Familiengeheimnisse, politische Jugendutopien und ein früher Tod

Jaume Cabrés Roman „Eine bessere Zeit“ liegt nach 20 Jahren zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vor

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist nun über ein Jahrzehnt her, dass Katalonien 2007 Gastland auf der Frankfurter Buchmesse war. Es war auch das Jahr, in dem Jaume Cabrés großartiger Roman Die Stimmen des Flusses pünktlich zur Messe in deutscher Übersetzung erschien und den bis dahin unbekannten Autor auch in Deutschland populär machte. Seitdem ist mit Das Schweigen des Sammlers nur ein neuer Roman von Cabré erschienen, der 2011 sofort ins Deutsche übertragen wurde. In nicht allzu großer Geschwindigkeit werden seit einigen Jahren auch die älteren Texte Cabrés aus den 1990er Jahren übersetzt. Nach dem historischen Kriminalroman Senyoria (1991/2009) ist Eine bessere Zeit, der im Original und deutschen Klammertitel „Der Schatten des Eunuchen“ heißt, der zweite Roman, an dem der Leser die Entwicklung von Cabrés eigenwilligem und anspruchsvollem erzähltechnischem Konzept nachvollziehen kann.

Wie Die Stimmen des Flusses und Senyoria zeichnet sich auch dieser Roman durch ständig wechselnde Erzählperpsektiven aus. Hauptfigur ist der 1947 in eine reiche, weit verzweigte katalanische Familie hineingeborene Miquel de Gensana II. Abschnitts- und satzweise wechselnd wird einerseits von einem heterodiegetischen Erzähler über Miquels Leben und das seiner Familie berichtet, andererseits erzählt Miquel selbst als Protagonist und homodiegetischer Ich-Erzähler seine eigene Sicht der Dinge. Daneben gibt es noch den prominent in Szene gesetzten ‚Onkel‘ Maurici Sicart, der sich wiederum als Ich-Erzähler in den Chor der Erzählerstimmen einreiht. Eine über all diesen Figurenperspektiven stehende Erzählinstanz existiert indessen nicht. Das führt zunächst einmal nicht zwangsläufig zu Verwirrungen – obwohl dem Leser nicht so recht klar wird, was genau diese Erzählstruktur eigentlich leisten soll.

Erzähltechnisch kann man dem Roman gerade mit Blick auf den späteren Text Die Stimmen des Flusses durchaus einige Schwächen attestieren: Die Figurencharakterisierung durch ständig wechselnde Perspektiven und Erzählerstimmen ist bei weitem noch nicht so kunstvoll und ausgereift, die daraus resultierende Komplexität der erzählten Themen, Ereignisse und historischen Zusammenhänge lange nicht so überzeugend wie bei dem späteren Roman.  Außer den Hauptfiguren Miquel, seiner großen Liebe Teresa sowie Maurici bleiben die anderen Familienmitglieder, über die aber auch immer nur berichtet und an die sich nur erinnert wird, blass und blutlos.

Die Figurenvielfalt dieser über 200 Jahre erzählten Familiengeschichte ist dabei nicht das Hauptproblem. Auch nicht die über die Jahrhunderte hinweg immer wieder auftauchende Namensidentität mancher Familienmitglieder. Problematisch ist, dass diese Figuren in der Konstruktion der Erzählung untergehen, weil im Grunde dann doch die Rahmensituation immer wieder in Erinnerung gerufen wird – diese Konstruktion hat Cabré in dem vielstimmigen Geschichtspanorama Die Stimmen des Flusses nicht mehr gewählt: Der Leser rezipiert von der Ausgangssituation der Geschichte her das Gespräch zwischen Miquel und der Journalistin Júlia während eines Abendessens, das (wahrscheinlich) im ehemaligen Familienanwesen der Gensanas stattfindet, welches mittlerweile zu einem Luxusrestaurant umgewandelt wurde.

Die damit im Zusammenhang stehenden Entwicklungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs werden nur angedeutet, was der Lektüre wiederum einen gewissen Reiz verleiht, insgesamt aber zu langatmig konstruiert ist. Miquels studentische Sturm-und-Drang-Zeit in antifranquistischen Kreisen, der Bruch mit seiner Familie und dunkle Geheimnisse um manche Tode und Fehltritte werden wie kleine Minenfelder über den gesamten Text angelegt, verpuffen aber oft genug in ihrer doch recht banalen Auflösung, die Cabré dem Leser natürlich nicht schuldig bleibt. Das Verschwinden des Vaters an einem alltäglichen Abend, die von Maurici erfundene Affäre der Urgroßmutter von Miquel und der (politische) Verrat des Großvaters werden bedeutungsschwer eingeführt und von den verschiedenen Erzählerstimmen immer wieder aufgegriffen, ohne dass die Ereignisse dem Leser dann innerhalb der Erzähllogik lebendig vor Augen treten würden.

Dieser Eindruck entsteht nicht dadurch, dass man den späteren Roman und seine wirklich beeindruckende erzählerische Bewältigung der politischen Auseinandersetzungen kennt, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die kleine autonome Region zwischen Mittelmeer und Pyrenäen geprägt haben. Dieser ältere Roman Cabrés wirkt tatsächlich wie ein erzählerisches Experimentierfeld, dessen inhaltliche und erzähltechnisch-formale Seite noch nicht vollständig miteinander verschmolzen sind. Überzeugend ist der Text immer dann, wenn die erzählte Geschichte – wie etwa das Scheitern der Liebesbeziehung zwischen Miquel und der Violinistin Teresa – durch die Erzählkonstruktion einen doppelten Boden erhält und so für den Leser die oft nur behauptete, selten aber eingelöste psychische oder historische Tiefenwirkung mancher Ereignisse plausibel wird. Weniger nachvollziehbar bleibt allerdings die Einteilung der beiden Roman-Teile in – nicht präziser, sondern nur lockerer – Anlehnung an den Titel und die Tempi der einzelnen Sätze von Alban Bergs Violinkonzert Dem Andenken eines Engels von 1935. Außer dass es einige Passagen mit musikalischen Reflexionen und – ohne zu viel zu verraten – Parallelen zwischen Miquels großer Liebe Teresa und den Hintergründen der Entstehungsgeschichte von Bergs Violinkonzert gibt, wirken die musikalischen Überschriften der Textteile wie Fremdkörper. Um musikalische Motiv-Technik oder dergleichen literarisch umsetzen zu wollen, genügt es nicht, die Cadenza des zweiten Teils gleichlautend beginnen zu lassen wie das zweite Kapitel des Präludiums oder im Laufe des Romans durch neue Informationen und Figurenperspektiven Variationen des Familienstammbaums der Gensana zu präsentieren, bei denen es sich eigentlich nur um Korrekturen handelt. Dennoch schimmert in diesen über 500 Seiten kapitelweise Cabrés erzählerisches Können durch, das seine wirklich fulminante Verwirklichung in Die Stimmen des Flusses gefunden hat.

Titelbild

Jaume Cabré: Eine bessere Zeit. Roman. (Der Schatten des Eunuchen).
Übersetzt aus dem Katalanischen von Petra Zickmann und Kirsten Brandt.
Insel Verlag, Berlin 2018.
553 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783458177395

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