Holtz verbrennt Geld

Ingo Schulze erzählt die DDR als Schelmenstück

Von Jörg SchusterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Schuster

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Zerfall von Staaten lässt sich am besten im Koma erleben. Das führte vor 15 Jahren bereits Wolfgang Becker mit seinem Erfolgsfilm Good Bye, Lenin! vor. Bekanntlich wird dort der im Frühsommer 1990 nach neun Monaten aus dem Koma erwachenden Christiane Kern mittels Ostprodukten und -fernsehsendungen vorgegaukelt, die alte heile DDR-Welt existiere noch. Da sich die Realität aber auf Dauer nicht leugnen lässt, wird schließlich der Mauerfall nachgeholt und dahingehend umgedeutet, dass es zu einer Massenflucht aus dem Westen in den Osten gekommen sei.

Auch der DDR-Bürger Peter Holtz, Protagonist in Ingo Schulzes gleichnamigem Roman, sinniert am Tag der Grenzöffnung über Maßnahmen, „falls Verfolgte, Arme und Obdachlose zu uns kommen wollen“. Und auch er fällt im Dezember 1989 nach einem Autounfall für Monate ins Koma – mit enormen weltgeschichtlichen Folgen. Denn Holtz, Mitglied der Ost-CDU und enger Vertrauter des späteren ersten freigewählten DDR-Ministerpräsidenten, wäre, so vermutet ein Freund, mit seinem „christlichen kommunistischen Furor“ den Westpolitikern so auf die Nerven gegangen, dass sie sich das Projekt Deutsche Einheit noch einmal gut überlegt hätten.

Tatsächlich kommt Peter Holtz dem Lauf der Dinge nicht in die Quere – weil er rechtzeitig von einem Auto angefahren wird und weil es ihn, anders als Lothar de Maizière (alias Joachim Lefèvre), Helmut Kohl, Erwin Huber, Angela Merkel, Gerhard Schröder und viele andere im Roman präsente Personen historisch nicht gegeben hat. Damit setzt Ingo Schulze dem in den letzten Jahren so beliebt gewordenen kontrafaktischen Erzählen ein kontra- kontrafaktisches Verfahren entgegen. Die deutsche Geschichte zwischen den 1970er und 1990er Jahren wird nicht verändert, sie wird durch die Figur Peter Holtz vielmehr auf perfide-satirische Weise verdoppelt.

Schulze selbst verweist in seinem Nachwort auf das literarische Muster des Schelmenromans. In der Tat wird die Gesellschaft von unten, aus der Sicht eines Außenseiters geschildert und entstehen durch die mit dieser Perspektive einhergehenden Kontraste komische Effekte. Der Protagonist ist Zögling eines DDR-Kinderheims, der an einer Schreib- und Leseschwäche leidet und von seinen Kameraden verprügelt wird. Nicht einmal die Nationale Volksarmee, die sonst jeden aufnimmt, möchte ihn. Seine Außenseiterrolle führt auch keineswegs zu einem klaren kritischen Blick auf den Arbeiter- und Bauernstaat. Holtz ist vielmehr ein glücklicher DDR-Bürger, ein zufriedener „Holzkopf“.

Er läuft mit einem „Brett vor dem Kopf“ durch die Welt, da er im Gegensatz zu seinen Mitbürgern den ideologischen Überbau, die Versprechungen des wahren Sozialismus für bare Münze nimmt. Er lebt nach ihnen und fordert sie für sich ein. Warum sollte er das im Ausflugslokal verzehrte Eisbein bezahlen, wenn doch die Gesellschaft für ihn zu sorgen hat und alles Geld ohnehin wieder in die Gesellschaft zurückfließt? Gerade indem Holtz die Staatsideologie ernst nimmt, wird er ironischerweise zum Außenseiter, den die anderen nicht ernst nehmen. Und genau darin besteht wiederum der Schlüssel zu seinem Erfolg: Peter Holtz ist so naiv und gutgläubig, dass die anderen vor ihm resignieren. Wenn er als Stimmbrüchiger Arbeiterlieder deklamiert, fassen die ihn begleitende Punkband und der Staatsapparat das als subversiven Akt auf; nur er selbst ist der Auffassung, damit dem Sozialismus zu dienen – womit er vielleicht sogar recht hat. Dass die Stasi ihn als Informanten auf die eigene Band ansetzt, wertet er als echtes Interesse und erfüllt ihn mit Stolz – so sehr, dass er es allen erzählt und damit seine Spitzelrolle untergräbt.

Wie sehr Holtz Außenseiter ist, spiegelt sich darin wider, dass der Roman zu einem großen Teil aus Dialogen besteht. Das mag ermüdend wirken, doch erreicht Schulze damit genau jenen Effekt zeitdiagnostischer Oberflächen-Beschreibung, den er etwa in der Kurzprosa seines Erzählbands Handy vor zehn Jahren durch die Snapshot-Technik erzielte (die auch im neuen Roman manchmal aufleuchtet). Der bewussten Oberflächlichkeit entspricht die Tatsache, dass der Protagonist kaum zu längerfristigen tiefergehenden Beziehungen fähig ist – weshalb sein Leben doch kein ganz „glückliches“ ist.

Allerdings verweist die Figur Peter Holtz nicht nur darauf, wie die DDR nicht gewesen ist. Sein kindlich ungebrochener Glaube an den Sozialismus erinnert vielmehr zum einen an den Optimismus der Aufbaujahre nach 1945, als man sich mit der sowjetischen Siegermacht als Bollwerk gegen Kapitalismus und Faschismus auf der Seite des Guten sehen konnte. Und dass Holtz zum anderen auch im Herbst 1989 nicht aufhört, gerade angesichts des abgewirtschafteten DDR-Apparats einen wahren Sozialismus zu fordern, rückt einen Sachverhalt in den Vordergrund, der ein gutes Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall beinahe vergessen ist: dass jene BürgerrechtlerInnen, die das System zum Einsturz brachten, einen kurzen Augenblick lang tatsächlich an eine bessere, reformierte DDR als Alternative zur Bundesrepublik glaubten. Doch im Dezember 1989 wird Peter Holtz, der stets das Gute will, von einem Auto angefahren.

Weder vor noch nach der Wende ist der Protagonist jedoch ein Mitläufer, vielmehr ist gerade seine übertriebene Prinzipientreue für seine Mitmenschen unerträglich. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der als Bilderbuch-DDR-Anhänger ins Koma Gefallene als Immobilien-Millionär im kapitalistischen Wende-Deutschland erwacht. Zuvor waren ihm mehrere Häuser in Ost-Berlin übertragen worden – in der DDR aufgrund geringer Mieten und schwieriger Instandhaltung ein unrentables Geschäft, für das er als Schwarz-Taxifahrer draufzahlen muss. Doch auch unter westlich-kapitalistischen Bedingungen ist ihm der Profit gleichgültig. Indem er trotzdem ständig reicher, aber nicht glücklicher, sondern nur dicker wird, verkörpert er nun nolens volens die Prinzipien des neuen gesellschaftlichen Systems. Und wieder übertreibt er es maßlos: Er nimmt – nun als bewusste Provokation – kapitalistisches Handeln wörtlich, indem er Geld(scheine) verbrennt.

Damit bleibt Peter Holtz sich ein letztes Mal treu, hatte er doch schon zu DDR-Zeiten die Zirkulation des Gelds für sinnlos gehalten. Nur wer sein Geld dem monetären Kreislauf durch Vernichtung entzieht, wird es „mit Anstand los“, da es sonst immer irgendwo – womöglich (auch um Schaden) vermehrt – wieder auftaucht. Das ist allemal besser als sich selbst zu verbrennen. Und auch um ein Brett wie das vor Holtzʼ Kopf wäre es schade.

Titelbild

Ingo Schulze: Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
573 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783103972047

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