Blitzlichter auf ein Leben

Ilse Aichinger ist 95jährig verstorben

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Sie konnte so herzhaft lachen, dann warf sie den Kopf zurück und hielt die Augen geschlossen. Oder sie schmunzelte vor sich hin und hielt den Zeigefinger wie ein Schulmädchen vor den Mund. Sie las selbstvergessen, eingewühlt ins Sofa, die Beine  angezogen. Im neutralen Ambiente des Wiener Caféhauses Dehmel saß sie, den linken Arm aufgestützt, mit der rechten Hand unaufhörlich schreibend, während ein verschmitztes Lächeln über ihr Gesicht huschte. Sie glaubte sich unbeobachtet auf dem einsamen Waldweg und legte übermütig einen Tanzschritt ein. Müde, abgespannt hat sie sich im Korbsessel zurückgelehnt, die Lider verhangen, den Mund bitter zusammengepresst.

So fotografierte Stefan Moses Ilse Aichinger. Seit den 1970er Jahren hatte er in zusammenhanglosen Folgen ihr Leben begleitet – „fließende Fotografien“ waren so entstanden, die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft der Autorin  miteinander verbinden. Der Fotoband „Ilse Aichinger – ein Bilderbuch“ von Stefan Moses (S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006) enthält zudem 10 Texte aus den 6 Prosabüchern Aichingers und 15 Gedichte aus ihrem Gedichtband „Verschenkter Rat“. Eingeleitet wird er durch den nachdenklich stimmenden Essay „Ilse Aichinger 2006“ von Michael Krüger. Ilse Aichinger bleibe die „Dichterin des Unerledigten“, schreibt dieser. Eine Hommage für die damals 85jährige Schriftstellerin. „Kultautorin“ hat man sie in den Geburtstagsartikeln immer wieder  genannt, aber dieses Modewort hätte sie sich wohl ironisch verbeten, wenn sie es gekonnt hätte.

„Dichterin des Unerledigten“? Wie in den Fotos von Stefan Moses reihen sich auch in Aichingers Geschichten Szenen oder Bilder aneinander, ohne dass eine Logik darin erkennbar wäre. Zudem steht oft der Rahmen einer Geschichte in keinem Verhältnis zu den Größenordnungen unserer Welt.

Die eigenwillige Stimme Ilse Aichingers hat immer einen tieferen Begriff von Wirklichkeit zu vermitteln gesucht. „Die größere Hoffnung“ (1948), das war der Nachkriegs-Roman der poetischen Bewältigung der jüngsten Vergangenheit. Die Bedrängnis, in der sich hier die halbjüdische Heldin und ihre Freunde befinden, wird mythisiert, es kommt zu einer umfassenden Betrachtung des Seins und Werdens, die Aichingers nächstes Werk, die Erzählungen des Bandes „Der Gefesselte“ (1952) ankündigt. Auch hier verzichtet die Autorin auf das Epische, entscheidet sie sich für Ausnahmesituationen. Das bekräftigt den parabelhaften Eindruck, den schon „Die größere Hoffnung“ hinterließ. Mit ihrer Kurzgeschichte „Der Gefesselte“ erschien sie 1951 zum ersten Mal vor der Gruppe 47 und erhielt im folgenden Jahr den Preis der Gruppe für ihre dann berühmt gewordene „Spiegelgeschichte“.

In den 1960er Jahren treten dann keine Kausalzusammenhänge mehr in Erscheinung. Die Szenen in den Bänden „Nachricht vom Tag“ (1954), „Wo ich wohne“ (1963) und „Eliza, Eliza“ (1965) heben sich ohne Symbolbezug aus der Selbstverständlichkeit des irdischen Lebens. Die in „Schlechte Wörter“ (1976) erschienenen Texte bezeugen eine erneute Radikalisierung der Autorin. Der Leser muss sich mit aneinander gereihten Situationen, Gefühlen und Überlegungen begnügen. Metaphorisch werden Grenzsituationen in Bildern von Orten dargestellt, wie Inseln (Sylt in „Besuch im Pfarrhaus“), Ufer („Nachmittag in Ostende“, „Die Schwestern Jouet“), Häfen („Die größere Hoffnung“, „Gare Maritime“). Dann fallen Ort und Zeit zusammen, um eine Erscheinung der „Welt hinter der Welt“ zu ermöglichen. In keinem ihrer Werke wird übrigens der Ort des Geschehens beschrieben, er wird „vergeistlicht“.

Alle Bücher Aichingers haben stark autobiographische Züge, und da stellt sich wieder der Zusammenhang mit den Fotografien von Stefan Moses her. In ihrem Werk lassen sich enge Zusammenhänge mit der Biografie der Autorin nachweisen und tatsächliche Vorkommnisse sind oft Anstoß zum Schreiben. Dennoch ist sie keine autobiografische Schriftstellerin. Bei ihr entfalten sich die schöpferischen Möglichkeiten des Spiels, die Grenzen der Wirklichkeiten zu überschreiten. Die Verfasserin erblickt die Welt aus der Ameisen- wie der Vogelperspektive. Wie ein Gewebe durch die abwechselnde Überkreuzung seiner Längs- und Querfäden gebildet wird, so verdankt sich die Struktur etwa der „Unglaubwürdigen Reisen“ (2005) der gegenseitigen Durchkreuzung der über-, unter- und nebenordnenden Prinzipien von Steigerung und kreisender Wiederholung. Bremst die Wiederholung die Hierarchie der Steigerung, so dynamisiert die Steigerung die Monotonie der Wiederholung. Gewinnt die Wiederholung der Steigerung immer neue Bedeutungsdimensionen ab, so ermöglicht die Steigerung den Zusammenhang der einzelnen Variationen.

Hoffnung ist mit dem Motiv der Grenzsituation ein Leitgedanke in ihren Werken. Ihr Mann Günter Eich, den sie in der Gruppe 47 kennen lernte und der 1972 starb, wusste das zu theoretisieren, zu formulieren, was Aichinger intuitiv zur Sprache brachte, was sie poetisierte. Über die üblichen Kategorien der Wirklichkeit und Fiktion setzte sich Aichinger hinweg. Für sie war das Augenscheinliche nur eine Erscheinungsform der vielschichtigen Realität. Alles bei ihr, scheint es noch so „absurd“ zu sein, ist ein Versuch, der Wirklichkeit näher zu kommen, sie heraufzubeschwören. Seit den 1960er Jahren verzichtete sie auf Umschreibungen, Vergleiche, Superlative und bevorzugte einfache, „lautlose“ Wörter, die sie rehabilitierte, indem sie sie für sich allein stehen und die ganze Aussage auf sie beruhen ließ. In „Schlechte Wörter“ verabschiedete sie ihre knappe, aber bedeutungsvolle Ausdrucksweise und griff verzweifelt auf das Gegenteil zurück, auf klischeehafte, verflachte Redensarten. Um dennoch eine fruchtbare Stille zu erreichen, die ihre „genauen Ahnungen“ übermitteln sollen, ließ sie ihre Texte in Gedanken- und Sprachfetzen verfallen.

„Wo ich wohne“ – der Erzähler findet seine Wohnung nicht mehr am üblichen Platz. Da niemandem etwas aufgefallen ist, kann er annehmen, dass es die „Verwandlung“ gar nicht gibt. Da die Wohnungsverlagerung stets eine Abwärtsbewegung darstellt, ist sie vielleicht eine Chiffre für die zunehmende Introvertiertheit des Mannes, für die totale Vereinsamung. In den Erzählungen von „Schlechte Wörter“ (1976) fehlt meist die Handlung. Das Gewicht liegt auf der Reflexion und der emotionalen und intellektuellen Reaktion auf angedeutete Phänomene. Die Perspektive wird häufig gewechselt, die Geschichten schließen sich nicht, verändern sich während des Erzählens in andere Geschichten, werden austauschbar.

In alle Himmelsrichtungen, Länder und Orte können die „Unglaubwürdigen Reisen“ (2005) führen. Vor die Haustür, in den nächsten Wiener Bezirk oder bis in den Kaukasus und nach Shanghai. England ist das eigentliche Sehnsuchtsziel. Hier lebt die Zwillingsschwester Helga, seit sie 1939 mit einem der letzten Kindertransporte aus Österreich ausreisen konnte. Ilse Aichinger war Halbjüdin. Während des Krieges war sie dienstverpflichtet. Ihre Verwandten mütterlicherseits waren rassischen Verfolgungen ausgesetzt oder starben in den Vernichtungslagern. Innerhalb von drei Jahren – 2001 bis 2004 – hat Ilse Aichinger jeweils donnerstags am Kaffeetisch des k. und k. Hofzuckerbäckers Demel für die Wiener Tageszeitung „Der Standard“ ein Reisefeuilleton verfasst. Sie verbringt den ganzen Vormittag dort bis zum Kinobesuch am späten Nachmittag. Sie liest und gibt sich Erinnerungen hin, sie zitiert und beschreibt, erzählt Geschichten, bis irgendwann, bei einem nebensächlichen Detail, der Funke vom Fremden, Abseitigen zum Eigenen, Unerwarteten springt. Reisen heißt für die Autorin im alltäglich Gewohnten zu bleiben – Reisen in die Geschichte, Begegnungen durch die Zeiten hindurch, „Schattenrisse“ der Erinnerung also. Ihre Texte führen oft bis an den Rand des Verstummens. Die reale Basis kann mitunter nur noch indirekt erschlossen und erraten werden, auch wenn in den Geschichten wieder mehr Details aus der Außenwelt – der eigenen Familiengeschichte, von Zeitgenossen, Vorbildern und Schreckensbildern – eingebracht werden. Sie kreisen um Erinnerungen und Begegnungen, Verfolgung, Ausreise, Flucht, Leben – Leben hier und Leben da –, Reisen – realen und imaginären, glaubwürdigen und unglaubwürdigen –, Sterben und Tod.

„Eine Zigarre mit Churchill“ heißt die erste Geschichte. „Wenn einer eine Reise tut, so kann er nichts erzählen: Das fiel mir schon  ziemlich früh auf. Die unglaubliche Sprachlosigkeit Gesellschafts- oder auch Einzelreisender: Sie reicht nicht zur Stille, um so mehr zur Stummheit. Das gibt dann Lichtbildervorträge“. Bei jeder Englandreise stattet die Ich-Erzählerin dem Wachsfigurenkabinett der Madame Tussaud in London ihren Besuch ab. Als Wachsfigur sieht Hitler am Eingang der „Chamber of Horrors“ genauso unbedeutend aus wie in Wirklichkeit, stellt sie fest. Dagegen würde man gerne das Winston-Churchill-Modell „auf eine Zigarre einladen, an Hitler vorbeispazieren und Zigarrenasche fallen lassen“.

„Die frühen Blicke in Anstaltsgärten“: Keiner kann seine Kindheit selbst wählen. Für die Ich-Erzählerin war sie Linz und der tägliche Spazierweg von der von unbezahlten Büchern des Vaters überbordenden Wohnung zur Landesirrenanstalt mit ihren freundlichen Insassen. „Bis der Himmel über Linz und der Donau den Linzer Schläfern recht gab und den Grat zwischen Glaubwürdigkeit und Unglaubwürdigkeit kurz besänftigte“. In Wien bleiben die Katastrophen im Verborgenen („Die blaue Milch der Grünangergasse“). Das Hauptquartier der Gestapo im ehemaligen teuren Hotel Metropol, aus dessen Keller die Schreie und Kreuzverhöre nicht nach außen drangen, befand sich ebenso in der Wiener Grünangergasse wie das Gasthaus zum Grünen Anker, dessen Besitzer noch eine Zeitlang die Juden in ihren Verstecken „nicht nur mit den besten seiner Weinvorräte“ versorgen konnte.

Oder „Pippi Langstrumpf im ‚71er’-Wagen“: Astrid Lindgrens Tod habe die Erzählerin verunsichert. „Ihr Sterben verlief wie leichte Erdbeben, die schwereren vorausgehen oder sie verhindern: Ihre Freunde sagen, sie hätte, entkräftet, ihren Tod herbeigesehnt“. Aber Pippi Langstrumpf, die Pillen gegen das Erwachsenwerden nahm, ist längst in Wien eingetroffen und überholt spielend die schnellste und meistfrequentierte Straßenbahn 71, die zum Zentralfriedhof führt. Und wurde nicht zum 80. Geburtstag der schwedischen Schriftstellerin in ihrem Lande die Lex Lindgren zum Schutze der Tiere erlassen?

Die „unglaubwürdigen Reisen“ führen die Medizinstudentin Ilse Aichinger in die Wiener Anatomie, nach dem mährischen Zauchtl, in dem 1868 die Großmutter geboren wurde, unweit von Freiberg, dem Geburtsort Sigmund Freuds, und auf den Spuren des Urgroßvaters in den Kaukasus. „Geblieben ist die Neugier, die Lust an anderen Existenzformen, die täglich jeden Augenblick wieder so unglaubwürdig wie möglich machen“. Günter Grass wird ihr, als sie sich einer komplizierten Oberschenkelhalsoperation unterziehen muss, mit seiner Gelassenheit, seinem „Maß an Lebensfähigkeit“ zum Vorbild. Was wäre gewesen, wenn sein Oskar Matzerath aus Danzig die verfolgte Gruppe von Kindern um Ellen (aus Aichingers Roman „Die größere Hoffnung“) in Wien getroffen hätte? „Hätte der Rhythmus seiner Trommel den Rhythmus der Transporte über die Schwedenbrücke wenigstens ein wenig aus dem Gleichmaß bringen können? Matzerath kam von der Ostsee. Er kann seine Angst nach außen werfen. Ellen nicht“.

„Einmal nicht zu reisen, sondern die Landschaft vor dem Fenster oder die Landschaft des Lebens auf sich zukommen zu lassen“, ist Aichingers erklärter Wunsch. Warum also Reisen? Warum Amerika? Lieber eine Schachpartie mit einer der fünf Tanten von Lewis Carroll als die vielgerühmte Skyline New Yorks bewundern. Zugleich gesteht sie ein, dass ja das gerade das Positive Amerikas ausmacht – „hingehn, wo immer man will. Also auch wieder fort“. Und der Leser wird wohl ihre Erfahrung teilen: „Der Ort, an dem man für immer bleibt, wird ohnehin rasch der fremdeste von allen, ohne Absprungschanze, etwas für Ausbruchsversuche, aber zementiert wie die Hochsicherungshaftanstalten in den USA“.

Den „Unglaubwürdigen Reisen“ des ersten folgen die „Schattenspiele“ des zweiten Teils: „Menschen, die am Rande stehen, die nicht in Zeitungen oder auf Partys glänzen. Nur sie bleiben in Erinnerung, sie mit ihren Sterbensarten“. Der Psychologe Alfred Adler, der immer im Schatten Freuds stand, dem die Flucht nach England gelang und der unvermittelt und einsam 1937 in Aberdeen starb – „ein konsequent zu Ende definiertes Schattenspiel“? Der Silvestertag, die Neujahrswünsche der Erwachsenen, das „Heute“, das die kleinen Kinder sagen, wenn sie verzweifelt auf etwas bestehen: „das ist der Tag, der morgen endgültig vorbei ist“. Der junge Mann, den die Nachricht, er sei „HIV-positiv“, nur noch ein Ziel verfolgen lässt – ein Grab in Berlin, neben Marlene Dietrich, zu erhalten. Als ihm das gelingt, wird die Diagnose dementiert, er ist gesund, und nun bleibt ihm „nichts anderes mehr, als mit einer unabsehbar verlängerten Existenz fertig zu werden“.

„Schatten wechseln, streifen leicht vorbei, lindern, kühlen, aber ihre Möglichkeiten werden von dem bestimmt, der sie wirft“, so beginnt die Hommage auf den 2004 verstorbenen Lebensgefährten, den Literaturwissenschaftler und Kritiker Richard Reichensperger, der das Leben als Geschenk nahm. Er war es gewesen, der sie nach jahrelangem Schweigen wieder zum Schreiben veranlasst hatte. „Uns bleibt die Hoffnung, dass das Geschenk seines Lebens an uns nicht verloren ist“. Der Nachruf auf den „armen Thomas“ – Thomas Bernhard – ist bei all seiner Kürze wohl der ergreifendste, der über ihn geschrieben wurde. Kein Schattenspiel ist die Geschichte „Nobelsonne“, in der sich Aichinger mit den Gründen für den Verfall des Wertes des Nobelpreises auseinandersetzt. Warum kräftigt die Grießnockerlsuppe vom Morzinplatz „für das Kommende und vor allem für einiges, was nicht kommt oder nie mehr wiederkommt“? Was hat das Ende des Zahnarztes der Zwillingsschwestern in einem der vielen Vernichtungslager mit der „Erlebnisgarantie“ zu tun, die der Reiseführer für Shanghai anbietet? „Haben schon gewählt?“, heißt es immer noch beim k. und .k. Hofzuckerbäcker Demel. Aber welche Wahl im Leben ist schon offen.

„Der Tod ist der Tod, ein Zustand, kein Prozess wie das Sterben“, betonte die Schriftstellerin in einem Gespräch vor gut zehn Jahren. Deshalb sprach sie auch von „Sterbensarten“, nicht – wie das Ingeborg Bachmann getan hat – von „Todesarten“. Nicht der Tod mache ihr Angst, sondern das Sterben. Schreiben heiße deshalb für sie: Sterben lernen.

Nun hat sie, die so bezwingende große alte Dame aus Wien, die „Dichterin des Unerledigten“, ihre „Lebensreise“ beendet, mit ihren Texten aber bleibt sie bei uns, Texten, aus denen wir das Leben wie auch das Sterben lernen können.