Ist / War / Wird: Die unmögliche Flektion des Seins
Zur Paradoxie des Zeitbegriffs in einigen Gedichten der Frühen Neuzeit
Von Werner von Koppenfels
Um dieselbe Zeit, als Hamlet von der Bühne des ‚Globe‘ herab verkündete, die Zeit sei aus den Fugen, erschien in Davison’s Poetical Rhapsody ein Gedicht, von dessen Autor wir nur die Initialen kennen: A.W. Mit diesem Text hat sich dieser (Beinahe-)Anonymus ein für allemal in das kulturelle Gedächtnis der Angelsachsen eingeschrieben:
Eternal Time, that wasteth without waste,
That art and art not, diest and livest still;
Most slow of all, and yet of greatest haste;
Both ill and good, and neither good nor ill.
How can I justly praise thee, or dispraise?
Dark are thy nights, but bright and clear thy days.Both free and scarce, thou giv’st and tak’st again;
Thy womb that all doth breed, is tomb to all;
What so by thee hath life, by thee is slain;
From thee do all things rise, by thee they fall;
Constant, inconstant, moving, standing still;
Was, Is, Shall be do these both breed and kill.I lose thee, while I seek to find thee out;
The farther off, the more I follow thee;
The faster hold, the greater cause of doubt;
Was, Is I know, but Shall I cannot see.
All things by thee are measured; thou, by none;
All are in thee; thou, in thyself alone.
Die paradoxe Rhetorik dieser lyrischen Litanei ist eine Herausforderung für den Übersetzer: hier das Ergebnis meines Übertragungsversuchs (nach Englische und amerikanische Dichtung, Bd. I, München 2000, S. 155):
Ewige Zeit, verzehrend, unversehrt:
Du bist, bist nicht, stirbst und lebst immerzu,
Kriechst träg dahin und hastest überschnell,
Bist gut und böse, weder bös noch gut;
Wie ich dich recht erhöhe, schmähe – sag!
Schwarz deine Nächte, klar und licht dein Tag.Vergeudest geizend, gibst und nimmst die Gaben;
Dein Schoß trägt und begräbt die Dinge all;
Was durch dich lebt, durch dich wird es erschlagen,
Du aller Wesen Aufstieg, aller Fall.
Unstet und stetig, rasend, unbewegt:
War, Ist und Wird tötet dich, und belebt.Entziehst dich mir, noch während ich dich greife;
Je ferner, umso mehr stell ich dir nach;
Je dichter dran, umso stärker die Zweifel:
War kenn ich wohl, und Ist – das Wird bleibt unsichtbar.
Jedes mißt dich, und doch ermißt dich Keines;
In dir ist Alles – du in dir alleine.
Eine Häufung von Paradoxa im Zeilenstil mit streng antithetischem Versbau und hämmernden Flektionsformen des Verbums ,sein’ und des Pronomens ‚du‘: eine metrische Monotonie im Dienst der poetischen Intensität, die die Rhetorik der Zeit unter dem Stichwort energeia verbucht. Die Wirkung ist so ambivalent wie der Versbau – ein Schwindelgefühl angesichts des ewig widersprüchlichen und unfassbaren Phänomens, und zugleich ein Sich-Verlieren des Meditierenden im Mysterium der Zeit. Die streng symmetrische Anhäufung preisender und anklagender Attribute erreicht am Ende einen eigenen Höhepunkt, der die Litanei klimaktisch krönt, denn die letzte Wesensbestimmung der unfassbaren Wesenheit gerät dem Sprecher-Ich unversehens zur Ewigkeits- und Gottesdefinition: „All are in thee – thou in thyself alone“.
„Indeed, He only is,“ sagt Sir Thomas Browne über Gott; „all other things have been or shall be, but in Eternity there is no distinction of tenses“, die Ewigkeit hat keine Zeitstufen, sie ist ‚unflektierbar‘. Natürlich spielen hier die grammatisch-mystischen Zeitparadoxe der Bibel herein, wie „Quae futura sunt iam fuerunt“ (Prediger 3:15) oder „Ehe denn Abraham war, bin ich“(Joh. 8:58), das Sir Thomas Browne in seiner Religio Medici zur folgenden barocken Glosse inspiriert hat: „Denn ich war nicht nur vor meiner, sondern vor Adams Erschaffung, nämlich in … dem Dekret jener Synode, die in alle Ewigkeit tagt. Und in diesem Sinne war die Welt vor ihrer Schöpfung, und ging zu Ende, ehe sie ihren Anfang nahm. Und so war ich gestorben, ehe ich zu leben begann: wenn England auch mein Grab ist, mein Sterbeort war das Paradies, und Eva hat mich fehlgeboren, ehe sie Kain empfing.“ „Eve miscarried of me before she conceived of Cain.“
In diesem Kontext mit seinem Echo der Bibelstellen steht auch die berühmte mystische Ekstase am Fenster von Ostia aus den Bekenntnissen des Augustinus, in der alle Zeitstufen aufgehoben sind: „ibi vita sapientia est … et ipsa non fit, sed sic est ut fuit semper …: nam fuisse et futurum esse non est aeternum.“ Denn Gewesen-Sein und Sein-Werden ist nicht von Ewigkeit. Die Erfahrung von Zeitlosigkeit mitten in der Zeit erscheint als visionäre Vorwegnahme des apokalyptischen Zeit-Endes, das Paul Fleming in seinem Gedicht Gedanken über die Zeit nach vielen barocken Zeit-Flektionen so apostrophiert: „Ach, daß doch jene Zeit, die ohne Zeit ist, käme, / Und uns aus dieser Zeit in ihre Zeiten nähme.“
Doch es gibt in dieser Epoche auch weltlichere Modi, sich mit dem Schwindelgefühl der unfaßbaren Zeit auseinanderzusetzen, etwa in Étienne Durands Hymne an die Unbeständigkeit, Stances sur l‘Inconstance, ein wortspielerischer Titel:
Notre esprit n‘est que vent, et comme un vent volage;
Ce qu‘il nomme constance est un branle rétif:
Ce qu‘il pense aujourd‘hui demain n‘est qu‘un ombrage;
Le passé n‘est plus rien, le futur un nuage,
Et ce qu‘il tient présent, il le sent fugitif …Ein Wind ist unser Geist, Wind, den es weiterzieht,
Unbändiges Schwanken das, was er beständig heißt;
Was er sich heute denkt, ist morgen Schattenspiel;
Vergangenheit verging, Zukunft ein Wolkenbild,
Ergriffne Gegenwart entgleitet ihm sogleich …
(übs. W.v.K.)
Das Schwindelgefühl einer universellen Inconstance, die als „aller Schöngeister Geist“ („esprit des beaux esprits“) angerufen wird, erzeugt in diesem Gedicht eine rauschhafte Bejahung des Wechsels, auch und besonders in erotischen Dingen, als Genuss der myriadischen Vielfalt des Daseins. Der Verfasser, ein poète libertin mit fataler Nähe zum Hof, erfuhr diesen Wechsel grausam am eigenen Leib: er wurde 1618 mit samt seinen Schriften in Paris wegen Majestätsbeleidigung verbrannt.
Seine Definition der vermeintlichen Beständigkeit als verkapptes „branle rétif“, also „hartnäckiges Schwanken“, verrät, welcher Philosophie dieser Text Gefolgschaft leistet. An einer berühmten Stelle seiner Essais (III, ii) nennt Montaigne als Zeitgenosse wahnwitziger Religionskriege die ganze Welt ein „ewiges Schwanken“ – selbst die Beständigkeit sei nur ein „branle plus languissant“, ein „matteres“ oder „schleppenderes Schwanken“. Er könne seinen Gegenstand (den Menschen) nicht fixieren: dieser taumle immerzu „in natürlicher Trunkenheit“, „d‘une ivresse naturelle“.
Eine zentrale Stelle im zentralen Essay II, xii verbindet diese Passage mit der unmöglichen Flektion der Zeit: „Die ureigenen Worte der Zeit sind vorher und danach oder ist gewesen und wird sein, die auf den ersten Blick schon deutlich machen, daß sie nicht etwas ist, das ist … Was nun die Worte gegenwärtig, im Augenblick oder jetzt betrifft, auf die wir unser Verständnis von Zeit hauptsächlich stützen … macht der Verstand … sie auf der Stelle zunichte, denn er teilt und spaltet sie stracks in Zukunft und Vergangenheit…“ (übs. Hans Stilett). Die Zeit ist „matière coulante et fluante toujours“. Gott allein ist „selon une éternité … non mesurée par le temps, ni sujette à aucune déclinaison“ – im Doppelsinn des Wortes: ohne Abweichung, ohne ‚Flektion‘.
Diese ganz und gar Montaignesche Stelle ist in Wirklichkeit das reine Zitat, denn sie stammt, via Amyot, aus den Moralia des Plutarch. Bei Plutarch unterhält sich eine philosophische Runde über die Bedeutung der Inschrift EI auf dem Apollontempel zu Delphi und deutet sie als 2. Person Singular von einai, ‚sein‘, also: ‚du bist‘. Indem die Formel allein dem Gott das Sein zuschreibt, spricht sie es der Menschheit insgesamt ab. Montaigne, der die Stelle zur Peroratio seines Angriffs auf die Autarkie menschlicher Vernunft macht, identifiziert sich in viel umfassenderem Sinn mit ihr als sein antiker Gewährsmann. Obgleich verbal weitgehend identisch, wirkt die Passage in einer Weise schwindelerregend, wie es Plutarchs urbanes Spiel intellektueller Standpunkte nicht sein konnte und wollte: als Blick in den Abgrund geistiger Desillusion, der dem folgenden fideistischen Glaubensappell Dringlichkeit verleiht.
An anderer Stelle zeigt Montaignes bekanntermaßen beweglicher Geist durchaus Lust an der mutability des Daseins. Auch der frivole Étienne Durand ist ein legitimer Nachfolger dieses Den-kens, ebenso wie, auf der anderen Seite, Pascal mit seiner Rhetorik des vertige, der Zeitangst als Appell zur religiösen Umkehr. Pascals Zeit-Meditation führt zu einem – metaphysisch grundierten – Schwindel, bei dem jedes Vorrücken ein Rückschritt ist und das Präsens ein bloßer Wahn, während das Ich im fremdgewordenen Zeit-Raum vergeblich Halt sucht und ins Bodenlose abzustürzen droht. Wieder erscheint das ominöse Wort branle: „Quelque terme où nous pensions nour attacher …, il branle … tout notre fondement craque et la terre s‘ouvre jusqu‘aux abîmes“: „Wo immer wir einen festen Punkt (oder festen Begriff) suchen, um uns daran festzuhalten, er schwankt, unser Fundament bricht ein und die Erde öffnet sich zum Abgrund.“ Was würde Pascal, den das Schweigen der unendlichen Räume entsetzt hat, zu den Erkenntnissen der heutigen Astrophysik sagen?
Kein barocker Autor hat die unheimliche Dramatik, ja den Terror des Zeitflusses intensiver gestaltet als Francisco de Quevedo, vor dem Hintergrund stoischer Todesbewusstheit und des desengaño, einer radikalen Desillusion im Zeichen der spanischen Dekadenz, die er überall im politischen wie im moralischen Bereich herrschen sieht. Die Zeit be-spricht in seiner moralistischen Dichtung in der atemlosen Folge ihrer substantivierten Hilfsverben und Adverbien das Dasein als unablässigen Prozess des Vergehens, als déclinaison im Montaigneschen Sinn: ihre Deklination beweist, dass sie undeklinierbar ist!
Fué sueño ayer, mañana será tierra!
Poco antes, nada; y poco después, humo …
Ya no es ayer; mañana no ha llegado;
hoy pasa, y es, y fué, con movimiento
que a la muerte me lleva despeñado.
Azadas son la hora y el momento
que, a jornal de mi pena y mi cuidado,
cavan en mi vivir mi monumento.
(Das Grabmal, „monumento“, ist hier, im etymologischen Sinn des Wortes, ein Mahnmal.)
Gestern wars Traum, Staub morgen, der verrinnt,
dicht vorher nichts, und dicht danach ein Rauch …
Gestern nicht mehr, und noch nicht ist das Morgen;
heute vergeht, ist, war, in einem Jagen,
das mich kopfüber grabwärts fortgezogen.
Stunden und Augenblicke sind die Spaten,
die für den Taglohn meiner Mühn und Sorgen
mir aus dem Sein das eigene Mahnmal graben.
(übs. W. v. K.)
Der stoische Pointenstil Quevedos macht gerade die Abstraktion zur unheimlichen physischen Bedrohung, ganz ohne den sensenschwingenden, kinderverschlingenden Kronos / Chronos, indem er die Dreiphasigkeit des War, Ist und Wird im Sinne Montaignes zum messerscharfen Zweitakt des Davor und Danach schrumpft, zur paradoxen „Einheit von Windel und Bahrtuch“, wie es an anderer Stelle heißt, zur Definition des eigenen Ich als „presentes sucesiones de difunto“, als „gleichzeitiges Nacheinander von Toden“, genauer gesagt: eines lebendigen Toten, eben des Sprechers.
„Cotidie morimur“,sagt schon Seneca, wir sterben täglich. Das Ich spricht als Jedermann, doch gerade der Lapidarstil dieser Epitaphien zu Lebzeiten, die Bildschocks und die Verfremdung grammatischer Kategorien teilen als gewaltsame Erweiterung der Grenzen des Sagbaren persönliches Betroffensein affektiv mit. Die metaphysische Wendung bleibt spürbar, doch unausgesprochen. Die Epoche der Glaubensspaltung und Religionskriege, der eine religiöse Ernüchterung droht, verlangt mehr denn je nach dem Wunder, und die Betrachtung des Zeitwunders, der inexistenten Gegenwart, hat ein entschieden transzendentes Potential. Doch es ist schwer, fast unmöglich, dabei nicht in den Pascalschen Abgrund zu schauen.
Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zur Reihe „Lyrik aus aller Welt. Interpretationen, Kommentare, Übersetzungen“. Herausgegeben von Thomas Anz und Dieter Lamping.