Gesegnete Moderne

Literarischer Katholizismus in der Donau-Metropole um 1900

Von Torsten VoßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Voß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Moderne Literatur und Religion als Bedingungsverhältnis zu untersuchen, stellte lange Zeit eine wissenschaftsstrategische Herausforderung dar. Immer wieder neue „Turns“ und Paradigmenwechsel, die die Anschluss- und Wettbewerbsfähigkeit von Philologen innerhalb der Kulturwissenschaften herausfordern, ließen Untersuchungsansätze wie eine kulturhistorische und poetologische Rekonstruktion des wechselseitigen Verhältnisses der Religion zur ästhetischen Moderne mitunter ins Numinose abgleiten. Dagegen hat sich nun in den letzten Jahren eine engagierte Gegenrichtung entwickelt, sowohl in Form von Handbüchern, größeren Projekten als auch durch Einzelmonographien. Einmalig sind in diesem Zusammenhang das umfassende und von Daniel Weidner jüngst herausgegebene Handbuch Literatur und Religion und das von Thomas Pittrof organisierte und sich in Vorbereitung befindende Handbuch des literarischen Katholizismus im deutschsprachigen Raum des 20. Jahrhunderts. Religion und literarische Kreativität werden wieder einander angenähert. 

Nicht unproblematisch ist im Kontext des Untersuchungsgegenstands immer wieder der geistesgeschichtliche Diskurszusammenhang vor dem sich beispielsweise die katholische Literaturbewegung zur Zeit der Jahrhundertwende, also vor dem Hintergrund der sich entfaltenden Moderne, bewegte. So verweist Doris M. Klostermaier anlässlich ihres Aufsatzes über Marie von Ebner-Eschenbachs diffiziles Verhältnis zur katholisch-klerikalen Kulturpolitik darauf, dass solche Konstellationen zu kontextualisieren seien „with the crisis of roman Catholicism at the turn of the century. The official Church’s paranoid obsession with what was known as modernism, the disputes in Germany and Austria concerning Catholic inferiority in theology, the sciences and the arts, and ultimately the ‘katholischer Literaturstreit’, all had an impact“ auf die Arbeit katholischer Autoren oder die spätere Integration des Katholizismus in moderne Literaturkonzepte durch geisteswissenschaftliche Forschungsprojekte. Es erschwerte auf einer epistemologischen Ebene mögliche Vergleiche oder gar Analogisierungen der facettenreichen Ausprägungen katholischer Dichtung mit den ästhetischen Verfahren der Moderne.

Die Monographie von Michaela Klosinski hat es sich zur Aufgabe gemacht, das ambivalente Verhältnis des literarischen Katholizismus zur (Wiener) Moderne umfassend zu rekonstruieren und die Auswirkungen dieser komplexen Konstellation auf die stilistischen, formalästhetischen, stofflichen und semantischen Verfahren in verschiedenen Romanen der Jahrhundertwende zu erforschen. Hinsichtlich des Titels der Arbeit orientiert sich die Verfasserin an einem vielschichtigen, von Wilhelm Kühlmann und Roman Luckscheiter herausgegebenen, Sammelband zur katholischen Literaturbewegung, welcher 2008 in der Reihe Catholica des Rombach Verlags publiziert wurde. Implizit benennt Michaela Klosinski damit bereits die Forschungstradition, der sie ihre Qualifikationsschrift zu Grunde legt: Die gesamte Arbeit ist angelegt in einem Wechselverhältnis zwischen kulturhistorischer Panorama- und Profilbildung und der Durchführung von stark immanenten und fundierten Einzelanalysen, die sich in sechs Kapiteln/Einzelbeispielen an den literarhistorischen und poetologischen Komplex anschließen. Diese wurden nach folgenden „sechs Kriterien ausgewählt: Zuordnung zum katholischen Literaturbetrieb, Wohnsitz, Publikationszeitraum, Gattung, Mitgliedschaft im VkSSÖ bzw. literarhistorische Bedeutung und Geschlecht“. Das heißt, diese eher faktisch-positivistischen Parameter sind zunächst den formalästhetischen und stilistischen Konzepten vorangestellt, um schlussendlich „der Frage nach Individualität im Sinne des ‚Close Reading‘ anhand einer spezifischen Fragestellung für jeden Roman“  nachzugehen.

Unter der Integration von kultur- und wissenstransfertheoretischen Parametern wird im Introitus vor allem die Betonung eines katholisch affinen Kunst- und Literaturkonzepts als Gegen-Avantgarde innerhalb (und eben nicht jenseits) der ästhetischen und sozialen Moderne reflektiert, die durchaus performativ, sprachlich und inszenatorisch mit ähnlichen Modifikationen wie ihre säkularen Schwesterströmungen arbeitet, um daraus ein Programm der Abgrenzung, Distinktion und der Selbstverortung gegenüber den Pluralitäten der Moderne zu konzipieren und selbstbewusste Eigenständigkeit durch Rekurrenz auf ein transzendentes Paradigma zu behaupten.

Die Beziehung der Literatur zur Religion bewegt sich bekanntlich zwischen ästhetischen und metaphysischen Ansprüchen. Eine katholische Poetik der Jahrhundertwende, wie sie von so exponierten katholischen Intellektuellen wie Karl Muth und Richard von Kralik und ihrer sehr unterschiedlichen Zeitschriften Hochland und Der Gral, auch im Rahmen des bereits von Doris M. Klostermaier in ihrem Aufsatz erwähnten Literaturstreits und der Inferioritätsdebatte, konstruiert wird, charakterisiert sich zumeist als eine Inanspruchnahme der literarischen Künste für ein religiöses und daher sinnkonstituierendes Unterfangen. Dadurch kommt es zu den gewohnten Reibungen mit den subjektemphatischen und autonomieästhetischen Anliegen der Moderne. Inwieweit sich hier Entwicklungslinien innerhalb der Vermengung von Spiritualität und Sprache bzw. ästhetischer Erfahrung aufzeigen lassen, wird von Michaela Klosinski sowohl in den vorausgehenden theoretischen Prämissen als auch in den sechs Werkanalysen erschöpfend diskutiert, deren Gegenstände in einer dialogischen Korrespondenz mit den durch die Moderne herbeigeführten Paradigmenwechseln integriert waren.

Dazu gibt die Autorin vorab luzide Einblicke in den katholischen Literaturbetrieb Wiens von 1890 bis 1918 und benennt den Einfluss der nicht unproblematischen Beziehung von Kirche und Staat auf so unterschiedliche und relevante Ausprägungen des literarischen Feldes wie Schriftstellervereinigungen, Büchereiwesen, regelmäßig auftauchende Periodika und das Verlagswesen. All diese Institutionen und Medien wirken – ebenso wie einzelne Autorinnen und Autoren – mit an der Entstehung einer katholischen Poetik um die Jahrhundertwende. Diese wird nicht nur hinsichtlich ihrer Stoff-, Motiv- und Figurenwahl ausführlich nachgezeichnet, sondern auch mit all ihren literarhistorischen Bezügen überaus kenntnisreich vernetzt. Als da wären die katholische Spätromantik, die Heimatkunstbewegung, der aus Frankreich stammende und sich antibürgerlich gebende Renouveau catholique (unter anderem bei Léon Bloy oder Charles Péguy), aber selbstverständlich auch die Wiener Moderne mit all ihren formal-stofflichen Innovationen vor dem Hintergrund der Eindrücke des Ersten Weltkriegs, der Industrialisierung, neuer Epistemologien und der Verstädterung einer neuen, von Dynamik und permanenten Wandel geprägten, Massengesellschaft. Die katholische Poetik aus dem Wiener Umfeld wird als Folge, Reaktion und als Korrelat dieser signifikanten Umbrüche begriffen. 

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Erkenntnis, dass der sich mitunter sozialrevolutionär und antimaterialistisch gebende Renouveau catholique seine Rezeption bei späteren Autorinnen wie Elisabeth Langgässer, Reinhold Schneider oder Gertrud von Le Fort fand, und von Kraliks Gralbund, aufgrund eigener eher völkischer Tendenzen, pejorativ betrachtet wurde. Die transzendierenden Potentiale der katholischen Literaturbewegung Wiens fanden ihr Äquivalent in der Heimatkunstbewegung, der Erbauungsliteratur, in intertextuellen Verweisen auf biblische Stoffe, oder in der piktural ausgefeilten Reanimation von Heiligenviten bzw. Legenden, die nicht selten einen Vorbildcharakter für die katholische Rezeptionsgemeinde konfigurieren sollten. Deren Bedeutung zeigt sich aber interessanterweise aber auch immer wieder in der Gestaltung von Einzelfiguren, die teilweise von einer starken psychologischen Tiefe gekennzeichnet wurden.

Hier sticht vor allem Klosinskis Interpretation von Marie von Ebner-Eschenbachs Roman Unsühnbar (1890) hervor. Die moralische Selbstzerfleischung der ehebrecherischen Protagonistin wird vor dem Hintergrund eines katholischen Werte- und Dogmenhorizontes ausgeleuchtet, welcher die Verfehlungen ins Gedächtnis ruft und trotz aller priesterlichen Seelsorge auch keine entsühnende Kompensation der Schuldfrage zu garantieren vermag. Es ist ein Verdienst der Arbeit von Michaela Klosinski, die innere Durchleuchtung der Zerrissenheit der verzweifelten Heldin mit den psychoanalytischen Triebtheorien und Therapien ihrer Zeit zu vernetzen und darin eine entscheidende Inspiration für Ebner-Eschenbachs psychologische Tiefennarrative in Unsühnbar zu diagnostizieren, die sich in ähnlicher Intensität eigentlich erst wieder in den katholischen Romanen von Georges Bernanos oder Julien Green Jahrzehnte später wiederfindet. Eine moderne Gesellschaftstheorie und ein metaphysischer Moralkomplex erfahren hier also durch die Autorin ihre Fusionierung, die von Klosinski in ihrer Untersuchung pointiert wird. Ähnlich verhält es sich bei anderen Erzähltexten.

Neben der Berücksichtigung von so wortmächtigen Exponenten des katholisch-intellektuellen Feldes wie Richard von Kralik – und dessen Austausch mit Hugo von Hofmannsthal – und Enrica von Handel-Mazzetti, bietet die Studie von Klosinski aber auch beachtliche Trouvaillen und Fundstücke. So erfahren weniger bekannte Texte, wie Wilhelm von Warteneggs Schloß Winikstein (1891) und Karl Domanigs Die Fremden (1898), eine erste erzähltextanalytische Berücksichtigung, um beispielsweise die Programmatik dieser kaum bekannten Prosa zwischen den Parametern Heimat, Religion und Individualität in ihrer imagologischen Ausgestaltung zu visualisieren. Derlei Gemengelagen verdeutlichen immer wieder die Ambivalenz von Moderne und Antimoderne als Strukturgesetz und Schwellenmoment für die literarische Produktivität der zur Diskussion stehenden Akteure, die nach Klosinski von einer ähnlichen Ausgangslage dominiert waren wie ihre avantgardistischen Kollegen: „Die Infragestellung des Subjekts, die Ich-Dissoziation, führt somit in der Literatur der Moderne ebenso wie in der katholischen Literatur zur Relativierung der Individualität“. Der Einfluss von neuen Erkenntnismodellen und Diskursproduzenten wie der Psychoanalyse und der Erkenntnisphilosophie war also beidseitig zu spüren und es ist ein anspruchsvolles Anliegen der Autorin, diese weitreichenden Einflussfaktoren für den eigenen Untersuchungsgegenstand gewinnbringend zu nutzen. 

Das gilt in beeindruckender Weise nicht für nur für die Textarbeit, sondern auch für die Analyse der kontextuellen Makroebene. Allein die intrasystemischen und subsystemischen Auseinandersetzungen zwischen vermeintlichen Lehrern, Schülern, Meistern und Gefolgsleuten verhalten sich strukturell und funktional äquivalent zu avantgardistischen Disputationen und tragen zur Konstituierung eines „literarischen Feldes” im Sinne Bourdieus mit bei, welches wiederum in einen Austausch mit dem „religiösen Feld” tritt. All diese konstituierenden Prozesse werden von der Verfasserin mit größter Sorgfalt illuminiert, doch hätte eine stärkere Einbindung der eben genannten Terminologien dem gesamten Unterfangen noch mehr Schärfe verliehen. Bourdieus Feldtheorie, die ja hinsichtlich der verschiedenen Organisationsformen der literarischen Avantgarden bereits eine umfassende Applikation in der Literaturwissenschaft erfahren hat, hätte im Zusammenhang mit den Gruppenbildungsprozessen und den verschiedenen distinktiven Inszenierungsverfahren des literarischen Katholizismus der Wiener Moderne eine vielversprechende Anwendung und Diskussion erfahren können. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass die Verfasserin das katholische Milieu vor allem an Richard Keiters katholischem Literaturkalender festmacht und damit eine bisweilen positivistische Arbeitsweise mit der Interpretationsarbeit vermengt, was freilich einen anderen methodologischen Ansatz mit sich bringt als den institutionssoziologischen und feldtheoretischen.

Ebenso hätte eine Aufsprengung der recht scharf gezogenen Gattungsgrenzen die Integration etwa von lyrischen Texten möglich gemacht. Gerade die Infrontstellung einer so exponierten (und sich im katholischen Umfeld ausagierenden) Autorin wie Marie von Ebner-Eschenbach, hätte den Einbezug einer – von der katholischen Spätromantik – beeinflussten Lyrikerin wie Josephine von Knorr erleichtert, die ja auch in engen Beziehungen zu Ebner-Eschenbach stand. Dadurch wären auch die Relationen zum katholisch-konservativen Iduna-Kreis ersichtlich gewesen, dem ja nicht nur einige der hier erforschten Autorinnen und Autoren angehörten, sondern der für sich auch die für moderne Literaturbewegungen typischen Gruppenbildungs- und Distinktionsprozesse in Anspruch nehmen konnte.

Nichtsdestotrotz ist hier durch die Einbindung einiger unbekannter Romane und durch die facettenreiche Rekonstruktion eines faszinierenden literarischen Milieus, welches sich in seinen Wechselbeziehungen zu modernen ästhetischen Strömungen erst entfaltet hat, Pionierarbeit geleistet worden. Die Ansätze der bedeutenden Heidelberger Tagung (2006 bzw. 2008) zur möglichen Modernität des literarischen Katholizismus hat eine markante Exemplifizierung erfahren und würde sich nun einer komparatistischen Gegenüberstellung mit anderen „Katholizismen“ in Europa anempfehlen, um die konvergierenden oder auch voneinander abweichenden Imagologien katholischer Literaturproduktion genauer zu akzentuieren.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Michaela Klosinski: Zwischen Moderne und Antimoderne. Die katholische Literatur Wiens 1890-1918.
Klassische Moderne Nr. 29.
Ergon Verlag, Würzburg 2016.
309 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783956501715

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch