Da—zwischen
Verena Güntner legt mit „Es bringen“ einen Coming-of-Age-Roman vor, der durch Unaufgeregtheit und Alltäglichkeit überzeugt
Von Thomas Stachelhaus
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer sechzehnjährige „Sonnenuntergangsasthmatiker“ Luis, der bei Eintritt der Dunkelheit keine Luft mehr zu bekommen glaubt, fühlt sich zugleich als „Trainer“ und „Mannschaft“; ein stolzer Autodidakt, der nicht nur aktiv gegen seine Neurosen ankämpft, sondern auch stets die Kontrolle bewahren will: „Du brauchst einen Plan. Wenn du keinen Plan hast, geht alles den Bach runter.“ So trainiert er sich seine Höhenangst peu à peu selbst ab, im Ein-Elternteil-Haushalt (ohne Vater) managt er den Alltag, denn seine Mutter ist lieber Luis‘ beste Freundin denn seine Versorgerin oder gar Erzieherin. Obendrein wächst er im 15. Stock einer typischen Plattenbausiedlung dieser Republik – vermutlich in den 1990er Jahren (darauf deuten sowohl Freizeitaktivitäten der Akteure als auch die en vogue-Musikrichtung Drum ‚n‘ Bass) – auf; wohl nicht die besten Startbedingungen, doch er wäre nicht Luis, hätte er sich nicht dennoch durchs bzw. ins Leben gekämpft – und der Roman nicht so überzeugend, läge sein Fokus auf derlei Handicaps.
Seine Heimat ist die Clique, hier erntet er Respekt und fasst immer wieder frischen Mut. Zur Freizeitbeschäftigung dieser gehören ‚Wettsaufen‘, ‚Fickwetten‘, ‚Schwanzvergleiche‘ und diverse Mutproben. Der Anführer dieser Runde ist der vier Jahre ältere Twen Milan, sein wohl direktester Bezugspunkt. Ihre körperlichen Eskapaden – sie praktizieren ein unregelmäßig stattfindendes Prügelritual – ähneln einem Balzverhalten: „‚Milan […], schade, dass du keine Titten hast. […] Ich würde dich voll ficken‘“, stellt Luis heraus und bekommt daraufhin eine rein. Das Verlangen nach physischer Konfrontation zeigt sich auch, als Milan seinen besten Freund aufgelöst zu einem Treffen zitiert und ihm etwas beichten will. Die nervös glühenden Wangen Milans lösen bei Luis den Wunsch aus, sie zu berühren. Nicht in der (wohl auch alterstypisch gedachten) homoerotischen Neugierde, sondern in der Inszenierung von Alltäglichkeit auf der einen und höchst komplexer Beziehungsgeflechte auf der anderen Seite liegt die besondere Kraft des Textes. Denn wie konfliktgeladen das Verhältnis zwischen den Figuren ist, entfaltet der Roman nur sukzessive und in subtiler Weise; vor allem ebendann, als ein folgenschweres Geheimnis zwischen den beiden Freunden offen gelegt wird. Milan, der sich ähnlich wie Luis für einen besonders guten Sexpartner hält („Luis, mein Freund. Mein Schwanz ist ein Segen für die Menschheit, und ich muss mir seine Freundinnen genau aussuchen“), hat ein sexuelles Verhältnis zu einer Frau namens Susanne. Wie Luis ist auch dem Leser/der Leserin nicht sofort klar, wer diese Frau ist. So wirkt die einsetzende Prügelei zwischen den beiden Jungs für die Rezipient*innen zunächst recht unmotiviert. Des Rätsels Lösung liefert kurz darauf nicht Milan, sondern Luis selbst – das aber vollkommen beiläufig: „Susanne“, so die Hauptfigur, „also Ma“, wurde von Milan als Freundin auserkoren. Ausgerechnet sie, zu der er nicht nur ein zärtliches Verhältnis hat, wie beispielsweise die Kosenamen „Täubchen“ und „Meise“ zeigen, sondern auch eine sonderbare Anziehung verspürt, wenn er ihre „geilen Mädchenbeine“ und ihren „immer noch prallen Hintern“ betrachtet. Ihre Bindung war bis hierher innig und freundschaftlich; eine, in der es keine Geheimnisse gab. Aber fortan scheint dieser Mikrokosmos aus den Fugen geraten zu sein: Luis kann zunehmend seine innere Kraft und äußere Beherrschung nicht mehr aufrecht erhalten und befürchtet, mit Ma und Milan seine gleichsamen Ankerpunkte im Leben zu verlieren. Eifersucht und Ängste machen sich daher breit. In einer Begegnung zwischen Milan und ihm in der Küche der Hochhauswohnung scheint sich dann alles zu entladen: Milan tritt nackt aus dem Schlafzimmer der Mutter und steht mit noch halb erigiertem Glied vor Luis; sichtlich geschockt von der Begegnung, versuchen sie, jedes Wort zu vermeiden, so dass sich Luis schließlich zu einem wilden Kuss entschließt: „Endlich. Das erste Mal. Hab ich dich, Hai. […]. Meine Zunge bohrt sich in seinen Mund, ich stecke sie ihm sehr tief rein, suche, suche.“ Was er hier sucht, ist aber nicht nur der körperliche Kontakt zu Milan, sondern vor allem zu „Ma“; und er wird fündig: „Da ist es ganz deutlich: So schmeckt sie also, so schmeckt Ma. Da unten“. Hier kulminieren (homo)erotische Anziehung, Eifersucht, Besitzanspruch zum ödipalen Konflikt hin – hier offenbaren sich die Gefühlszustände eines verwirrten Zöglings an der Schwelle zum Erwachsenwerden.
Die 1978 geborene Verena Güntner, eine ausgebildete Schauspielerin, legt mit Es bringen einen Debüttext vor, der zwar immer haarscharf an Klischees vorbeischrammt, indem er mit abgegriffenen Coming-of-Age-Topoi operiert und somit – streng genommen – nichts Überraschendes erzählt, aber dann doch im Laufe der Handlung eine Vielschichtigkeit entfaltet, die nicht nur die Sorgen und Ängste eines Heranwachsenden offenbart, sondern zugleich unprätentiös von pubertären (erotischen) Anziehungskräften sowie gewöhnlichen als auch außergewöhnlichen Bindungen in peer-group und Elternhaus erzählt, ohne dabei als soziale oder psychologische Studie daherzukommen; vor allem aber wird hier auf die große Katastrophe verzichtet, wenngleich sie kurzzeitig einzutreffen droht, wenigstens in jenem Augenblick, als er seinen Sportlehrer ‚entführt‘ und ihn dazu zwingt, ihn zum nahegelegenen Berg zu fahren – einem Ort, an dem er sich seiner Vergangenheit stellen muss. Vielleicht ist Es bringen eine Halbstarkengeschichte, in der eine Hauptfigur erkennt, dass zum Erwachsenwerden eben auch Formen des Loslassens gehören – erst recht, wenn alles aus den Fugen zu geraten scheint. Vor allem aber ist der Text ein kraftvolles Debüt – vulgär und zärtlich zugleich –, eines, das einen Jungen in den Blick nimmt, der sich dem Erwachsenwerden stellt und doch für das Recht auf Kindheit, auf Weichsein kämpft, wie seine Bindung zum Pony Nutella zeigt: „Milan und die Jungs wissen nicht, dass Nutella und ich ein gutes Verhältnis haben. Müssen sie auch nicht. Dass man als Typ ein gutes Verhältnis zu einem Pony hat, kann ja auch schwul oder weicheimäßig rüberkommen. Nee, ohne mich.“ Nach außen der harte „Bringer“, im Inneren oft sanft und verletzlich – eben nicht Fisch, nicht Fleisch, nicht Teen, nicht Twen – und eben auch noch kein ‚richtiger‘ Erwachsener.
Luis kann es nicht ertragen, wenn er nicht weiß, was in ihm vorgeht – so geht er auf Spurensuche nach seinen Gefühlen; und hiervon profitiert das Lesepublikum, das mit ihm einen tiefen Einblick in die Seelenzustände eines Jugendlichen im Dazwischen erlebt, das er so zu beschreiben weiß: Es ist, „als würde ein Vogel in mir drin sitzen und mit seinen Flügeln schlagen, kurz vor dem Abflug sein oder so. Nur kommt er nie los, hängt da fest in meinem Körper und flattert wie wild rum.“ Das alles tue „ziemlich weh“, weshalb er immer wieder einen außer-irdischen Ort imaginiert. Sein Hang zur Reflexion und seine Faszination für Sternbilder, das All und die Mondlandung mögen als Bruch mit dem sonst sehr derben Ton in der Jugendgang wahrgenommen werden; und doch offenbart genau dieser Kontrast aus Poesie und Jugendslang gerade jene innere Zerrissenheit – zwischen Coolness und Kraft auf der einen Seite und Verwirrung, Unbedarftheit und Ängsten auf der anderen – und damit die eigentliche Stärke des Textes.
Drei Mal konnte Güntner Romanauszüge vor einem Publikum erproben: Beim open mike-Finale 2012, beim MDR-Literaturpreis 2013 sowie bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt im selben Jahr; bei letzterem las sie auf Einladung von Paul Jandl und gewann den Kelag-Preis; ein sachter, aber feiner Ritterschlag.
Vielleicht hätte der Roman das Zeug dazu, in einer Liga mit Crazy oder Tschick zu spielen; das hat auch schon ein nordrhein-westfälisches Theater erkannt und eine Bühnenadaptation erarbeitet. Nicht zuletzt für Lehrerinnen und Lehrer böte sich hier jedenfalls die Möglichkeit einer Beschäftigung mit einem äußerst aktuellen Text, der – anders als Lebert oder Herrndorf – einen zwar sozial benachteiligten, aber eben nicht stigmatisierten oder gar gehandicapten Jungen, also keinen dezidierten Außenseiter, ins Erzählzentrum rückt und dessen alltägliche Probleme verhandelt, was für männliche Adoleszente mithin lesemotivierend wirken dürfte. Überdies sprechen hier Jungs, wie Jungs in diesem Alter eben sprechen (wenngleich die sicherlich realistische Abbildung der ordinären Alltagskommunikation der Jugendlichen bisweilen eine Spur zu viel ist und das Gewaltpotential von Sprache im Unterrichtseinsatz kritisch reflektiert werden müsste). Die weibliche Leserschaft aber dürfte das Machogehabe wiederum selbst aus dem Klassenzimmer kennen – vielleicht gar bis zum Überdruss; weniger motivierend für sie also, es sei denn, der Blick in die Seelenzustände machte das Verhalten für sie ein wenig erklärbar(er). Weibliche Figuren sind in Güntners Roman hingegen nicht nur unterrepräsentiert, sondern häufig als Lust- und Spielobjekt codiert (deren Ausnahme wohl nur die vorlaute und selbstbewusste Jenny bildet, mit der Luis deshalb auch nur außerhalb der Fickwetten schläft).
Dies ist durchaus schade, ansonsten nämlich hätte Güntners erzählerischer Balanceakt zwischen Vulgarität und Poesie Potential für einen Platz im Schulkanon.
Zur Lesung eines Textauszuges aus dem Roman beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2013 ein Beitrag von Kristina Petzold auf literaturkritik.de. (7/2013)
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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