Psychose und Poesie

In „Vater unser“ gestaltet Angela Lehner seelische Düsternis in lichter Sprache

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Quietschpink mit knallroter Schrift – als visuelle Irritation, gar Aggression, so leuchtet der Einband von Vater unser seinen LeserInnen entgegen. Vielleicht hält man damit bereits den Schlüssel für Angela Lehners Romandebüt in der Hand, denn der Text wartet mit mancherlei Verwirrspielen auf, die innerfiktional von der Protagonistin und Ich-Erzählerin Eva Gruber und ihrer nicht allein passiven Aggressivität ausgehen.

Die tertiäre Struktur des Romans – Teil 1: Der Vater, Teil 2: Der Sohn, Teil 3: Der Heilige Geist – korrespondiert mit der christlichen Dreifaltigkeit und liefert die Rahmung für einen Plot, dessen Hauptsequenzen leicht zu resümieren sind, der aber darüber hinaus von vielen Mini-Episoden durchsetzt ist. Diese lassen sich nur bedingt einem Erzählstrang zuordnen, sondern addieren sich vielmehr zu einem Sammelsurium von Anekdoten, die Eva Grubers besonderem Geisteszustand entsprungen sind.

Zu Beginn wähnt man sich in einem Standardkrimi. Die Polizei bringt Eva, deren Hände auf dem Rücken zusammengebunden sind, in die geschlossene Abteilung des Otto-Wagner-Spitals, eine traditionsreiche psychiatrische Klinik in Wien. Eva behauptet von sich, eine ganze Kindergartengruppe getötet zu haben. Sie trifft ihren ebenfalls internierten Bruder Bernhard, der an fortgeschrittener Anorexie leidet und kaum einer Therapie zugänglich ist. Mit ihm und seiner Freundin Adriana ist sie immer wieder im Gelände um die Klinik herum unterwegs. In den Therapiestunden bei ihrem Psychiater Dr. Korb ist Eva manchmal allein, manchmal mit Mutter und Bruder in einer Art „Familientherapie“ zusammen, so hat es zumindest den Anschein. In die Darstellung des Psychiatrie-Alltags mischt sich eine Vielzahl von Rückblenden, die in erster Linie um den Vater und seinen perniziösen Einfluss auf die Familie kreisen. Er habe seine Frau und seine Kinder verlassen, eine andere geheiratet und mit dieser eine neue Familie gegründet. Obwohl es Bernhard immer schlechter geht, er nach einem Zusammenbruch sogar mit einer Sonde ernährt werden muss, entführt ihn Eva aus der Klinik. Sie stiehlt ein Auto, behauptet, ihren behandelnden Arzt umgebracht zu haben, montiert eine österreichische Flagge an das Gefährt und cruist mit ihrem Bruder durch das Land. Sie verirren sich, werden von einer Bauernfamilie kurzfristig aufgenommen und versorgt. Später gelangen sie zum verfallenen Haus, in dem der Vater gewohnt hat. Am Ende schleppt Eva ihren Bruder, der vermutlich verstorben ist, in den Wald hinein.

Was ist Wahrheit? Was ist Lüge? Laut Platon ist unsere Wirklichkeit Lüge, denn sie ist nur ein schales Abbild der Ideenwelt in Form von Schatten auf der Höhlenwand. Ein Schriftsteller hat demnach keine andere Wahl, als exakt dieses Abbild wiederzugeben, denn auch ihm bleibt der Zugang zu den Ideen verwehrt. Er bildet ein Abbild des Abbilds ab und obwohl die Fiktion somit auf einer doppelten Lüge basiert, lässt sich in ihrem Umkreis dennoch die Frage nach der Wahrheit stellen. Nicht nach der empirisch nachprüfbaren freilich, sondern nach einer übergeordneten, moralischen und/oder ideologischen. Alternativ dazu bleibt einem Autor/einer Autorin die Wahl, beides kräftig zu durchmischen und die Ambivalenz zu feiern. Und genau das ist Lehners Haltung zu ihrer fiktionalen Wirklichkeit – eine weitgreifende Ambiguitätstoleranz auf Produktionsseite, die sie ihren LeserInnen ebenfalls abtrotzen möchte. Es ist ihr zu unterstellen, dass sie in ein Zwischenreich zu entführen gedenkt, in eine Art Refugium des Uneindeutigen, nicht Definierbaren, in dem alle Grenzen verschwimmen.

In dieser Pluralität manifestieren sich einige Themen, die blitzlichtartig aufscheinen und wieder fallengelassen werden, bevor sie vielleicht erneut kurz an die Oberfläche dringen. Eines dieser Themen ist die Lüge selbst, bearbeitet in einem Kapitel überschrieben mit „Lügen“. „Du sollst nicht lügen“ lautet das erste Gebot aus Evas Kindheit, ein Gebot, das sie eines Tages beim Durchblättern der Bibel als nicht existent und damit als Lüge entlarvte. Lehners Hauptthemen konkretisieren sich mit Figuren, denen oft eine Art Sündenbockstatus zu bescheinigen ist. Dies trifft auf Bernhards Freundin zu, insbesondere jedoch auf Dr. Korb und den Vater. All diese Charaktere bleiben nicht flach, lassen aber ihre mögliche Tiefendimension lediglich erahnen, weil alle Ansätze in Richtung Intensivierung sehr schnell wieder destruiert werden. Begibt man sich in dieser recht undurchsichtigen Masse nichtsdestoweniger auf Spurensuche, dann entdeckt man die Permanenz des Vaters – aber ist er tot oder lebt er eventuell noch? Er habe sich umgebracht, so sagt Eva im Erstgespräch mit Dr. Korb, und ihre Mutter sei auch tot. Ob das zutrifft, lässt sich nicht genau sagen, sehr deutlich offenbart sich gleichwohl die dauerhafte Wirkmacht des Vaters, er sei ein „Geschwür“, er „wuchert uns unter der Haut, er dringt uns aus den Poren“. Es sei „Blödsinn“, „das innere Kind heilen zu wollen“ – nur die Rache sei die „Wurzel alles Guten“, nur sie allein stelle „das Gleichgewicht wieder her“. Neben die übermächtige Vaterfigur tritt eine überaus ambivalente Geschwisterbeziehung. Eva betont immer wieder, dass sie für ihren Bruder sorgen müsse, trägt aber eine originäre Aggressivität ihm gegenüber in sich, denn sie war, wie ihr die Eltern immer wieder vermittelten, das Schreibaby, während der jüngere Bernhard als engelhaftes Wesen auf die Welt kam, ein Wesen, mit dem sie, die Schwester, nichts anzufangen wusste.

Eine Handlung, die im Vagen bleibt, der es an Kohärenz mangelt, die oftmals aus additiv aneinandergereihten Episoden besteht und in der sich Figuren tummeln, die sich nur sehr bedingt charakterisieren lassen – so könnte man resümieren, wie sich Vater unser dem Lesepublikum präsentiert. All das ist zwar in eine feste Form gegossen, die jedoch aufgrund des fliegenden Wechsels von einer Impression zur nächsten und aufgrund der parzellierten Figuren immer wieder gesprengt wird. Damit bildet Lehner einerseits die Welt des Wahns, der Psychose, des Realitätsverlusts ab, wobei eine genaue Diagnose des Leidens ihrer Protagonistin ausbleibt (vielleicht Borderline, weil einmal eher beiläufig die Sprache auf ihre Selbstverletzungen kommt). Andererseits nähert sie sich sehr stark den Postulaten der Nouveau Romanciers an, allen voran den Forderungen von Alain Robbe-Grillet, der in den 1950er und 1960er Jahren die Zukunft des Romans in seiner Formlosigkeit, in einer nicht klar konstruierten Handlung, in gewollter Inkohärenz und Lakonie erblickte. In einem solchen „neuen“ Roman sollten außerdem Figuren ohne klar skizzierte Vita auftreten. Die Plausibilität einer solchen Verwandtschaft verdichtet sich, wenn man einen genaueren Blick auf Lehners Sprache wirft. Sprache, so Robbe-Grillet, dei das Epizentrum des neuen Romans. Vater unser bietet einen sprachlichen Fluss rhythmisch ausgewogener Prosa, dem man sich gerne hingibt, den keine hypotaktischen Mammutsätze stören und in dem ab und an, sehr wohldosiert, ein Austriazismus aufscheint. Der Roman entpuppt sich insofern als Grenzgänger zwischen Prosa und Lyrik, als er sich mitunter wie ein langes Prosagedicht liest. Er brilliert mit Alliterationen und ungewöhnlichen Vergleichen (Eva zur Klinikkantine: „Der Trog ist trostloser als ein dickes Kind auf einer Poolparty“), vor allem jedoch mit passenden Ellipsen und Sätzen, die wie kurzatmig ausgestoßene Takte wirken.

Der erste Impuls beim Lesen: Man hätte sich mehr Spannung und mehr Tiefe gewünscht, denn es ist nicht hinweg zu lügen oder zu leugnen, dass der Text ein manches Mal gediegene Langeweile und/oder Ungeduld triggert. Der zweite Impuls jedoch: Schön, dass die Konturen verschwimmen, schön, dass es beim Uneindeutigen bleibt – einem Uneindeutigen, das die Deutungsarbeit der RezipientInnen anzufeuern vermag oder auch einfach so stehenbleiben kann. Beim zweiten Mal wäre die Lektüre von Vater unser womöglich eine andere, das vermutet Julia Friese (vgl. „Man holt sich beim Lesen blaue Flecken“, Spiegel online vom 05.04.2019). Es ist nicht ausgeschlossen, in den knapp 300 Seiten eine Partitur zu erblicken, die je nach Bedürfnis und Tagesform unterschiedlich reproduziert werden kann. Ob man sich jedoch wirklich ein zweites Mal auf Vater unser einlassen möchte, erscheint fraglich, zumal sich die Komposition und die Handlung streckenweise widerständig geben.

Titelbild

Angela Lehner: Vater unser. Roman.
Hanser Berlin, Berlin 2019.
284 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446262591

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