Das europäische Mittelalter – ein eurasisches Mittelalter?

Hermann Kulke plädiert für eine transkulturelle Mediävistik im eurasischen Kontext

Von Martin BaischRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Baisch

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Lange Zeit herrschte in der geschichtswissenschaftlichen Mediävistik die Auffassung vor, dass das Mittelalter einzig und lediglich ein Phänomen der europäischen Geschichte ist. Das Anliegen des Indologen Hermann Kulke in dem hier anzuzeigenden Jahresvortrag an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften vom 17.02.2015 ist es demgegenüber, „die keineswegs unbekannte, aber m.E. bisher viel zu wenig beachtete buchstäblich zentrale Rolle hervorzuheben, die Zentralasien und die von dort ausgehenden Migrationen in den gesamt-eurasischen historischen Prozessen bis in das Mittelalter spielten. Denn in unseren (…) globalhistorischen Überlegungen stand und steht Zentralasien noch immer im Schatten der großen Kulturen und Geschichte Eurasiens, also Ostasiens, Indiens, des Vorderen Orients und Europas.“

Kulkes überzeugender und aspektreicher Beitrag zur Debatte gliedert sich in drei Abschnitte: Der erste präsentiert einen prägnanten Forschungsüberblick, der wichtige Positionen der geschichtswissenschaftlichen Diskussion beschreibt und analysiert. Dabei bezieht sich Kulke vornehmlich auf die einschlägigen Arbeiten von Janet Abu-Lughod, Kirti Chaudhuri und Victor Liebermann, die in besonderer Weise die Fragestellung nach einem eurasischen Mittelalter präzisiert haben. Darauf folgt eine ereignisgeschichtlich orientierte Darstellung, die in interdisziplinärer Perspektive die entscheidenden Etappen rekonstruiert und dabei die eurasischen Wirkungszusammenhänge von der frühen Geschichte bis in die Zeit des europäischen Mittelalters belegt. Es gelingt Kulke hier, das Vorhandensein transkontinentaler Migrationen und transkultureller Verflechtungen in der eurasischen Geschichte zu untermauern: „Die Zeit des Mittelalters stellt einen Höhepunkt intensiver, jahrtausendealter vormoderner eurasischer Wirkungszusammenhänge dar, die in ihrer späten Phase zur Entgrenzung Europas und seines herkömmlichen Weltbildes beitrugen.“ Die Geschichte der wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Verflechtungen im eurasischen Raum ist aber auch eine der kriegerischen Expansionen und militärischen Vorstößen, der andauernden Konflikte und zerstörerischen Kriege.

Im letzten Abschnitt seines Vortrags widmet sich Kulke den scheinbar zusammenhanglosen Beispielen von ‚strange parallels‘ (Borgolte/Liebermann). Zu diesen zählen etwa die Skulpturen des Buddha – „das bekannteste hellenistische Erbe in Asien“. Ein weiteres Zeugnis transkultureller Begegnungen stellen die sassanidischen Seidenstoffe dar, die sich in Japan und Deutschland finden. Diese zirkulierten zunächst als Geschenkgaben in Persien, China und Japan. Arabische und byzantinische Kopien dieser Stoffe kamen weiter bis nach Europa: „Beispiel dafür ist ein sassanidischer Seidenstoff aus Köln, der den persischen König bei der Jagd zeigt. Es entstammt dem Grab Kuniberts, der als Kanzler des fränkischen Königs seit 623 Bischof von Köln war.“ Berühmt ist auch der sogenannte „Elefantenstoff“ aus Aachen: In diesen, eine Kopie des 607 nach Japan gelangten Textils, hatte Otto III. im Jahr 1000 den Leichnam Karls des Großen legen lassen. Emphatisch wertet Kulke diesen Transfer wie folgt: „In Anbetracht der Herkunft und Verbreitung dieser Seidentücher könnte man versucht sein, von einer mittelalterlichen höfischen Wertegemeinschaft im eurasischen Raum zu sprechen.“ Als letztes Beispiel führt Kulke mit dem Speyrer Dom und dem Tempel von Tanjore (Tanjavur) zwei Sakralbauten des frühen 11. Jahrhunderts an, die in Hinblick auf ihre Entstehungsgeschichte und ihre Funktion ‚strange parallels‘ aufwiesen.

Der Vortrag schließt mit Überlegungen zur Plausibilität eines eurasischen Mittelalters, die sich der Heterogenität des so faszinierenden, tradierten Materials zu stellen hat. Epistemologisch setzt Kulke dabei zwei Möglichkeiten an: In Bezug auf das Kriterium der Periodisierung lassen sich durchaus Belege anführen, die etwa für Indien, China und Japan ein Mittelalter möglich erscheinen lassen. Der hermeneutische Ansatz fragt nach den kulturellen und sozio-ökonomischen Bedingungen, die „das Mittelalterliche am Mittelalter“ (Fuhrmann) ausmachen und die in Hinblick auf die Existenz eines eurasischen Mittelalters anzusetzen sind. In engem Zusammenhang damit steht die Frage nach Formen eines Feudalismus, der zumindest in Japan und Indien beobachtet werden kann: Kulke zweifelt nicht „an der Existenz feudaler sozio-ökonomischer Strukturen und eines ‚feudal mind‘ im frühmittelalterlichen Indien.“

Die Frage, ob es ein eurasisches Mittelalter gibt, beantwortet der Autor am Ende nicht, vielmehr ergänzt Kulke diese mit einer weiteren Frage, nämlich, ob ein eurasisches Mittelalter nicht eigentlich durch eine Erweiterung der europäischen Mediävistik zu einer transeuropäischen Mittelalterforschung zu untersuchen wäre. Eine solche Erweiterung könnte ebenso der Migrationsforschung dienlich sein, welche die zahlreichen Migrationswellen auch im Mittelalter untersucht. Mit Bezug auf Borgolte ließe sich dann festhalten, dass Europa durch diese „bis in die Gegenwart geprägt“ und „die Vorstellung reiner Völker unhistorisch“ ist, die Furcht Europas aber „am Beginn des dritten Jahrtausends (…) vor einer neuen Migrationsperiode“ vor diesem Hintergrund neu zu bewerten wäre.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Hermann Kulke: Das europäische Mittelalter – ein eurasisches Mittelalter?
De Gruyter, Berlin 2016.
50 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783110476156

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