Liebesverlust als Naturereignis

Ulrich Woelk schickt die Protagonisten seines Romans „Nacht ohne Engel“ auf Erinnerungsfahrten durch Berlin

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist ein gewagtes erzählerisches Unterfangen, zwei Menschen nach mehr als 20 Jahren zufällig aufeinander treffen zu lassen, die in ihrer späten Jugend- oder frühen Studentenzeit einmal eng befreundet oder sogar verliebt ineinander waren. Menschen, die Träume, Ideale und vor allem noch das Leben als ein Versprechen vor sich hatten. Misslingen kann ein Text mit einem solchen Plot deshalb, weil es unendlich viel psychologischen Feingefühls und erzählerischen Könnens bedarf, damit das Ganze nicht ins Plakative, Sentimentale und Schablonenhafte abdriftet. Ulrich Woelk ist dieses Kunststück mit Nacht ohne Engel gelungen.

Hauptsächlich liegt das an seiner Art zu erzählen und seiner Fähigkeit, poetische Prosa zu schreiben, die aber nichts Angestrengtes hat. Sucht man nach einem vergleichbaren deutschen Gegenwartsautor, dessen Romane in der Einfachheit ihrer Handlung und doch kunstvollen sprachlichen Gestaltung ähnlich sind, so fiele einem nur der etwas jüngere Stephan Thome ein, der mit seinen Geschichten tiefsinnige, realitätsgesättigte Texte vorlegt und ebenso wie Woelk völlig zu Unrecht zu den weniger bekannten Autoren zählt.

Woelk ist ein Autor der leisen Töne, seine Romane und Erzählungen zeichnet ein unaufdringlicher, fast schon sachlicher Realismus aus, dessen Alltagsschilderungen nur scheinbar ohne ästhetischen Anspruch daherkommen – vielleicht kommt hier seine Vergangenheit als promovierter Astrophysiker zur Geltung. Tatsächlich aber fangen seine Schilderungen von Familien-, Paar- oder auch Liebesgeschichten sehr genau politische Stimmungen und soziale Atmosphären sowohl der 1980er und 1990er Jahre als auch der Gegenwart ein. Als Zeitromane sind sie gelungene und überzeugende Epochenporträts. In seinem letzten Roman fragte er danach, Was Liebe ist (2013) und verstand es glänzend, am Beispiel der zufälligen Begegnung und der aufkeimenden Liebe zwischen einer autistisch anmutenden Musikerin mit dem Erben und Geschäftsführer eines bedeutenden deutschen Konzerns nicht nur die Zeit der ersten rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder einzufangen, sondern durch die familiären Vorbelastungen der beiden auch deutsche Geschichte und (politische) Geschichtsbewältigung sichtbar zu machen.

Sein neuer Roman führt den Leser in die unmittelbare Gegenwart Berlins. Erneut ist es der Zufall, der Jule, die erfolgreiche Wissenschaftlerin mit Kontakten in hohe Wirtschaftskreise, im Taxi von Vincent landen lässt, der mit antiquierten Gemeinschaftsvorstellungen und unverbrüchlicher nostalgischer Liebe zu seinem Berlin und seinem Kiez gleichzeitig auch den Zauber und die Erinnerung an ihre gemeinsame Vergangenheit in eben dieser Stadt zu bewahren scheint. Nach ersten Zweifeln am eigenen Erinnerungsvermögen erzählen sich die beiden erst einmal das Nötigste über die letzten 20 Jahre und es wird schnell klar, dass hier keiner dem anderen etwas vorzumachen braucht. So unterschiedlich ihre momentanen Lebensverhältnisse auch sind, so sehr ähneln sich ihre Wege dahin, die weniger von der Erfahrung, was Liebe ist, gekennzeichnet waren, sondern viel öfter davon, was sie nicht ist und vor allem, wann sie endet.

Mehr als die morgendliche Fahrt vom Tegeler Flughafen in die Stadt, ein kurzer Café, ein paar Fahrten noch mit dem Taxi und eine eigentlich unfreiwillig gemeinsam verbrachte Nacht steht den beiden nicht zur Verfügung. Dass sie sich überhaupt noch einmal näher kommen, als sie sich in der Vergangenheit gewesen sind, liegt an Vincents Tochter. In ihrem rauschhaften Verlangen, die Welt noch intensiver zu erleben, hat sie etwas über die Stränge geschlagen und landet durch die Folgen einer Überdosis im Krankenhaus.

Fast schon kühl und distanziert geht der Erzähler mit seinen Figuren um, sodass der Leser selbst die Tragweite der Brüche und Zäsuren im Leben der beiden einschätzen muss. Die Begegnung und die gemeinsame Zeit inmitten der politisierten Zeiten nach der Wende und während der Kuwait-Krise im Januar 1991 gerät daher auch nicht zur nostalgischen Verklärung oder zum rührseligen Rückblick, sondern ist ein anrührendes und vor allem klug komponiertes literarisches Kammerstück über die Lebens-, Liebes- und Freundschaftsentwürfe einer ganzen Generation. Mit den Nebenfiguren wie dem schwulen Theaterschauspieler Eddy, der einen exzessiven Lebensstil pflegt, oder dem studentischen Freundeskreis der beiden, den ersten Aids-Toten und der Kreuzberger Kulturszene fängt Woelk sowohl die Aufbruchstimmung im Berlin der 1990er Jahre als auch Gegenentwürfe zur bundesrepublikanischen Wertegesellschaft ein. Inmitten der Weltgeschichte und Berliner Kietzgeschichte erscheint die Liebesgeschichte von Jule und Vincent relativ belanglos und doch ist es für sie das Leben gewesen.

Woelk ist indessen kein Relativist, auch wenn die meisten seiner Figuren immer erst dann wissen, was Liebe ist, wenn sie die Liebe vernachlässigt und den anderen verloren haben. Hinter dieser Figurenzeichnung und diesem Liebeskonzept steht die Einsicht in die Unberechenbarkeit von Gefühlen, Zeitläuften und biografischen Entscheidungen – auch wenn die meisten das gerne anders hätten. Woelks neuer Roman – der eigentlich keiner ist – ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie bundesrepublikanische, zumal auf Berlin konzentrierte Geschichte ohne Belehrungsabsicht, ohne Idealisierung oder Abrechnung auskommen kann.

Auf den künstlerischen Status und Anspruch des Textes verweist vor allem die Gattungstradition, in die er sich einreiht, die aber ausgerechnet auf dem Titelblatt verunklart worden ist: Denn eigentlich haben wir es bei Nacht ohne Engel nicht mit einem Roman zu tun, sondern mit einer klassischen Novelle. Sowohl die konzentrierte Handlungszeit und „unerhörte“ Begegnung der beiden Protagonisten, als auch die von Verweisen und immer wiederkehrenden, aufeinander bezogenen Motiven geprägte erzählerische Struktur machen Woelks Text zu einem glänzend komponierten Beispiel dieser Gattung. Zudem spielt das Erzählen selbst eine wesentliche Rolle. Denn über die Vergangenheit von Vincent und Jule erfährt der Leser hauptsächlich dadurch, dass die beiden sich gegenseitig ihre Vergangenheit erzählen. Und auch am Ende beginnt Vincent am Krankenhausbett damit, seiner im Koma liegenden Tochter Geschichten zu erzählen, die gleichsam gegen den Tod anerzählen sollen.

Selten liest man in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur so unaufgeregte, im Kern doch tragische Liebesgeschichten, von Menschen und Liebenden, die voneinander lassen müssen und das ohne Pathos und scheinbar ohne Erschütterungen tun, als handele es sich um ein Naturereignis. Vielleicht ist das auch deshalb so, weil sie sich die Figuren der Flüchtigkeit ihrer Existenz und daher der Bedeutung des Augenblicks bewusst sind. Nicht zufällig erinnert sich Vincent daher auch an einen Satz von Ludwig Wittgenstein aus seinem lange zurückliegenden Philosophie-Studium, in dem sich Melancholie angesichts menschlicher Endlichkeit und Bekenntnis zum Erlebnis und Augenblick miteinander verbinden: „Dass die Sonne morgen aufgehen wird, ist eine Hypothese.“

Titelbild

Ulrich Woelk: Nacht ohne Engel. Roman.
dtv Verlag, München 2017.
223 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783423281119

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