Der Sänger der Demokratie als Rächer der Enterbten

Walt Whitman ist einer der Urväter der modernen Literatur. Seinen frühen Zeitungsroman „Jack Engles Leben und Abenteuer“ hat er nicht sehr geschätzt, ein Schmuckstück ist er dennoch

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was seine Jugendwerke angeht, war Walt Whitman anscheinend nicht besonders auskunftsfreudig. Mit der Arbeit an den Grashalmen, deren erste Ausgabe 1855 nur 12 Gedichte auf 100 Seiten umfasste, die jedoch bis zur letzten, eigenhändig betreuten Ausgabe auf über 900 Seiten anwuchs, gerieten seine früheren Arbeiten – Erzählungen und ein Roman – ins Abseits. Nicht ohne Zutun des Autors, der sich intensiv darum bemühte, alle Nachdrucke früherer Arbeiten zu verhindern. Whitman unterdrückte alles, was nicht zum Portfolio des urdemokratischen Dichters gehörte, recht erfolgreich.

Im vergangenen Jahr, beinahe 125 Jahre nach dem Tod Whitmans, ist aber ein weiterer Roman aufgetaucht, der nun gleich in zwei Ausgaben auf Deutsch vorliegt: beim Verlag Das kulturelle Gedächtnis und bei Manesse. Das amerikanische Original ist frei im Netz auf der Website der Walt Whitman Quarterly Review zugänglich.

Hinweise auf diesen Roman gab es im Nachlass, wie Wieland Freund im Nachwort der Manesse-Ausgabe berichtet. In einem von Whitmans Notizbüchern finden sich Skizzen und Notizen zu einer Erzählung über einen Jack Engle, die aber keinem bekannten Text zuzuordnen waren. Die Verbindung zur kurzlebigen, in New York erscheinenden Zeitung „Sunday Dispatch“ hatte bis dahin noch niemand herstellen können, was wohl daran liegt, dass der Fortsetzungsroman, der vom 14. März bis zum 18. April 1852 erschien, nicht gezeichnet war. Selbst die Anzeige in der „New York Times“, die über den Wikipedia-Eintrag einzusehen ist, trägt keinen Verfassernamen, aber den Hinweis, es handele sich um eine Autobiografie. Dass der nie im Buchdruck erschienene Roman Whitman zuzuordnen ist, ist das Verdienst eines jungen Literaturwissenschaftlers von der University of Houston, Texas, namens Zachary Turpin, der einfach die richtige Frage in eine Suchmaske eintrug, die ihn immerhin zu dem Hinweis in der „New York Times“ und schließlich zum anscheinend einzig erhaltenen Exemplar des „Sunday Dispatch“ in der Library of Congress führte, in dem der Roman vollständig zu finden ist. Und schon gibt es eine Neuentdeckung und ein Buch des Monats mehr.

Wobei Whitmans Roman, bei aller Hast, die ihm anzumerken ist, ein Schmuckstück ist. Der Erzähler der vermeintlichen Autobiografie des Arbeitersohns, der als Waisenkind aufwächst und zu einem zwielichtigen Advokaten in die ungeliebte Lehre gegeben wird, geriert sich dabei als souveräner Herrscher seiner Geschichte. Er führt Figuren nach Belieben ein und gibt ihnen jene Noten, die ihm in den Sinn kommen und die sich gelegentlich auch ändern können. Der frühe Kumpel Smytthe wird etwa zum Parteigänger seines Widersachers Covert. Solch erzählerischer Wankelmut ist zwar auch Zeichen für eine hastige Produktion, die dem Druck nur mit Mühe vorausgeht – was zu Konzessionen bei der Planung und Durchführung führen muss. Aber Whitman macht das Beste aus den ungünstigen Bedingungen, unter denen ein Lohnschreiber zu produzieren hat. Denn die Geschichte um den Betrug des Advokaten Covert an seinem Mündel Martha und seinem Lehrling Jack ist höchst amüsant und selbst noch nach mehr als anderthalb Jahrhunderten mit Gewinn zu lesen. Womit unter der Hand eingeräumt werden muss, dass die Geschichte des Lebens und der Abenteuer Jack Engles eine – wenn auch großartige – Schmonzette ist. Ein abgesunkener und doch recht schmaler Dickens, wenn man so will.

Der junge Jack Engle wird von seinen Stiefeltern bei einem Anwalt in die Lehre gegeben. Die Herkunft des Jungen, der mittlerweile 20 Jahre zählt, ist nicht ganz gesichert. In seinen jüngeren Tagen gehört er zu den streunenden Kindern, die das frühe New York kennzeichnen. Der Fotograf Jacobs Riis würde sie um 1890 zum Gegenstand seiner sozialkritischen Reportagen machen. Durch glückliche Umstände gerät Jack jedoch an seine Pflegeeltern und damit in die Bahnen eines bürgerlichen Lebens, dessen Prekarität er nicht müde wird, zu wiederholen. Denn der bürgerliche Wohlstand ist in New York Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreichen Gefahren ausgesetzt. Die Stadt wimmelt von Alten, die Reichtum und Sicherheit verloren haben und einem trüben Ende entgegengehen.

Jack Engle aber steht in seiner Geschichte, die er zum Besten gibt, noch ganz am Anfang und ist, wie sich das gehört, voller Hoffnungen, was das Leben ihm bieten wird. Das betrifft sein Liebesleben ebenso wie seine berufliche Laufbahn. Dass er es bei Covert überhaupt aushält, ist nur dem Umstand zu verdanken, dass er seine Stiefeltern nicht enttäuschen will – auch junge Leute dieser unsicheren Zeiten sind, so weit es geht, guten Willens. Zum Glück, muss man sagen, denn andernfalls wäre sein Leben sicherlich anders verlaufen.

Eine Tages nämlich macht ihm der alte Kanzleidiener Coverts eine Eröffnung, die ihn zutiefst erschüttert: Covert habe vor Jahren ein Mündel aufgenommen, das er von Beginn an ausgenutzt und dessen vom Vater nachgelassenes Vermögen er weitgehend veruntreut habe. Damit aber nicht genug – womit Jack Engle ins Spiel kommt: Der Vater Marthas, der nur durch seinen plötzlichen Tod dem Galgen entkommen ist, wurde wegen eines Mordes verurteilt, an niemand anders als an Jacks eigenem Vater. Aus Buße habe der Mörder ein Drittel seines Vermögens an Jack vererbt, den Rest an seine Tochter Martha. Als Treuhänder aber wurde mangels Alternative der betrügerische Anwalt Covert eingesetzt.

Nachdem das Komplott einmal entdeckt ist, entschließen sich Martha und Jack, das mittlerweile in mobile Papiere angelegte Vermögen bei Covert an sich zu nehmen und zu fliehen. Statt aber die Fliehenden zu verfolgen, setzt der sich seinerseits nach Kanada ab und gilt seitdem als verschollen. Die Dokumente, die sein Kanzleidiener Wigglesworth zusammengetragen hat, sprechen eine derart eindeutige Sprache, dass es für ihn sicherer ist, zu verschwinden. Die Fliehenden, immerhin die Kinder von Opfer und Täter eines Mordes, verlieben sich ineinander und söhnen damit die alte Feindschaft ihrer Väter aus, womit Leben und Abenteuer Jack Englesʼ ihr freundliches Ende nehmen.

Zu freundlich? Für heutige Leser jenseits der Kolportage in jedem Fall. Das Regime, das Whitman aber seinem Zeitungsroman gegeben hat, unterläuft die Banalität und mangelnde Wahrscheinlichkeit seiner Geschichte. Es demonstriert Herrschaft über die erzählte Welt gerade da, wo sie besonders fragil erscheint, denn die Aufdeckung von Coverts Betrug steht lange auf Messers Schneide und ist von zahlreichen Zufällen abhängig, die der Erzähler keineswegs in der Hand hält. Selbst dass Martha und Jack sich ineinander verlieben, ist mehr gesollt als gewollt (eine Inversion der Romeo und Julia-Geschichte). Aber das macht eben nichts, denn gerade diese Spannung macht aus dem Gelegenheitswerk einen gelungenen Fund.

Titelbild

Walt Whitman: Jack Engles Leben und Abenteuer. Roman.
Mit einem Nachwort von Wieland Freund.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Renate Orth-Guttmann und Irma Wehrli.
Manesse Verlag, München 2017.
180 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783717524502

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