Das Denken in Schleifen

Mit „Wie viele Tage“ hat Andrea Scrima einen lyrischen Roman geschrieben, der von dem fließenden Gewässer der Erinnerung erzählt

Von Jana FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Diese Störung im Gewebe der Dinge; wie kann ich sie beschreiben? – Eine Schwierigkeit mit dem Präsenz. Ich spüre diesen Moment, schmecke ihn, und doch entzieht er sich mir; es ist, als würde ich mich nur an ihn erinnern, ihn träumen.“ Mit fein gewebten Sätzen wie diesen lässt die international wirkende Künstlerin Andrea Scrima in dem 2010 auf Englisch und jetzt im Droschl-Literaturverlag in deutscher Sprache erschienenen Roman Wie viele Tage ihre Protagonistin vergangenen Momenten nachspüren. Diese Versatzstücke aus einer bereits verronnenen Gegenwart, die sich dem erinnernden Bewusstsein wie einzelne Elemente eines Kaleidoskops präsentieren, geben sich jedoch niemals so, wie sie wirklich gewesen sind, sondern haben sich durch den Schleier der verstrichenen Zeit und den mit ihnen verbundenen Gefühlen teils so sehr mit neuen Eindrücken zu einem untrennbaren Ganzen verwoben, dass ein fließendes Gewässer aus vergegenwärtigten Vergangenheiten entstanden ist, das auch nicht mehr zwischen einzelnen Orten differenziert.

In kurzen Passagen – zwischen die sich in Blanco gelassene Räume als Pausen schieben – lässt Scrima in Wie viele Tage das Berlin und das New York der 1980er und 1990er-Jahre wechselseitig ineinanderfließen. Jedoch nicht die Städte und die damalige Zeitgeschichte stehen im Vordergrund – diese irritieren den Text nur ab und an, indem sie in Form von Fotos und Zeitungsberichten in das Erleben der Protagonistin hineinbrechen –, sondern die konkreten Erfahrungen und visuellen Reize, denen die junge Künstlerin vorwiegend in ihren Wohnungen unterliegt. So haben wir teil an ihrem Erinnerungsfluss, der mal in ihre Wohnung und ihr Leben in New York, mal in ihre Wohnung in Berlin strömt, und wenn sie sich fragt, „[w]ie in der Zeit zurückgehen; man müsste alles abziehen, was danach gekommen ist, die Häute abwerfen, die seither gewachsen sind: sie eine nach der anderen abschälen und vergessen“, fragen auch wir uns, ob es möglich ist, einen Moment unserer eigenen Vergangenheit in unserem Bewusstsein wieder so auferstehen zu lassen, dass er uns als unmittelbare Gegenwärtigkeit gegenübertritt. Doch schon bald wird uns – so wie der jungen Frau – gewahr, dass dies unmöglich ist, auch wenn wir uns noch so sehr danach sehen, wie uns Scrima vor Augen führt, wenn sie schreibt

„Wie viele Male hat sich mein Denken in einer Schleife verfangen; wie viele Male hat es sich im Kreis gedreht um ein bestimmtes Wort, einen Ausdruck, der über ein Gesicht huschte und verschwand, wieder und wieder in dem Versuch, näher heranzukommen, aber an was. Jenes Gefühl, dass etwas da ist, wieder und wieder im Kreise; aber was. Jenes beunruhigende Gefühl einer bevorstehenden Enthüllung, die leise Panik. Und dann der Moment des Erkennens, dessen betäubende Wirkung. Ich sehe es, verstehe es, und doch sehe ich nicht, verstehe ich nicht. Die anschließende Amnesie, wenn das Bewusstsein seine neue Entdeckung sorgsam vergräbt, sie einige Zeit später wieder hervorholt, wenn es sich allein weiß, unbeobachtet, sie dreht und wendet, an ihr schnuppert, als sei sie ein ausgetrockneter Knochen.“

Doch wie können wir in dem jeweiligen Moment selbst wissen, ob er von Bedeutung für unser weiteres Leben sein wird, weil es beispielsweise der letzte mit einem geliebten Menschen ist? Das Problem: Erst aus der Retrospektive ordnen sich die Versatzstücke der Erinnerung in das Narrativ unserer eigenen Biographie ein – doch dann ist es bereits zu spät. Der Moment ist vergangen und außer dem unweigerlich zum Scheitern verurteilten Versuch, diesen durch den Akt des Erinnerns wieder heraufzubeschwören, bleibt uns nichts. Denn auch das Bemühen darum, die jetzt und in Zukunft erlebten Augenblicke so zu erleben, dass wir uns mit jedem noch so unbedeutenden Detail an diese so erinnern können, wie sie sich tatsächlich ereignen, ist sinnlos, wie auch die Protagonistin von Wie viele Tage feststellen muss, wenn sie bemerkt, dass sich der Moment immer schon entzieht, so als wäre er bereits Erinnerung, als wäre er bereits Traum statt Wirklichkeit.

Das Besondere und das Wunderbare an diesem Roman ist, dass es Scrima mit dem Ausdrucksmittel der Sprache gelungen ist, uns die Funktionsweise des Erinnerungsprozesses wirklich erfahrbar und erlebbar zu machen. Denn anstatt eines sinnvoll geordneten und strukturierten Narrativs präsentiert sie uns mit Wie viele Tage eine Textkomposition, die ebenso wenig ordnet und sinnvoll kategorisiert, wie unser Gedächtnis, wenn es sich der Gegenwart enthebt, um sich vergangenen Erlebnissen zuzuwenden. Unsere Erinnerungen sind sprunghaft, sie schwimmen von einem Bild zum nächsten. Und von Bedeutung sind meist die einfachen Dinge: die Möbelstücke, mit denen wir eine bestimmte Phase unseres Lebens assoziieren, die Erinnerung an unser Gefühl, dass wir gerne all unseren Besitz an einem Ort beisammen hätten, damit wir uns selbst nicht mehr wie ständig auf der Reise zu fühlen. Die Weltgeschichte erscheint in dem Leben des Einzelnen meist nur am Horizont, während es unser Leben in den eigenen vier Wänden und unsere Wahrnehmung der direkten Umgebung ist, das unser Sein bestimmt und beeinflusst. Für all dies steht dieser lyrische Roman, der durch den Einfluss der bildenden Kunst dahingehend auf wunderbare und einmalige Weise befruchtet wird, dass kraft der Sprache tatsächlich visuelle Bilder vor unserem geistigen Auge entstehen. 

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Andrea Scrima: Wie viele Tage.
Aus dem Amerikanischen von Barbara Jung.
Literaturverlag Droschl, Graz 2018.
192 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783990590133

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