Chemische Elemente und ihre Verbindung zum Dichter

Steffen Popp liefert „118 Gedichte“ – Extremgeschöpfe der symbolischen Sphäre

Von Helga ArendRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helga Arend

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Abbildung, die der pyramidenförmigen Anordnung des Periodensystems der Elemente sehr ähnelt, schmückt das Cover des Bandes. Die Buchstaben und Abkürzungen, die für die chemischen Elemente stehen, sind übernommen, aber statt der in der Wissenschaft üblichen Auflösung, wie zum Beispiel Fe für Ferum, übersetzt aus dem Lateinischen für Eisen, steht hier in kleinen Lettern „Fenster“ als Begriffserläuterung.

Fenster steht im Mittelpunkt des Systems auf dem Coverbild; und mit einem Text, der Bezüge zum Fenster aufweist, beginnt das Buch. In der untersten Zeile des Textes steht „Fenster“ als letztes Wort allein, fast wie ein Titel, der den Text zusammenfasst; dieser Titel steht nicht wie sonst üblich am Anfang und weist darauf hin, was danach kommt, sondern als Resümee am Ende und verändert die Blickrichtung. Angeordnet sind die einzelnen Elemente von diesem Zentrum des Cover-Bildes aus nach außen hin: Eine visuelle Struktur wird dann chronologisch nacheinander in eine lineare Folge gebracht, da Texte meist nur linear wahrgenommen werden. Obwohl das Muster des Periodensystems zunächst so aussieht, als hätte man ineinander geschachtelte Vierecke vor sich, kann der Betrachter einen Weg vom Inneren des Systems nach außen verfolgen. Schon das Cover, das auf den ersten Blick nur zum Teil sichtbar ist, wirkt auf mehreren Ebenen verwirrend, weil es übliche Wahrnehmungsmuster durchbricht. Auch für ChemikerInnen, die das Bild des heute gebräuchlichen Periodensystems vor Augen haben, ist es verwirrend, da das Periodensystem auf dem Cover zwar sofort als solches erkennbar ist, aber von dem allgemein gebräuchlichen abweicht. Bei diesem System sind die Elemente in Form einer Pyramide von innen nach außen abgebildet, je nachdem, wie viele Schalen das Element um den Atomkern aufgereiht und angeordnet hat. Schalen bezeichnen den Aufenthaltsort der Elektronen um den Atomkern. So steht in der Mitte Wasserstoff, das Element H, das die einfachste Elektronenkonfiguration aufweist.

Den Band mit einer Zahl, hier der Anzahl der Gedichte zu betiteln, entspricht ebenfalls nicht dem Erwartbaren. Eher würde man einen Titel erwarten, dessen Wortwahl freie Assoziationen weckt. Aber hier erscheinen zunächst Zahlen und chemische Zeichen. Jemand, der sich in der Chemie ein wenig auskennt, weiß, dass das Periodensystem üblicherweise 118 Elemente verzeichnet. Im Zusammenhang mit Gedichten stellt sich aber die Frage, wie Chemie und Lyrik nun verkoppelt werden. Erst am Ende des Buches in den Anmerkungen findet sich eine Antwort darauf, warum das Periodensystem die äußere Struktur des Bandes mitprägt: „Als Extremgeschöpfe der symbolischen Sphäre diesem System gleichsam gegenüber definieren die Gedichte dieses Buches ihre eigenen Elemente – eine Folge (Feld und Wolke) elementarer Bezugsgrößen ihres Autors.“ Nach dieser Erläuterung sind die RezipientInnen am Ende doch wieder bei der üblichen Lesart von Gedichten angekommen, nämlich der oft verbreiteten Annahme, dass Lyrik als eher subjektiv und gefühlsorientiert eingestuft wird.

In Popps Gedichten aber wird nicht eine Trennung der Natur- und der Gefühlswelt herbeigeführt, sondern die naturwissenschaftliche Form ist hier sozusagen die Außenhaut, die Klammer und der Rahmen, der die innere Welt zusammenhält; ohne diesen Rahmen, der ihr Halt und Ordnung gibt, könnte die textuelle Innenwelt nicht existieren. Das Buch stellt schon durch seine äußere Gestaltung eine Art Gesamtkunstwerk dar, das eine Zusammenschau der beiden Welten Naturwissenschaft und Leben des Einzelnen mit seiner Gefühlswelt und der Kunst herstellt. Alles erscheint als eine klare Ordnung, in der schwarze Seiten, die mit den lateinischen Zahlen I bis X versehen sind, die Blätter des Buches in eine überschaubare Unterteilung bringen, sodass zehn Kapitel ersichtlich sind; zusätzlich geben Striche und Linien Orientierung. Die Seiten sind mit fast gleichen Kästen, die jeweils an der gleichen Stelle Texte mit zehn Zeilen enthalten, gefüllt. Ab und an werden die Texte mit Fußnoten versehen oder es erscheinen Kommentare, die wie Glossen am Rand neben den Text gesetzt werden. Die Seiten zum Thema „Märchen“ fallen als einzige aus dem Bildraster, weil sowohl die weiße als auch die schwarze Seite bedruckt sind. An einer Stelle ist ein chemisches Molekülmodell ergänzt und einige Seiten sind um die Dezimen gefüllt mit Nomen, die zum Text in einer Beziehung stehen oder Erläuterungen zum Thema geben, wie zum Beispiel beim Gedicht zum Thema „Märchen“, wo sich in der Umrahmung unter anderem folgende Zeile findet: „Geschwister Betrug durch unwürdige Braut Betrüger um Braut und Reich Bett Bildnis Birnbaum Blaubart Blenden Blick“. In der Zusammenstellung ist sehr schnell das Alphabet als Ordnungsstruktur erkennbar. Bei den meisten Begriffen lässt sich auch rasch eine Verbindung zum Märchen herstellen; aber es wird nicht ersichtlich, welchen Sinn oder welche Bedeutung eine solche Aufzählung haben kann. Ist es eine Reminiszenz an die Märchen, die der Schreibende gelesen hat? Widerspricht es nicht dem Charakter des Märchens, aus seinen Inhalten eine emotionslose Aufzählung zu erstellen? Und warum steht der Name Ödipus, der doch zum antiken Drama gehört, in der Reihe? Diese Fragen werden am Ende unter der Rubrik „Anmerkungen und Quellen“ beantwortet, indem hier wie in einer wissenschaftlichen Arbeit die Quelle angegeben wird: „Märchenmotive nach dem Motivregister Kurt Derungs“ aus dem Band „Struktur des Zaubermärchens“. Die wissenschaftliche Herangehensweise, die versucht zu sortieren und zu kategorisieren, wird hier wieder eingebaut, um eine Verfremdung der Umgebung, in der das Gedicht steht, herzustellen. Der ganze Band ist so aufgebaut, dass Ordnungsstrukturen Sinn suggerieren, der dann durch eine andere Perspektive oder Einordnung gebrochen wird, indem der Blick in eine andere Form der Wahrnehmung geleitet wird.

Was für den Rahmen des Gesamtbandes steht, gilt auch für das einzelne Gedicht. Es bietet immer wieder Zugänge und Türen, von denen aus ein Gesamtsinn herstellbar ist, aber diese Zugänge eröffnen sich immer nur stückweise, es ist nicht möglich, eine vollständige Interpretation oder eine Deutung, zu finden. Das Gedicht, das am Ende als „Märchen“ benannt wird, verweist durch die Bezeichnungen „ein Eichhörnchen namens Sorge und Leid“, „Prinzessin Mäusehaut“ und „Löweneckerchen“ auf Prinzessinnen, die jeweils durch verschiedene Prüfungen ihre Treue erweisen und ihren Prinzen finden. Die Gefühlslage des lyrischen Ichs wird mit „wie betäubt“ umschrieben. Durch die Verwendung des Begriffes „Hokuspokus“ wird eine negative Konnotation zum Märchen deutlich. Das lyrische Ich kann mit dem Prinzen identifiziert werden, der sich in einer Welt des „Hoppe, hoppe, Reiter“ geborgen fühlt. War es als Kind noch der Prinz auf dem Schoß der Eltern, die ihm „Fressen ihn die Raben“ vorsangen, so haben sich diese positiven Märchenvorstellungen in die Wahrheit des gesungenen Textes verwandelt, der zudem noch in einer euphemistischen und nüchternen Erwachsenensprache formuliert ist: „Den Prinzen verwerten unschön die Raben“. Die gesamte Welt der Märchen und der Kindheit eröffnet sich hier in einem kleinen Gedicht. Es finden sich viele Motive, Erinnerungen an die Kindheit, die Symbolik der Tierfiguren und nicht zuletzt eine Kritik an der Leistungsgesellschaft, die durch den Hasen verkörpert wird, da er sich im Konkurrenzkampf mit dem Igel selbst in den Tod befördert: „Der Hase – vornehm – erlegt, brät, reicht und verspeist sich selbst.“

Steffen Popps Gedichte eröffnen alle Facetten der Lyrik. Die Beschreibung, wie tausend Schnecken leiden müssen, um eine geringe Menge des teuren Farbstoffs „Schneckenpurpur“ zu gewinnen, ist zutiefst gesellschaftskritisch, weil die Gier der Reichen nach Zurschaustellung ihres Reichtums nicht nur die Schnecken leiden lässt. Aber das wird nicht mehr formuliert, sondern es ergibt sich aus den Symbolkonstruktionen, die die Reichen mit dem Purpur und den Qualen der Schnecken verbindet. Gesellschaftskritik, Darstellung von Gefühlswelten und pure Sprachspielerei wie im letzten Gedicht zum Buchstaben Y geben einen Einblick in Innen- und Außenwelten, der an vielen Stellen hermetisch wirkt, aber die Leser einlädt, „an Expeditionen in Unbegriffliches, Unbegriffenes teilzunehmen und Wort für Wort, Zeile für Zeile dabei zuzusehen, auf welche Weise und mit welchen Mitteln sie vorankommen, etwas erreichen oder auch scheitern“ (Dankrede Steffen Popps zum Peter-Huchel-Preis). Dieses Gedichte-Gesamtkunstwerk ist einerseits tief verhaftet in den Strukturen der lyrischen Traditionen, andererseits kreiert und gestaltet es in jedem Wort, jeder Zeile, jedem Satz, im visuellen Erleben und im Klang neue Räume und Dimensionen der Wahrnehmung.

Titelbild

Steffen Popp: 118. Gedichte.
Illustriert von Andreas Töpfer.
Kookbooks Verlag, Idstein 2017.
144 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783937445847

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