Ein Sprung nach vorn?
Thomas Kühn und Robert Troschitz wagen eine Bestandsaufnahme von Populärkultur
Von Christian Jäger
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Mixing pop and politics he asks me what the use is, I offer him embarrassment and my usual excuses“, sang 1988 Billy Bragg auf der Platte Workers Playtime. Der Song selbst heißt The great leap forward und vollzieht damit, was im Text angesprochen wird: Pop und Politik werden gemischt, denn der „große Sprung nach vorn“ war der Name einer maoistischen Kampagne am Ende der 1950er Jahre, die die Entwicklung der chinesischen Gesellschaft zum Kommunismus beschleunigen sollte. Was im englischen Sprachraum eine ziemliche Selbstverständlichkeit seit den 1970er Jahren besitzt, die Verschränkung von Politik und Popmusik wie -kultur und ihrer Theorie, fand in Deutschland nur in Grenzen statt. Zwar verschränkten sich auch hier Pop und Politik (von Ton Steine Scherben über Mittagspause, MDK, Hamburger Schule, Atari Teenage Riot bis Antilopengang und FeineSahneFischfilet), doch erweist sich die sich allmählich herausbildende poporientierte Kulturwissenschaft leider als wenig politisch aufgeklärte Theorie, ob nun der jüngst erschienene Versuch von Jens Balzer (Pop. Ein Panorama der Gegenwart Berlin: Rowohlt 2016), oder die etwas ältere Überblicksdarstellung von Thomas Hecken (Pop: Geschichte eines Konzepts 1955-2009. Bielefeld: transcript 2010). Verhältnismäßig aufrecht hält sich immer noch Diedrich Diederichsen (Über Pop-Musik. Köln: Kiepenheuer&Witsch 2014), der samt einer ganzen Reihe von Kollegen in den 1980er Jahren mit Spex ein Magazin geschaffen hatte, das programmatisch auch am Import der Cultural Studies aus Birmingham arbeitete.
Nun ein neuer Versuch vor allem deutschsprachiger Wissenschaftler über Populärkultur. Perspektiven und Analysen. Nachdem eingangs John Storey seine mehrfach bewährten Überlegungen zur Frage „Was ist Populärkultur?“ für die Übersetzung freigegeben hat, stellt einer der Herausgeber, Thomas Kühn, seine Beobachtungen zu begrifflichen Differenzen von Populärkultur und popular culture vor, mit dem überraschenden Ergebnis, dass sofern sich Popkultur subversiv gegen das Establishment wende, dies „keineswegs klassenspezifisch oder sozial determiniert“ sei. Nach diesem politischen Schuss ins eigene Knie entdeckt Dominik Schrage, dass Popkultur eine „flexibilisierte Massenkultur“ sei, die ein Integrationsprogramm darstelle, welches höchste Individualisierbarkeit zulasse, sofern man nicht an die „ökonomischen, technologischen und sozialen Strukturen“ rühre, auf denen dies ruht.
Der Hamburger Erziehungswissenschaftler Olaf Sanders widmet sich mit avancierten theoretischen Mitteln (Deleuze, Gilroy, Grossberg, Hall, Ranciere, Zizek) und überzeugenden Beispielen (Lou Reed, Joy Division, Jim Jarmush) dem Thema „Bildung und populäre Kultur“. Er stellt dabei heraus, dass die Kulturindustrie immer noch verblödend und standardisierend funktioniert, wohingegen dem Widerstand gegen sie immer weniger Platz, immer weniger Nischen bleiben, deswegen wird man „auf das Kleine und mindere Entwicklungen achten, popkulturelle Mikrophysik betreiben und zugleich wieder Größeres entwerfen müssen“. Mark Arenhövel untersucht dann das Verhältnis von US-amerikanischer Politik und ihrer Darstellung in Film und Fernsehserie mit dem Ergebnis, dass die politische Wirklichkeit nur zu einem Bruchteil eines Prozentes in den Unterhaltungsformaten wiedergegeben wird. Gleichzeitig handelt sein Aufsatz aber auch davon, wie sich die Veränderung politischer Vorstellungen bspw. an Filmen ablesen lässt, was ihm für eine Skizze von den 1940er Jahren bis in die Gegenwart überzeugend gelingt.
Am Typus der „dumb blonde“ will Ralf Junkerjürgen etwas zur „Popularisierung eines misogynen Stereotyps“ beitragen, und auf misslich kulturwissenschaftliche Art wird dabei alles vermischt: Filme, kosmetische Industrie, Unterhaltungsformate und Hochliteratur, anthropologische Konstruktionen und Blondinenwitze, was einen netten Essay in der Wochenendbeilage abgibt, aber eben auch genauso wissenschaftlich ist wie das, was Karl Kraus mal als „Lockendrehen auf einer Glatze bezeichnete“, das Feuilleton als Textsorte nämlich. Aus der Aneinanderreihung von Kontingenzen wird bis auf weiteres immer noch kein Argument. Dagegen liefert Brigitte Georgi-Findlay eine seriöse Analyse von US-amerikanischen Western und ihrer jeweiligen Zeitbedingtheit. Zum Ende ihres Textes resümiert sie dazu: die Western „sind Auseinandersetzungen mit einer amerikanischen ‚political philosophy‘. ‚Reine Unterhaltung‘ gibt es nicht.“
Ein ziemlich eigenartiges Unterfangen beginnt Marina Scharlaj, die sich unter dem Titel Krieg, Kommerz und Kremlkonzerte den „Geschichtsinszenierungen im heutigen Russland“ widmet, ein Vorhaben so sinnig wie die ideologiekritische Untersuchung einer katholischen Messe. Hier ist das Beispiel das „Große Festkonzert zum Tag des Verteidigers des Vaterlandes“ aus dem Konzertsaal des Kremls, was durch Anlass und Ort schon vermuten lässt, dass der Krieg nicht in all seinen Schrecken dargestellt und wahrscheinlich ein positiver Bezug auf die Sowjetzeit und den siegreich beendeten Großen Vaterländischen Krieg – so der Zweite Weltkrieg im Sowjetsprech – hergestellt wird. Inszenierungen autokratischer Regime sind so selbstevident ideologisch und auf Glauben statt Wissen, auf Gefühl statt Verstand ausgerichtet, dass jede analytische Mühe hier einigermaßen verschwendet scheint, gebe es nicht das Phänomen, dass Putin lange Zeit extrem gute Umfragewerte und eine hohe Zustimmung – selbst in Milieus, die klassischerweise der Intelligenz zugerechnet werden – besaß. Das verändert die Fragestellung dann doch ein wenig oder sollte es; zu fragen wäre: wie schafft es das derzeitige Regime in Russland für viele Bürger attraktiv zu sein. Ohne es zu merken, liefert die Autorin auch dafür ein Argument. In die Inszenierung wird ein Lied eines vormals dissidenten Künstlers integriert. Dazu heißt es:
[I]hm ging es nicht um das heroische Bild des Krieges bzw. der Sowjetunion, sondern um traumatische Erinnerungen eines Einzelnen. Die Konzertinszenierung verzerrt sowohl den ursprünglichen Gedichtgesang als auch die kritische Position, indem sie die private Erinnerung mit einer überindividuellen Bedeutung überschreibt und heroisiert.
Abgesehen davon, dass keine in einem Gedicht gefasste private Erinnerung private Erinnerung bleibt, sondern konstitutiv mit dem Gedichtwerden überindividuell wird, ist die Integration solch früherer Dissidenz eben genau das Kennzeichen der Modernität des neuen Russlands, das viel mehr Freiheit verspricht als das ehemalige Sowjetregime und es sich zudem auch leisten kann, das Traumatisierende von Kriegserfahrungen in diese Inszenierung einzubringen und damit Offenheit und Wahrhaftigkeit zu signalisieren, die es möglicherweise im Alltag so nicht gibt, die aber zur modernen Selbstinszenierung gehört.
Der Band wird „abgerundet“ durch einen Beitrag von Yasuko Nunokawa und Joachim Scharloth zur computeranimierten Mangafigur mit dazugehöriger Singsoftware Hatsune Miku, diese hat offenbar eine Netzwerkplattform, auf der User mit der Figur interagieren können, und deswegen feiert sich in ihr ein Kollektiv, nämlich das der Nutzer, die sie erfolgreich gemacht haben – wie sich in jedem erfolgreichen Massenprodukt der Nutzer feiert, wenn er eine affektive Bindung zu dem Produkt hat, ob nun Nutella oder Nudossi, Adele oder Kendrick Lamar, was den Autoren nicht so recht auffällt, die aber auch keine weiteren Bezüge zur Popkultur, sei es in Form von Animationen (Max Headroom, Kraftwerk), noch zu verwandter Soundsoftware (Auto-Tune) herstellen.
Im Klappentext des Bandes heißt es: „Als zentraler Bestandteil des Alltags bietet Populärkultur somit die Chance, Wissenschaft selbst populär zu machen und ihre gesellschaftliche Relevanz zu verdeutlichen“. Einerseits: nein! Es geht nicht um die Popularisierung von Wissenschaft, sondern um die wissenschaftliche Analyse der Populärkultur: um zu verstehen, was die nichtakademische Welt bewegt, um besser zu verstehen wie die Wirklichkeit funktioniert, und damit darum, die Wissenschaft um genau diese Momente zu bereichern. Andererseits: ja, in der Auseinandersetzung mit Populärkultur könnte sich gesellschaftliche Relevanz von Wissenschaft erweisen, aber nur, wenn sie den Gegenstand ernstnimmt und dem Unbegrifflichen/Unbegriffenen versucht den Begriff abzugewinnen – und für diesen Begriff braucht man eine analytische Vorstellung der Gesellschaft, in der die Populärkultur stattfindet: Dann entdeckt man auch das Politische der Populärkultur, so wie es vor fast hundert Jahren Bloch, Benjamin und Kracauer in ihren Auseinandersetzungen mit Populärkultur erkannt haben. In diesem Band wurde diese Chance allenfalls teilweise genutzt und so warten wir noch auf den „Sprung nach vorn“.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
|
||