Der unendliche Andere

In der Robinsonade „Die Spur des Anderen“ des martinikanischen Autors Patrick Chamoiseau wird sowohl das Trauma der verschleppten Sklaven als auch die Öffnung für das Unbekannte in das europäische Original eingeschrieben

Von Jana FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Defoes Robinson Crusoe wird das Archaische – das sich nicht den Anforderungen der aufklärerischen Rationalität und des frühkapitalistischen Utilitarismus fügt und unverständlich bleibt – ausgegrenzt, indem sich Robinson Freitag psychisch aber auch symbolisch zu eigen macht und dessen Andersheit weitgehend auslöscht. Dieser kolonialistischen Perspektive schreibt der von der Insel Martinique stammende Autor Patrick Chamoiseau nun in seiner Neufassung des Robinson Crusoe-Stoffes entgegen, indem er gerade die diffusen und unbewussten Identitätsteile in den Mittelpunkt von Die Spur des Anderen rückt. Da er einen deportierten Sklaven zum Protagonisten seiner Erzählung macht, dessen Vergangenheit als schwarzes Loch in seinem Inneren klafft, gelingt es ihm nicht nur das Trauma der verschleppten und somit entwurzelten Afrikaner literarisch darzustellen, sondern auch, an der Imagination eines fehlenden Gründungsmythos‘ der Antillen mitzuwirken. Denn nicht nur im einzelnen Afrikaner ist eine Leerstelle durch die Verschleppung eingeschrieben, sondern der gesamten Geschichte der Antillen: „vielmehr fühlte ich meinen Ursprung mit etwas Unerträglichem verbunden, mit einem unermesslichen Schmerz, und dieser bildete (viel mehr noch als der Wunsch nach irgendeiner Abstammung) die Stelle, wo die Vergangenheit unlesbar in mir geschrieben stand: Ich trug den Schmerz in mir, ohne zu wissen, woher er kam“.

An dieser Imagination eines gemeinsamen Gründungsmythos‘ wirkt Chamoiseau mit seiner Neuinterpretation des Robinson-Crusoe-Stoffes dahingehend mit, als dass er sich einen etablierten kanonischen europäischen Text aneignet, sich aber gleichzeitig von diesem distanziert und über ihn hinausgelangt, indem er die ausgegrenzten Bestandteile in den Stoff hineinwebt. Mittels dieser Methode – im Sinne eines postkolonialen Anschreibens aus der Diaspora – gelingt es Chamoiseau aufzuzeigen, dass diejenigen, die innerhalb des kolonialen Diskurses nur als jenes Unverständliche wahrgenommen wurden, das es zu unterwerfen gelte, keineswegs nur passive Rezipienten der kanonischen Literatur oder der eurozentristischen Sichtweise sind, sondern sehr wohl in der Lage, ihre eigene Sichtweise auf die Wirklichkeit zu formulieren, neue Schreibweisen zu entwickeln und sich von jenem Nicht-Ort, an dem sie bis dato fixiert wurden, zu lösen, um ihre Stimmen zum festen Bestandteil des geführten Diskurses zu erheben.

Chamoiseau setzt auf inhaltlicher Ebene zwei Akzente, um über die Originalfassung des Robinson Crusoe hinauszugelangen: Zum einen – wie sich bereits durch die Titelwahl erahnen lässt – durch seine Rekurrenz auf die Ethik von Emmanuel Lévinas, die sich auf der Beziehung des Anderen gründet, und zum anderen durch die Verschiebung des kolonialisierten Subjekts ins Zentrum der Erzählung. So führt uns Chamoiseau bei der Lektüre von Die Spur des Anderen mittels seiner polyrhythmischen, chaotischen und spiralförmigen Schreibweise – die das ausufernde und mäandernde Denken eines einsamen Individuums widerspiegelt – vor, dass die Existenz unweigerlich dem Imaginären verhaftet ist und es somit eigentlich keine Realität, sondern nur Imaginäres geben kann. Trotzdem – und hierin folgt er Lévinas – ist der Andere für uns von besonderer Bedeutung, da in der Begegnung mit diesem Verantwortung für den anderen, aber auch für uns selbst entsteht, aber nur, wenn der Andere nicht in die eigene Vorstellung integriert wird, sondern er unendlich bleiben und somit die Idee des Anderen in einem selbst beständig überschreiten kann: „ich war nicht mehr allein, der Andere war da, irgendwo; meine Gefühle strebten zu ihm hin, wie sich alle Lebewesen der Sonne zuwenden; Gefühle und Empfindungen müssen wohl etwas treffen, das ihnen gleich ist, um weiterzubestehen; […]; das Gefühl braucht das Gegenüber; dadurch wird es reich; selbst das Gefühl, am Leben zu sein, entsteht aus dieser Schwingung“.

Mittels der Verrückung des deportierten Afrikaners in das Zentrum seiner Neuschreibung des Robinson Crusoe ist es Chamoiseau möglich, gleichzeitig eine Geschichte der Einsamkeit zu schreiben, die die Fähigkeit besitzt, dass ein Leser, der das einsame Leben inmitten der Großstadt führt, seine Abschottung kritisch reflektieren und aufbrechen kann, andererseits aber auch jene Leerstelle des historischen Diskurses aufs Papier zu bringen, die durch die Deportation der Afrikaner geformt wird. Nicht nur das Imaginäre bedingt somit jene elliptische und wirbelsturmartige Schreibweise dieses Romans, sondern auch der Versuch, literarisch etwas darzustellen, was sich eigentlich jeglicher Darstellung entzieht: die transgenerationelle Traumatisierung und das Fortwirken der Deportation und Sklaverei im kollektiven Unbewussten der antillanischen Gesellschaft.

Diesem Autor aus Martinique ist mit Die Spur des Anderen ein Roman gelungen, der es nicht nur schafft, eine Geschichte zu erzählen, deren Zentrum eine Leerstelle – der fehlende Ursprung der afrikanischen Bevölkerung auf den Antillen – darstellt, sondern auch eine Öffnung für das Unvorhersehbare, das Unmögliche vom Leser zu fordern; nicht nur bezogen auf das Einlassen auf seine spiralförmig Erzählweise, die um die Vorstellung vom Anderen kreist, sondern auch in Hinblick auf eine neue Möglichkeit, dem Anderen zu begegnen: „während dieser zwanzig Jahre, Herr, stand ich der Insel von Angesicht zu Angesicht gegenüber, mit dem ständigen Gefühl einer Bedrohung; meine Anstrengungen hatten dazu gedient, mich in meinen Trugbildern zu verschanzen, wir waren füreinander daher gewiss unsichtbar geblieben; […]; die Insel hatte nur für mich und durch mich existiert; ich war meine eigene und einzige Realität gewesen; er, jener unerwartete Andere, hatte mich nicht allein mit seinem Fußabdruck zur Explosion gebracht, ich entdeckte auch, wie er die ganze Insel in eine Ansammlung atemberaubender Erscheinungen explodieren ließ“.

Die Weise, wie Chamoiseau den Leser mit in den inneren Bewusstseinsstrudel des Protagonisten Ogomtemmeli zieht, mag den Leser aus dem europäischen Kulturkreis zunächst verunsichern, da die Desorientierung des Protagonisten in einer überbordenden und spiralförmigen Schreibweise ausgedrückt wird, so dass jeder Versuch, diesen Text in feste Strukturen einzugliedern, dem Scheitern entgegenläuft. Doch letztlich ist der Autor nur konsequent, indem er das, was er mittels dieses literarischen Textes einzufordern scheint – eine Öffnung für das Diverse, das Absurde und das Unbekannte – auch formal mittels einer überbordenden Stilistik ausdrückt. Denn in diesem Roman wird der Wandel eines Menschen gezeigt, der zunächst verängstigt und ablehnend auf seine Umwelt reagiert, um letztlich doch das Unbekannte in das eigene Denken zu integrieren, wenn er denjenigen, die am Ende nicht nur imaginär, sondern als reale Personen auf seiner einsamen Insel erscheinen, majestätisch und gemessen – erfüllt von „einer inneren Heiterkeit, als wäre er einer der Weisen vom Ufer des Nils zur Zeit der Pyramiden“ – entgegentritt; ganz so, wie es Chamoiseaus Vordenker, der martinikanische Intellektuelle Édouard Glissant, in seiner Abhandlung Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit einfordert.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen. Roman nach Robinson Crusoe.
Aus dem Französischen übersetzt von Beate Thill.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2014.
271 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783884234440

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