Ich steh auf Niedergang

„Apollokalypse“ von Gerhard Falkner ist eine Hommage an ein Berlin, das so nicht mehr existiert

Von Tobias SiebertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Siebert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wo ist das Berlin der Aufbrüche, der Revolutionen geblieben? Die Stadt der Verrückten, der Manischen und Liebenden? In Falkners Roman findet sich bei Weitem keine Antwort auf diese Fragen, doch er führt in eine Zeit zurück, die an der Oberfläche aufregend zu sein schien, im Innersten aber eine tiefe Zerrissenheit aufzeigt.

Gerhard Falkner, Jahrgang 1951, ist Lyriker, Dramatiker, Essayist und nun auch Romanautor. Seit den frühen 1980er-Jahren veröffentlichte er Lyrik, zunächst im Luchterhand Verlag, später bei Suhrkamp und im Berlin Verlag. Sein Romandebüt „Apollokalypse“ dringt in das Berlin der 1980er und 1990er ein, eine Stadt, die beherrschst ist von Geschichten zusammengesetzt aus Sex, Drogen und Rock ’n’ Roll. Dort leben Männer, die auf einem Spielplatz toben, in dessen Mitte sich eine gigantische Wippe befindet. An deren Enden halten die Liebe zur Kunst und der Drang zur Selbstzerstörung das Gerät unaufhörlich in Bewegung.

Der Ich-Erzähler, Georg Autenrieth, gleicher Jahrgang wie Falkner, gerät sowohl in Kreise von RAF-Sympathisanten als auch in den Dunstkreis der Stasi. Er ist ein sexbesessener Narzisst, doch genauso ergriffen ist er von Literatur und Musik. Seine Freunde oder Bekanntschaften Heinrich Büttner und Dirk Pruy sind genauso getrieben wie Autenrieth selbst. Büttner ist ein Geschöpf der Nutella-Generation, „ein Prototyp aus Weichling, Erbe und Clown, der ausschließlich von Fernsehen, Popmusik, Comics und Konsum lebte.“ Sie sind schizophren und geteilt, wie die Stadt, in der sie sich aufhalten.

Immer wieder verdrehen Frauen den Protagonisten die Köpfe. So auch die Kunststudentin Isabel, die als Femme fatale in ihr Leben tritt. „Wenn man verliebt ist und gut gefickt hat, verdoppelt die Welt ihre Anstrengung, in Erscheinung zu treten“, so der erste Satz des Romans. Tatsächlich wird in „Apollokalypse“ Sexualität in allen Formen und Varianten jederzeit von allen Beteiligten bis ans Limit ausgelebt, als Antrieb, Befreiung und Erlösung. Eine Form von Schönheit, die die Figuren gleichzeitig näher an den Abgrund bringt.

Schon der Titel, ein Neologismus, deutet auf die Verschmelzung von Rettung (Apoll, die Gottheit des Lichts, der Heilung und der Künste) und Untergang (Apokalypse, das Ende der Welt) hin. Die Figuren führen ein Leben zwischen den Extremen, die eine Stadt wie Berlin zu bieten hat. Rauschende Feiern, das ständige Konsumieren von Drogen und die Möglichkeit, in Cafés mitten in der Stadt unterzutauchen und tagelang zu verschwinden. Berlin wird zur Heimat und führt ins Verderben.

„Apollokalypse“ ist eine Ansammlung von Anekdoten, Orten, Gefühlszuständen, die aus heutiger Sicht sicherlich nur schwer nachzuvollziehen sind. Mit mehr als nur einer oberflächlichen Beschreibung einer Zeit des Aufbegehrens, des Entdeckens, lässt Falkner seine Figuren bis in die dunkelsten Ritzen der Stadt eintauchen, um sie aus dem Innersten heraus darzustellen. Er bedient sich dabei einer kulturellen Referenzliste vom SO36 über David Byrne bis hin zu Thomas Mann, die einen eigenen Anhang verdient hätte. Berlin ist dabei keineswegs nur Schauplatz der Geschichten, vielmehr ist sie das handlungstragende Element, Wegweiser und Kern aller Figuren.

Den schnellen Konsum des Romans verhindert Falkners verdichtete Sprache, die immer wieder auf seine lyrische Vergangenheit verweist. Mit seinem Romandebüt gelang Falkner der Sprung auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2016. Nachdem bereits im letzten Jahr mit Frank Witzels „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ der Preis an einen Roman verliehen wurde, der mit ungeheuerlicher Kraft die Zeit der 1960er- und 70er-Jahre schildert, war wohl kaum zu erwarten, dass Falkner sich, trotz anfänglicher Favoritenrolle, ernsthafte Chancen ausrechnen durfte. Bereits auf der Shortlist war sein Name nicht mehr zu finden. Verständlicherweise, denn „Apollokalypse“ ist kein Roman für die Bestsellerliste, es ist ein Werk, das Zeit, Geduld und Kenntnis erfordert, um in die einzigartige Periode vor und nach den Wendejahren einzutauchen und sie zu begreifen. Mitunter kann dieser Verstehensprozess noch Jahre andauern, bis die Erinnerungen an nachfolgende Zeiten überwiegen; erst dann könnte sich vielleicht die gesamte Kraft von Falkners Hommage entfalten.

Titelbild

Gerhard Falkner: Apollokalypse. Roman.
Berlin Verlag, Berlin 2016.
430 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783827013361

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