Extra ordinem
Ein Sammelband widmet sich Ordnungsnarrativen in der Gegenwartsliteratur
Von Michael Braun
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIm Vorwort zu Les mots et les choses (1966) erzählt Michel Foucault, wie die Idee zu diesem Buch zu ihm kam. Schuld war eine Geschichte von Jorge Luis Borges. Darin wird eine chinesische Enzyklopädie zitiert, in der sich die Tiere in folgende Gruppen unterteilt finden: „a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde“ bis zu solchen, „m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen.“
Die Auflistung ist bizarr, hat aber einen bestimmten Zweck. Sie richtet in der Ordnung der Sprache, der alphabetischen Aufzählung, eine Unordnung der Dinge an, in der zum Beispiel Fabelwesen neben zoologischen Exemplaren stehen. Aus dieser ontologischen Unordnung kann es einer „Archäologie der Humanwissenschaften“, so der Untertitel von Foucaults Buch, gelingen, die Wissensordnungen einer Epoche mit dem philosophischen Diskurs über dieselbe in Verbindung zu setzen.
Geht das auch eine Stufe tiefer? Ja, meinen die Herausgeberinnen des vorliegenden Sammelbandes, die Kölner Germanistinnen Antje Arnold und Wiebke Dannecker, und wählen nicht die Immunisierungsstrategien der Klassik oder das Ordnungsmodell des Bildungsromans, sondern die Gegenwartsliteratur zum Gegenstand der Untersuchung. Die aber hat es wiederum in sich, gerade wenn man ihr mit Ordnungsversuchen beikommen will. Denn die Gegenwartsliteratur ist eine ziemlich unordentliche Epoche, ohne richtigen Anfang und mit nie absehbarem Ende, sie grenzt das Feld der Beobachtung durch den Blick des Beobachters ein, des Subjekts der Ordnung, das aus diesem Feld nicht herauskommen kann. Sie ist einfach zu unübersichtlich, um mehr als tendenzkritische oder typologische Breschen in die Produktionswälder zu schlagen.
Dieser Probleme ist sich das Vorwort bewusst. Umsichtig zeichnen die Herausgeberinnen die Entwicklung des literarischen Ordnungsbegriffs von der klassischen Vorstellung (Harmonie, Proportion, Ganzheit, Gleichgewicht, Schönheit) zur postmodernen Unordnung der Dinge (Medialität, Überblendung, Evokation und Montage, Schichtung, Hybridisierung) nach, geben Hinweise auf Rhetorik und Produktionsästhetik der Ordnung – und eine vernünftige Richtung vor, in der sich die Modelle von Un-Ordnung, Einordnung und Neuordnung überhaupt in der Gegenwartsliteratur zu bewähren haben: Ihre Werke, jedenfalls die hier untersuchten, beklagen ja nicht die Abwesenheit der Ordnung, sondern „entwickeln sie produktiv – als Abweichung, Neuordnung, Umstellung und dezidierte Bejahung von Heterogenität“.
Dem Leser werden Perspektiven auf literarische Ordnungsphantasien von Jenny Erpenbeck, Saša Stanišić, Elfriede Jelinek, Günter Grass, Wolfgang Hilbig, Felicitas Hoppe, W.G. Sebald, Arnold Stadler und in der Fan-Fiction vorgestellt. Hier sei nur die ganz vorzügliche Analyse der Abweichungsästhetik in Felicitas Hoppes Hoppe (2012) hervorgehoben. Der Titel legt es nahe, dieses Buch als Selbstbiografie zu lesen, doch die erfundenen Kritiker und Kulturwissenschaftler, die in Hoppe einer ordentlichen Gattung habhaft werden wollen, strafen diesen Versuch Lügen. Hoppe, das ist von Hoppe, aber nicht über Hoppe, es ist eine „als Biographie getarnte Autofiktion“, eine „Eulenspiegelei“, eine „Traumbiographie“, oder, mit den Worten der Autorin aus ihrer Büchner-Preis-Rede, eine Kunst, die Verwirrung präsentiert, aber sie trotzdem ordnet und „wie abwegig auch immer durchaus nach Lösungen“ sucht.
Die Qualität einer „verunordnenden Literatur“ (Christoph Steker) liegt in dieser Poetik der Konfusionsordnung. Literatur kann dann sogar der Erfindung voraus sein und sie in so unordentlicher Form einholen wie der Artikel „Dream comes true for author with Gretzky visit“ in einer kanadischen Zeitung, der davon berichtet, wie die fiktive Begegnung Hoppes mit dem Eishockeystar Wayne Gretzky auf einmal zu einer realen Begegnung wurde. Mit dieser „Kunst der Ordnung“ dürfte die von Foucault beschworene Gefahr, dass der „Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“, gebannt sein, zumindest fürs Erste.
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