Ein Debüt auf den Schultern von Riesen

Michael Kleinhernes Debüt „Drehpause“ verabschiedet den Anfang

Von Lisa EggertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisa Eggert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Versteht man debütieren, auch im Sinne des Einführungstextes zu dieser Ausgabe, als „anfangen“, so muss man bei der Zuschreibung „Debüt“ für Michael Kleinhernes Drehpause in mehrfacher Hinsicht Zweifel anmelden. Zunächst einmal handelt es sich formal nicht um „einen“ Erstling, sondern um zwölf kurze Erzählungen, die wiederum teilweise bereits in Anthologien und Zeitschriften erschienen sind. Zum anderen – und das scheint in diesem Kontext der entscheidendere Punkt – geht es hier schlicht nicht ums „Anfangen“. Kleinhernes Texte erzählen vom Beenden; einer Reise, einer Suche, einer Liebe oder eines Lebens. Den Leser*innen bleiben die Anfänge meist verborgen. Es stehen Konflikte im Raum, die nur manchmal geklärt und durch schlaglichtartige Rückschauen plausibilisiert werden. Und schließlich machen sich diese Texte bewusst nicht anheischig, irgendetwas neu zu beginnen. Schon die erste Erzählung Ansichten setzt Jesus Christus an einem Gipfelkreuz ins Zentrum und blickt somit gleichsam von der Höhe der kulturellen Traditionen auf ihr Sujet, den Streit eines Paares um den Umgang mit der eigenen – auch religiösen – Herkunft, herab. Die Erzählungen Kleinhernes stellen sich bewusst auf die Schultern von Riesen und verdeutlichen so eher die Unmöglichkeit eines Debüts im Sinne von „Neubeginn“, als dass sie um „besondere Innovation“ – deren Möglichkeit Gegenstand diverser andernorts geführter Debatten ist – bemüht sind.

Legt man mithin Originalität als Wertungskriterium an diese Texte an, so wird man einerseits kein positives Urteil fällen, ihnen andererseits aber auch nicht gerecht werden. Es geht hier weniger um ein Anfangen als um ein Weiterspinnen eines Fadens. Dieser Strang der Erzähltradition geht zuallererst von der Prosa Ernest Hemingways aus, der auch das Eingangszitat zum Band liefert: „Die Würde, die in der Bewegung eines Eisberges liegt, beruht darauf, dass nur ein Achtel von ihm über dem Wasser ist.“ Eben jenes Bild vom Eisberg, das Hemingway zum Ausgang einer erzähltheoretischen Fundierung seines lapidaren Stils genommen hat, gibt eine erste Rezeptionsanweisung.

Neben dem klaren Hemingway-Bezug werden mit Baudelaire und David Foster Wallace zwei weitere Heroen der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts ins Feld geführt, die ihrerseits in der Literaturgeschichte unterschiedlich wirkmächtig geworden sind. Im Hinblick auf seine literaturhistorische Verortung erscheint Drehpause als vielstimmiger Chor. Gerade als Erzählsammlung und damit als Sammlung verschiedener Erzählstimmen und -haltungen, die eben nicht den einen starken Erzähler etablieren, wird so ein Horizont an Diskursen aufgespannt, an den Texte heute anschließen können.

Spannend wird es vor allem dann, wenn die Texte über Literatur sprechen. Dabei sind es eher intertextuelle Bezüge als metatextuelle Verweise, die die Erzählungen aber dennoch als Texte ausweisen und somit gleichsam aus der Diegese hinaus auf den Akt des Lesens deuten. Kleinhernes Figuren sind häufig Leser*innen – vor allem jedoch starke Raucher*innen, was angenehm wenig gesundheitsbewusst und damit sehr sympathisch wirkt. Wenn in Bauwagen der Literaturkritiker Paul auf einer Lesung konstatiert: „Ja, erzählen kann er. Nur die Art und Weise. Aber das ist wohl Geschmackssache. Ich mag es lieber nüchtern und klar.“, erscheint dies wie die Manifestation einer impliziten Poetik.

Nüchternheit und Klarheit zeichnen die Erzählungen in Drehpause insbesondere sprachlich aus. Auch Martin Hielscher vom C.H. Beck-Verlag, der das Nachwort zu Kleinhernes Band geschrieben hat, lobt dessen „lakonische[n] Stil, die Knappheit und Kargheit der Beschreibungen“. Thematisch sind es jedoch keine nüchternen Geschichten, dafür sind die Themen zu emotional. Unklar bzw. für den/die Leser*in unterhalb der Oberfläche befindlich bleibt zumeist auch der Plot. Zwar zeichnet sich spätestens ab der Lektüre der vierten oder fünften Erzählung ab, dass wohl kein Happy End mehr zu erwarten sein wird; aber der Weg vom In medias res-Einsatz der Erzählungen zum unausweichlich tragischen Ende steht weder den Protagonist*innen noch den Leser*innen klar vor Augen. So lesen sich die Texte, bei aller thematischen Ähnlichkeit und strukturellen Gleichförmigkeit, recht abwechslungsreich.

Es sind vor allem die für die Rezipienten subtil verborgenen Teile in den Geschichten der Figuren, welche die Spannung der Texte ausmachen. Viele von diesen bleiben unsichtbar – das macht sicher eine Stärke von Kleinhernes Erzählband aus: Es wird nicht alles erklärt. Der andere Vorzug ist, dass die Texte – bei aller Ungewissheit und allem lückenhaften Erzählen – es dennoch schaffen, stimmungsvolle und atmosphärische Szenarien zu etablieren, die sich nicht aus klischeehaften Beschreibungen, sondern aus präzisen Beobachtungen speisen:

„Es regnet. Frühlingstropfen prasseln auf den Asphalt. Ein alter Mann schlendert mit seinem Spazierstock den Gehweg entlang. Sein Hut schützt das Haar vor der nassen Luft. Der Stock klappert rhythmisch, ist dem Tritt der Füße stets einen Moment voraus.“

Dass ein Debüt nicht viel Neues bringt, dass der schmale Band strukturell ähnliche Erzählungen bereithält, dass auch der Stil, so rhythmisch und lakonisch er sein mag, weit von experimenteller Prosa entfernt ist: Dies alles könnten K.O.-Kriterien für Michael Kleinhernes Drehpause sein. Aber gerade im Zusammenhang mit Fragen nach Genie-Ästhetik und der möglichen Renaissance des Autors erscheint dieser Band als ungemein spannend und aufschlussreich, eben weil er sich nicht als origineller Geniestreich sondern als Teil eines Gewebes der Erzähltradition versteht.

Störend sind hierbei jedoch die vielen Paratexte, insbesondere die auf der Rückseite des Bandes abgedruckten Rezensionsauszüge sowie das lange Vor- und Nachwort. Zum einen stehen sie in keinem guten Verhältnis zu dem nur gut 100 Seiten umfassenden Band, zum anderen lenken sie die Leseerwartungen stark und führen im ungünstigen Fall zu dem Eindruck, dass ein Buch, das so gelobt wird, „nichts sein kann“. Diese Kritik trifft allerdings eher den Verlag. Der Jos Fritz-Verlag leistet jedoch als kleiner Buchhandlungsverlag innerhalb des von Publikumsverlagen dominierten Literaturbetriebs eine wichtige Arbeit. Denn im Grunde negieren Bücher wie Michael Kleinhernes Drehpause das Debüt-Konzept, wie es die großen Verlage mit allem dazu gehörigen Preis- und Werbeaufwand zelebrieren. Dies ist einfach ein Stück unaufgeregter, selbstgenügsamer Literatur, die sich, um auf das Eisberg-Bild zurückzukommen, unterhalb des Sichtbaren bewegt, die nichts Großes will, die eben deshalb so schön und leicht daherkommt und ihren Leser*innen viel Vergnügen bereitet.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Michael Kleinherne: Drehpause. Erzählungen.
Jos Fritz Buchhandlung und Verlag, Freiburg 2012.
108 Seiten, 7,79 EUR.
ISBN-13: 9783928013604

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