Das Mädchen mit den roten Stöckelschuhen

Nach der Geschichte ihrer Mutter will Natascha Wodin in „Irgendwo in diesem Dunkel“ diejenige ihres Vaters erzählen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Sie kam aus Mariupol, dem Buch über ihre Mutter, hat Natascha Wodin 2017 den Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen. Der Vater spielte in diesem ein Menschenschicksal inmitten eines Jahrhunderts voller Gewalt recherchierenden Buch nur eine Nebenrolle. Neben der „armen, kleinen, verrückt gewordenen Mutter“ war er der Mann, der einfach da war, als die gut 20 Jahre jüngere Frau inmitten des Kriegsinfernos vollkommen auf sich allein gestellt war und „jedem gefolgt [wäre], der ihr Schutz versprach.“ Ansonsten konnte er, was ihr nicht gelang: „kämpfen, sich durchschlagen, überleben“. Er war ein „gut aussehender, männlich-zupackender Mann“, der nie über seine Vergangenheit in der Sowjetunion sprach, sich für Literatur interessierte und als gefeierter Tenor mit einem russischen Kosaken-Chor durch die Welt zog, während er zu Hause seine Gewalttätigkeit auslebte und sich weigerte, aus seiner „undurchdringlichen inneren Emigration“ auszubrechen: „Abgesehen von seinen unberechenbaren Gewaltausbrüchen kannten wir ihn nur schweigend, trinkend, rauchend, dicke russische Bücher lesend, die er sich einmal im Monat in einem großen Paket aus der Tolstoi-Bibliothek in München kommen ließ.“

„Wir“, das sind Natascha Wodin und ihre um sechs Jahre jüngere Schwester, die dem Mann nach dem Suizid der Mutter im Jahr 1956 – da ist die Ältere der beiden Schwestern gerade einmal zehn Jahre alt – ausgeliefert sind. Während die 36-jährige Mutter nach Wodins Verständnis durch ihren Freitod dem Gefängnis ihrer Ehe entkommt, werden die Jahre, bis sie selbst die Kraft findet, aus ihrer Herkunft auszubrechen, zu einer Tortur für das Mädchen. Nach dem Aufenthalt in einem katholischen Kinderheim in Bamberg – Wodin bescheibt die Zeit als Leben in einem „jenseitigen Reich aus Schlafsälen, Speisesälen, Lernsälen, Rosenkränzen, Messen, Hochämtern, ein Leben mit Exerzitien und immerwährenden Gebeten“ unter Aufsicht von jähzornigen, cholerischen, die ihnen anvertrauten Kinder hassenden Nonnen –,  nimmt der Vater, nachdem der Verlust seiner Stimme seine Karriere als Chorsänger abrupt beendet hat, die beiden Töchter wieder zu sich.

Erneut lebt man in der „die Häuser“ genannten ärmlichen Siedlung an der Regnitz. Der Vater findet eine Anstellung als Hilfsarbeiter in einer Papierfabrik. Die Kinder landen unter gleichaltrigen Deutschen in der Schule, wo sie ihre Herkunft sofort wieder zu Nicht-Dazugehörigen werden lässt, „Russkis“, die dem Spott ihrer deutschen Klassenkameraden ausgesetzt sind. Fremd sein, die Existenz von Außenseitern zu führen – es wird eines der Hauptthemen der späteren Schriftstellerin Natascha Wodin werden –, nichts hasst das pubertierende Mädchen mehr und muss es doch tagtäglich erleben.

Und  so revoltiert sie dagegen, einen gesellschaftlichen Platz irgendwo zwischen den „anständigen“ Deutschen und den noch weiter vom Stadtzentrum entfernt in Holzbaracken hausenden „Zigeunern“ einzunehmen. Sie sehnt sich danach, Ursula oder Susanne zu heißen und nicht mehr die Tochter eines Mannes zu sein, der fast 50 Jahre bis zu seinem Tod im Jahre 1989 in Deutschland lebt und doch bis zum Ende nicht mehr als zwei deutsche Wörter spricht: „brauche“ und „brauche nix“.

Immer, seit ich denken konnte, war es ein Fluch für mich gewesen, das Kind meiner Eltern zu sein. Ich wollte nicht zu einer Welt außerhalb der Welt gehören, zu den Fremden, den Aussätzigen, die hinter der Stadt wohnten, von allen gemieden und verachtet, irgendein Abschaum, von dem ich nicht wusste, wo er herkam und wie er entstanden war.

Doch auch die Flucht aus den vorgefundenen Verhältnissen führt vorerst nicht in die ersehnte Freiheit. Der deutsche Traummann, nach dem sie sich verzehrt, liebt eine andere. Mit 16 Jahren landet sie auf der Straße, weil ihr Vater ihr Herumstreunen – bei dem sie rote Stöckelschuhe trägt, obwohl oder gerade weil sie weiß, dass ihr Vater die Farbe Rot für eine „Hurenfarbe“ hält – nicht länger dulden will und sie seine inzestuösen Annäherungen fürchtet, denen sie sich nur entziehen zu können glaubt, wenn sie ihn tötet. Bettelnd und stehlend, nach einer Vergewaltigung schwanger geworden und keinen anderen Ausweg findend, als den Fötus selbst zu töten, treibt sie sich herum. Ihre einzige Erinnerung an etwas Schönes in ihrem Leben ist der Gedanke an ihr zehntes Lebensjahr, als sie vom Roten Kreuz zu einer Familie in den wallonischen Ort Petit-Thier zur Erholung geschickt wurde und zum ersten Mal Akzeptanz und Zugehörigkeit, Mitmenschlichkeit und Wärme spürte. Ein singulärer Glücksmoment, der allerdings schon ein paar Wochen nach ihrer Rückkehr durch den Selbstmord der Mutter verdrängt wird.

Irgendwo in diesem Dunkel lehnt sich an Wodins 1989 erschienen Roman Einmal lebt ich an. Es ist ein hartes Buch, in dem seine Autorin schonungslos zur Sprache bringt, was ihr in Kindheit und Jugend geschah. Eigentlich als Buch über den Vater im Anschluss an das Mutterbuch Sie kam aus Mariupol gedacht, verschiebt sich sein Akzent schnell mehr und mehr auf die Tochter, was auch das Bild auf dem Buchcover, das ein Mädchen vor dem dunklen Umriss eines bedrohlich vor ihm aufragenden, gesichtlosen Erwachsenen zeigt, andeutet. Denn der Vater war nicht nur ein beharrlicher Schweiger, der seine Frau nach ihrem Tod kein einziges Mal mehr erwähnte, sondern auch die Rechercheversuche der Tochter – ohnehin von Zufällen abhängig, die ihr begegnen, als sie später als Dolmetscherin in Moskau arbeitet – bringen kaum mehr zu Tage als das, was man bereits im Vorgängerbuch über den Mann lesen konnte.

Aus dem russischen Kamyschin, wo er eine erste Familie mit zwei Söhnen besaß, verschlug es ihn Anfang der 1940er Jahre ins ukrainische Mariupol. Dort heiratete er die aus besseren Kreisen stammende, um vieles jüngere Frau, die Natascha Wodins Mutter werden sollte. Wie die beiden zueinanderfanden und was sie anschließend zusammenhielt, ist der Tochter schleierhaft. Als Zwangsarbeiter kamen sie 1943 nach Deutschland. Um der Stalinschen Repatriierungspolitik zu entgehen, führte ihr Weg schließlich in verschiedene Lager für sogenannte „displaced persons“ im Fränkischen, wo auch die beiden Töchter geboren wurden.

War Sie kam aus Mariupol 2017 ein großartiges Recherchebuch, das zu einem bewegenden Zeitporträt wurde, kann Irgendwo in diesem Dunkel mit dessen Blick auf die Tragik des blutrünstigen 20. Jahrhunderts nicht konkurrieren. Das liegt nicht nur an einem Mann, zu dessen Innerem die Autorin wohl nie richtig durchdrang, dem sie aber trotzdem als ihrem Vater verbunden blieb bis in den Tod, der am Anfang der Erzählung steht. Es liegt auch daran, dass die meisten Erinnerungen an ihn wohl mit Hassgefühlen verbunden waren: „Als Kind und als Jugendliche hatte ich meinem Vater inbrünstig den Tod gewünscht. Ich hatte mir vorgestellt, wie ich ihn meuchlings in den Fluss stieß, in dem meine Mutter sich ertränkt hatte, ihn vergiftete oder mit einem Messer erstach … .“ Dagegen kommen die wenigen lichten Momente – etwa seine Erzählungen von den sagenhaften Melonen in seiner Heimatstadt Kamyschin oder sein heller Sopran, den er auch zuhause erklingen ließ – nicht an.

Eindringlich und symbolisch ist die Szene, mit dem Natascha Wodin ihr Buch ausklingen lässt. Um noch ein letztes Bild von ihrem Vater zu haben, lässt sie nach der Trauerfeier den Sarg noch einmal öffnen, um den Leichnam zu fotografieren. „Doch als ich eine Woche später den entwickelten Film abholte, stellte sich heraus, dass aus den Aufnahmen nichts geworden war. Der Film war leer.“

Titelbild

Natascha Wodin: Irgendwo in diesem Dunkel.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018.
240 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783498074036

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