grundpositionen nicht nur stellvertretend für die zwei Systeme gegenüber, sondern greifen immer mehr auch auf undurchsichtige Weise ineinander: Handlungsweisen und Bewertungen des alten werden immer mehr ins neue System übernommen, sprachliche Ausdrücke und Bewertungen bestimmter Sachverhalte des neuen Systems zunehmend auch von den klaren Vertretern der alten Ordnung internalisiert. Dass durch das neue System Verfolgte zu Verfolgern und Verfolger zu Verfolgten werden – und auch die neu gewonnenen Rollen prekär erscheinen –, lässt eine ständige Neubewertung des Geschilderten von vornherein geboten erscheinen. Der Leser wird so dazu gezwungen, „auf der Hut zu bleiben“, Erklärungen zu hinterfragen und die verschiedenen Positionen selbst zu analysieren – vor ständigen Umbewertungen wird er trotzdem kaum gefeit sein.

Während das gewählte Szenario, die Positionierung des Erzählers und die daraus resultierende Bewertungsproblematik für den Leser durchaus gelungen zusammengestellt sind, stören die uneindeutigen Beschreibungen der Figur Flex eher: Dass der bestechliche Intellektuelle die Werte der kapitalistischen Gesellschaft vor großem Publikum vertritt, obwohl er längst schon selbst nicht mehr an diese glaubt, nimmt man der vor allem an der eigenen Macht interessierten Figur durchaus ab. Dass der schon in seinem Namen als flexibel ausgegebene Flex nach seiner Entlassung aber weniger zynisch als kleinkrämerisch, weniger traditionell als nationalistisch die inzwischen stattgefundene „Völkerverbrüderung“ kommentiert, passt dazu nicht. Möglicherweise sind derartige Unstimmigkeiten dem Charakter des Textes zuzurechnen, der als Fragment aus dem Nachlass ja weder vollständig fertiggestellt noch abschließend autorisiert ist.

Dieses Argument kann auch für die weiteren Kritikpunkte stets angebracht werden: Was Elsner schließlich an ihrem Roman noch abgeändert hätte, lässt sich mit letzter Sicherheit nicht mehr klären. Trotzdem lassen sich aber wohl einige Problemstellen nennen, die sich mehr aus der typischen Schreib- und Erzählweise Elsners ergeben als aus dem fragmentarischen Charakter des Textes: Die – im Titel bereits anklingende – teilweise komische, hauptsächlich aber satirische Ausgestaltung der grausamen Gegebenheiten wird manchmal zu stark auf die Spitze getrieben, noch häufiger ufert sie aber einfach aus: Im besten Fall werden so immerhin noch starke Bilder erzeugt, wie es bei der Beschreibung der Bevölkerung der Fall ist, die sich, seit eine Verehrung der Friedenstaube eingesetzt hat, nur mehr mit Regenschirmen aus den Häusern wagen kann, um vor dem wie Regen vom Himmel fallenden Taubendreck geschützt zu sein. Gerade bei Anhäufungen ähnlicher Szenen, die manchmal auch noch steigernd aufgebaut sind, etwa bei der wiederholten Schilderung des Gebarens der neuen Konzernchefs, kann sich aber schnell der Eindruck ergeben, dass „weniger“ hier „mehr“ gewesen wäre.

Problematisch erscheint aber vor allem die typisierte und häufig stark stereotype Ausgestaltung der Figuren. Dabei stört es nicht, dass der Leser stets auf Distanz gehalten wird und eine mögliche Identifizierung immer wieder unterwandert wird. Die Figuren sind aber teilweise so stark als platte Abziehbilder oder verzerrte Karikaturen gestaltet, dass sie in ihrem (negativen) stereotypen Verhalten, etwa als ermächtigter „Prolet“ oder untergegangener „Kapitalist“, vorhersehbar und langweilig erscheinen. Die möglicherweise erwünschte ernüchternde Wirkung und Bereitschaft zur kritischen Auseinandersetzung mit den Inhalten kann sich so schnell zu einer Kritik der pauschalisierenden Darstellung wandeln – und macht es dem Leser in letzter Konsequenz zu einfach, die Kritik an den gezeigten Systemen auszuschlagen oder in Elsner die bösartige Menschenverachterin zu sehen, als die sie häufig gezeichnet worden ist.

Stilistisch auffallend ist der ganz typische langwierige und verschlungene Satzbau Elsners, der für das vorliegende Handlungsszenario aber durchaus sinnvoll gewählt ist. Von zeitgenössischen Rezensenten wurde der Autorin immer wieder die Umständlichkeit ihrer Beschreibungen und die aus ständigen Wiederholungen sich ergebende Monotonie und Tristesse der Schilderungen vorgeworfen: In der „Teuflischen Komödie“ ist diese Darstellungsweise nun nicht nur für die Beschreibung der Handlungen, Räume und Figuren angemessen, sondern sie lässt auch vielfache Brechungen, Verschiebungen und Neuperspektivierungen des Geschehens zu.

Da die „Teuflische Komödie“ aus nachvollziehbaren Gründen eher als übersichtliche und lesefreundliche denn als eigentlich kritische Ausgabe gestaltet ist, wäre es aber durchaus denkbar gewesen, die Handlung noch etwas zu straffen. Während sich der Text ja in den ersten zehn der 18 Kapitel als kohärentes Ganzes präsentiert und schließlich auch in den letzten fünf Kapiteln einen relativ stringenten Handlungsverlauf aufweist, enthalten die drei Kapitel dazwischen eine ganze Reihe ähnlich gestalteter Szenen, alternative Handlungsabläufe sowie kleinere Wiederholungssequenzen. Mutmaßen lässt sich, dass hier von der Autorin verschiedene Szenarien ausprobiert worden sind, von denen einzelne auch wieder aus einem abschließenden Gesamttext gestrichen worden wären – eine Auslagerung einiger Textteile in einen Anhang zum „Weiterschmökern“ für Interessierte wäre hier also eine sinnvolle Alternative gewesen.

Ansonsten sind Anmerkungen und Zeichen dezent gesetzt worden, lassen aber auch erste Rückschlüsse auf das Typoskript zu. Allein dass die Seitenzahlen des Typoskripts, auf die in einzelnen Fußnoten auch verwiesen wird, im Text selbst gar nicht abgebildet worden sind und die Kürzel zu den Streichungen der Herausgeberin nicht genauer zeigen, wie lang der entfallene Text einmal gewesen ist, lässt sich noch kritisch anmerken. Die beigegebene editorische Notiz, die Abdrucke einzelner Typoskriptseiten und das Nachwort, das die Hintergründe der Entstehung bewertet, runden die vorliegende Ausgabe aber gelungen ab, deren Verdienst sicherlich nicht zuletzt darin liegt, das vielfältig interessante Romanfragment einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu haben.

Kein Bild

Gisela Elsner: Die teuflische Komödie. Eine Menschheitstragödie.
Herausgegeben von Christine Künzel.
Verbrecher Verlag, Berlin 2016.
320 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783957321183

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch