Loribeth packt ihren Koffer zu voll
Michelle Steinbecks Romandebüt „Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch“ ist experimentell und abgedroschen zugleich
Von Marie-Luise Eberhardt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Neugier erweckende Titel, das Cover – lachendes Strichmädchen mit Vogel auf der Schulter und einer Flasche in der Hand – sowie der Klappentext lassen eine heiter spannende und originelle Geschichte mit Lebensweisheit erwarten. Falsch gedacht. Michelle Steinbeck irritiert schon auf der ersten Seite mit viel Theatralik und mit verbrauchten Motiven, die das Weiterlesen zur Anstrengung werden lassen. Dennoch erwarten die Leser*Innen bei der Lektüre dieses Romans einige sprachliche wie auch gedankliche Bereicherungen.
Loribeth, deren Namen die Ich-Erzählerin erst auf Seite 58 verrät, trifft auf der Straße ein Kind mit blinkenden Schuhen, von dem sie erst beschimpft und später in die Wohnung verfolgt wird. Sogleich lässt sich vermuten, dass dieses Kind das jüngere Ich Loribeths ist (im psychologischen Jargon ein „inneres Kind“), welches sie überwinden will. Als Loribeth aus dem Schlaf aufschreckt und ein heißes Bügeleisen, das ihr vermutlich von ihrem Bruder und dessen Gang auf die Brust gelegt wurde, kurzer Hand aus dem Fenster schmeißt, trifft sie damit ausgerechnet jenes Kind, das sich unerklärlicher Weise wieder außerhalb der Wohnung befindet. Sie schleift das leblose Kind in ihr Zimmer und hofft, dass alles nur ein Traum gewesen ist. Schon bei diesen ersten Seiten, die mit zahlreichen Cuts versehen sind, verwischen Traum und Realität zur Undeutlichkeit und erzeugen eine unsichere Schwebe, in der es schwer fällt, der Handlung zu folgen. Der surrealistische Ton zeigt sich auch sprachlich: „Ich hänge das Kind über die Heizung und setze mich aufs Bett.“
Das Gefühl der Überfrachtung, welches sowohl durch das Meer an Motiven, Handlungssprüngen und Sprachbildern entsteht, bleibt auch bei der Lektüre der weiteren der insgesamt zehn Kapitel bestehen. Ebenso die Untergangsdramatik: Alles scheint nur noch schlimmer und skurriler zu werden. So trifft Loribeth auf dem Friedhof eine Wahrsagerin, die ihr verheißt, dass sie den Koffer samt Kind ihrem Vater, der sie, ihre Mutter und ihren Bruder einst sitzen ließ, zurückgeben muss, um sich von ihm und seinen auf sie projizierten Ängsten zu befreien. „Öffne das Herz, […] die Liebe ebnet den Weg.“ Solcher Lebensweisheiten im Stile von Ratgeberliteratur bedient sich der Text des öfteren.
Eine von der Erzählerin besuchte „rote Stadt“ samt ihrer Bewohner*innen stellt Steinbeck im gleichnamigen Kapitel als besonders trostlos, fast bedrohlich und feindselig dar: „Über den Hauseingängen hängen gehäutete Schafsköpfe, in dunklen Ecken liegen Abfallberge und eingemummte schlafende Menschen.“ Von den dort lebenden Männern wird Loribeth nicht beachtet und als sie nach ihrem Vater fragt, wird sie ohne Erklärung abgewiesen: „Der Mann zischt böse.“ Warum die Autorin dieses negativ besetzte Setting ausgerechnet mit dem arabischen Kulturkreis verknüpft, bleibt gerade in Zeiten von wachsendem Fremdenhass unverständlich. „Es sind überhaupt nur Männer auf der Straße; die Frauen stehen verschleiert auf den Dächern“. Ohne die Schleier-Verknüpfung wäre der Geschichte inhaltlich nichts verloren gegangen. Damit könnte der Autorin allerdings eine Verbindung zwischen Bedrohung, Bösartigkeit und arabischen Kulturkreis unterstellt werden.
Das Ende verspricht nochmal ein explosives Finale der Extraklasse, wobei der Ich-Erzählerin ganz zum Schluss einmal mehr die Sonne direkt ins Gesicht scheint und die Krähen tatsächlich aufgehört haben, die Nuss knacken zu wollen. Denn Glück ist ein Zustand des Stillstands und damit gar nicht so erstrebenswert, wie man glauben mag.
Mit der phantastischen, skurrilen Entwicklungsgeschichte Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch, die an E.T.A. Hoffmanns Fantasiestücke erinnert, wählt die junge Autorin eine Herausforderung, denn das Genre hat eine große Tradition. Eine Tradition, bei der Übertreibungen und Wiederholungen nur schwer zu umgehen sind? Dennoch zeigt Steinbeck sowohl inhaltlich als auch sprachlich an einigen Stellen, dass sie nicht auf bereits Vorhandenes zurückgreifen müsste, sondern auch ihre eigene Geschichte erzählen kann. So überzeugt sie teilweise mit einer starken und originellen Bildhaftigkeit. Die poetische und verkürzte Sprache des ersten Romans der Autorin ist durch ihr bisher vorwiegend lyrisches und szenisches Schreiben geprägt.
Und auch wenn die Autorin zu viel in ihren Koffer gepackt hat: Steinbeck traut sich etwas, probiert sich aus, beweist Fantasie und greift viele Themen auf, vom Erwachsenwerden über Selbstfindung bis hin zu zwischenmenschlichen Beziehungen. Ihre Ich-Erzählerin nimmt kein Blatt vor den Mund, erzählt lässig und unangenehm ehrlich, erscheint lethargisch abgestorben und zugleich hoffnungsvoll. Damit erreicht Steinbeck ein authentisches Bild der angeödeten und dem Sinn des Lebens hinterherschauenden Jugend. Gerade auch das zeitnahe Spiel zwischen Wirklichkeit und Traum gelingt der Autorin und lässt die entstehende Schwebe nach und nach zu einer Herausforderung für die Rezipient*innen werden: Gründe, weswegen Michelle Steinbecks Romandebüt wohl für die Longlist des Deutschen Buchpreises und für die Shortlist des Schweizer Buchpreises nominiert wurde. Mit ihrem vielschichtigen Text provoziert die junge Autorin jedenfalls Lust auf mehr.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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