Publikumsbezirzung

Im TV-Gespräch mit Friedrich Luft vor 50 Jahren machte Peter Handke seine coolste Figur ever. Warum? Zum YouTube-Video

Von Markus JochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Joch

Friedrich Luft nervt. Ständig unterbricht der Gastgeber von Das Profil Peter Handke mit einem kurz angebundenen „Ja“ oder „Ja, ja, ja“, als sei er, Luft, der prominente Theaterkritiker Ende 50, ein ob seiner kostbaren Zeit besorgter Prof und der Mittzwanziger Handke ein redseliger Prüfling. Dabei spricht in der ARD-Sendung von 1969 der literarische Shootingstar nur ökonomisch. Trotzdem hackt Luft allein in die ersten dreieinhalb Minuten der Handke-Einsätze dreizehn Ja’s nebst vier Einwürfen. Ist das nicht dreist, genau die Sorte Gesprächsautoritarismus, die weggefegt gehörte, ein Skandal?

Eher nicht. Die innere Kalaschnikow wieder wegpacken, schon weil Lufts vielleicht doch nur kleine Unart einen wenig stört: Handke. Er ist von Anfang an die konzentrierte Ruhe selbst und beginnt immer öfter zu schmunzeln, lächeln, fast zu lachen (!). Entspannter sah man nur Klaus Wowereit vorm Flughafendesaster. Natürlich nimmt man auch die dunkle Brille wahr, poppig wirkend, doch vom Arzt verschrieben. Und die seltsam abgesägte Prinz-Eisenherz-Frisur – „Literatur-Beatle“? So hätten sie selbst Ringo nicht vor die Kamera gelassen. Dann Handkes angenehme, sanfte Stimme. Verblüffender aber seine durchgehende Freundlichkeit, denn so kennen wir ihn gar nicht mehr.

Heute prägt seine Interviews bei allen weisen, manchmal witzigen Momenten das plötzlich Eingeschnappte oder Grantelnde. Mal sollen die Werke anderer grauenhaft sein, unschöpferisch, Kunstgewerbe. Dann wieder gehören Dichterfeste abgeschafft, kriegt man den Deutschen Buchpreis für jedes Gewäsch, fehlt jungen Dramatikern der Dämon, sind Journalisten generell beschränkt und werden, zuletzt Katja Gasser im ORF, angeblafft. So anmutig Handkes Bücher sind und die Garten-Existenz von Chaville, dieser ständige Verdruss trübt nicht nur Gegnern den Genuss.

Bei kaum einem anderen Autor, zeigt das YouTube-Video (www.youtube.com/watch?v=fMPW00m_gZc), ist der habituelle Abstand zwischen gestern und heute so groß wie bei Handke. Vermutlich auch deswegen seit 2013 über 27.000 Aufrufe. Was also hat ihn im Juni 1969 gelockert? Es liegt zum Teil an Luft, der vor allem deshalb aufs Tempo drückt, um einen auf den Gast bestens abgestimmten Fragenkatalog durchzubringen. Überhaupt verstehen sich Kritiker und Schriftsteller prächtig. Das mag bizarr klingen, bedenkt man die Umstände von Handkes fulminantem Start im literarischen Feld.

Im Frühjahr 1966 zündet Kärntens Beitrag zur Raketentechnik beide Stufen auf Kosten der Kritikerzunft. Im April in Princeton attackiert der 23-Jährige nicht nur eine „Beschreibungsimpotenz“ der versammelten Gruppe 47, sondern auch die mitgereisten Kunstrichter; deren Kritik sei „ebenso läppisch […] wie diese läppische Literatur“. Womit er sich, Jörg Döring hat es kürzlich dokumentiert, zur Wehr setzte: Tags zuvor hatten besonders Walter Jens und Reinhard Baumgart einen Text des Neulings heruntergemacht. Zwei Monate später, im Frankfurter Theater am Turm, bildet eine minutenlange Parodie auf Kritikerphrasen den Höhepunkt der Publikumsbeschimpfung. „Ihr wart ein Ereignis. Ihr wart die Entdeckung des Abends. Ihr habt eure Rolle gelebt“: Das waren die Sätze, mit denen Handke mich (später, 1982) kriegte. Endlich einer, der paternalistische Kritik vorführte.

Nur, Luft kann das ’69 alles gelassen nehmen. In Princeton war er nicht dabei, als bräsig gilt er nicht, und die Herausforderung von Frankfurt findet der nach zwölf Jahren Nazi-Herrschaft an fast allem Neuen Interessierte interessant. Dass der Berliner in seine letzte Profil-Sendung Handke einlädt und damit vorherigen Gästen wie Peter Weiss und Friedrich Dürrenmatt gleichstellt, ist Ritterschlag und Sympathiesignal. Spätestens im Studio kann Handke erkennen, dass er diesmal einen Partner und keinen Schulmeister vor sich hat.

Amüsiert wird der Gast auf die grassierende Verdächtigung angesprochen, die Wortmeldung in Princeton „von langer Hand vorbereitet“ zu haben, worauf Handke genauso amüsiert eine Spontanrebellion versichert. Wenn Luft das wie beiläufig abnickt („dass Sie in der Tat gereizt waren, aus literarischen Gründen“), stellt er sich gegen alle, die Handke eine Publicity-Aktion nachsagten. Gesprächsstrategisch kluger Move. Unangestrengt wirken auch die folgenden Antworten Handkes, da Luft genau die Punkte antippt, in denen sich der Gast vom Gros der 68er abhebt. Womit er dem jungen Mann eine markante Selbstdarstellung erleichtert und zugleich, weit entfernt von bloßer Dienstbarkeit, ein Eigeninteresse verfolgt: Vulgärmarxisten eins auszuwischen. Deswegen lernt das Publikum einen Autor kennen, für den Formalismus und Elfenbeinturm positive Begriffe sind, der von Protestresolutionen und Unterschriftstellern wenig hält, jedoch sehr wohl bereit war, den Skandal-Freispruch für Benno Ohnesorgs Todesschützen als gelernter Jurist auseinanderzunehmen. Eingreifen ja, aber kompetent.

Einfach weil sie voneinander profitieren, ohne hehre Absicht, entsteht zwischen Interviewer und Interviewtem die Rangordnung von morgen: gar keine. Ein Kritiker, der sich zum Schriftsteller weder herablassend noch subaltern verhält, nur informiert, das ist 1969 intergenerationell neu. Ebenso das unpampige Selbstbewusstsein eines Jungautors; Rolf Dieter Brinkmann wäre aggressiver aufgetreten, aber hallo. Und: Handke verzichtet darauf, das Studio bedeutungsschwer vollzuqualmen. Gewaltiger Distinktionsgewinn gegenüber Dürrenmatt und in den Augen meiner Mutter. Noch neuer mutet das Neue in den letzten Tagen des Schwarz-Weiß-Bilds an.

Cool an Handke ist, das scheu Lächelnde, fast Burschimäßige mit Selbstgewissheit im Literaturprogramm zu verbinden. Einmal macht er sich über das Klischee lustig, sprachkritische Autoren aus Österreich stünden in Karl Kraus’scher Tradition, über einen „mechanischen Reflex“. Der ist in Deutschland noch heute anzutreffen, eine Art Austriakenpawlow. Was Handke an Kraus missfällt, ist die „komisch puristische Haltung des Sauberhaltens von Sprache“, wo es doch spannender sei zu beobachten, wie Sprachmodelle den Leuten mitspielen. Dass er das Geforderte in seinem neuen, drei Monate vor dem Interview veröffentlichten Buch gewitzt umgesetzt hat, ist nicht der kleinste Grund der Gelöstheit.

Man entsinnt sich jetzt, wie gut Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt war! Mal nachschlagen. Was ich nicht bin ist es immer noch. Eine Sammlung von 38 Redensarten, in denen sich ein Ich wichtig nimmt – von „Was ich SCHLIESSLICH nicht bin: Ich bin schließlich kein Hampelmann“ bis „Was ich GEWOLLT HABE: Ich habe immer nur das Beste gewollt“. Die Abgegriffenheit der Floskeln widerlegt ein starkes, individualisiertes Ich, ohne dass Seine Majestät das Ich es mitbekäme. Im Gegenteil: „Was ich BIN: Ich bin’s!“ Wenn es ein Buch gibt, das das Bewusstsein für Sprachschablonen schärft und doch, weil keiner über sie erhaben ist, vom Sprachwächter-Wahn entkoppelt, dann dieses.

Ältere Autoreninterviews auf YouTube sind Erinnerungsauslöser und, ja, Nostalgiespritzen. Aber auch Dauerwerbung. Luft, womöglich der Einzige seines Jahrgangs, der sich für Handkes experimentelle Textformen öffnete, thematisiert dessen Readymades. Für das heutige, auch netzbasierte Autorbild hat das potenziell Folgen. Der Minute 25 können 20- bis 40-Jährige entnehmen, dass es schon sehr hip war, Die japanische Hitparade vom 25. Mai 1968 auf Suhrkamp-Seiten zu hieven. Wer in 1960er- nicht prinzipiell Schnarchinformation wittert, wird Japans Charts dann vielleicht sogar lesen: „9 BARA NO KOIBITO: Wild Ones / 10 SAKARIBA BLUES: Mori Shin-ichi“ – Zeichen kultureller Hybridisierung, lange vor ihrem Begriff. Dabei war der Autor weder auf diesen semantischen Überschuss aus noch auf irgendeinen anderen. Wie er Lufts Frage nach einem Dada-Bezug (oder doch nur Ulk) generell verneint: „Diese Sachen gehören einfach zu meiner Existenz dazu, ich lese zum Beispiel gern Hitparaden“, wird popaffines Publikum aufhorchen lassen. Das „einfache wahre Abschreiben der Welt“ gab es schon vor Rainald Goetz.

Die teilweise enthusiastischen Kommentare zum Video („wunderbar“, „ganz toll“) dürften allerdings weniger damit zu tun haben, dass Digitalisierung neue Zugänge zum Wissen öffnet, als mit Handkes freundlichem Auftrittsstil, der sich immer auch der positiven Gesprächsdynamik verdankt. Je mehr Gefallen Luft an Stellungnahmen und Höflichkeit des Gegenüber findet, desto deutlicher wandeln sich die Ja’s von Beschleunigungs- in Zustimmungssignale, die wiederum den Gast bei Laune halten. Gefördert wird dessen Umgänglichkeit zudem durch vorgängige Faktoren.

Anfang Juni ’69, wenige Wochen vor dem Interview, ist Handke von links hart angegangen worden, hat Peter Hamm ihm in einem denkwürdig vernagelten Konkret-Artikel einen langen Sündenkatalog vorgehalten. Von Scheinaußenseitertum ist die Rede, Originalitätssucht und nebulösem Sprachkultus, „zwanghafter Artistik“ und „kleinbürgerlichem elitären Bewusstsein“ sowie, Überraschung, „totalem Desinteresse am Gesellschaftlichen“. In dieser Situation wird für Handke Friedrich Luft, der – so die kokette Selbstbezeichnung – „liberale Scheißer“, zum willkommenen Bündnispartner. Immerhin erlaubt er es einem, die eigene Sicht auch der literarpolitischen Dinge via TV zu verbreiten.

Weder Handkes postwendende, ebenfalls in Konkret veröffentlichte Antwort auf Hamm noch sein Interview sind Distanzierungen von der Linken schlechthin. Es sind Selbstabgrenzungen von ihrer sprachvergessenen und es sich im „warmen Mief der Gruppe“ (Wiglaf Droste) gemütlich machenden Fraktion. Worin sich die beiden Juni-Auftritte unterscheiden, ist der Ton. In der gedruckten Replik hat Handke mit seinem als Typus beschriebenen Kritiker „abgelebte Kulturgangster“, „parasitäre Mitläufer“ und „deprimierend denkfaule Anbiederungsmechanismen“ verbunden, also schon zur Genüge zurückgekeilt. Dadurch ist das Interview von Gegenpolemik entlastet. Dass er auch ganz anders kann, muss er nicht mehr beweisen.

Zwar blitzt im Fernsehen seine heftige Abneigung gegen die SDS-Linke kurz auf – als er ihren Hang, künstlerischem Eigensinn das Etikett Elfenbeinturm anzuheften, um ihn als gesellschaftlich isoliert herabzusetzen, gleich „verächtlich“ nennt, statt nur falsch oder abwegig. Doch ist im Interview harsche Wortwahl die Ausnahme, auch nicht namentlich adressiert. Dass der junge Handke binnen Tagen vom jederzeit abrufbaren polemischen Register auf einen sachlicheren Ton umstellen kann, buchstäblich auf beherrschte Stimme, zeigt von beträchtlicher Flexibilität in der posture, der in der Öffentlichkeit bewusst, mit Sinn für Auftrittseffekte gewählten Haltung.    

Leicht fällt ihm die Geschmeidigkeit wegen der komfortablen Position im literarischen Feld. Man vergleiche dieses Interview einmal mit dem ebenfalls YouTube-gespeicherten, das Goetz 2012 auf der Frankfurter Buchmesse zu Johann Holtrop gab. Hier wie dort bilden Neuerscheinungen den Gesprächsanlass. Aber: Während sich Goetz, unterstützt von Ijoma Mangold, der eher negativen Aufnahme seines Romans entgegenstemmt (oder -zappelt), bewegt sich Handke auch deshalb vergleichsweise Buddha-like, weil er den Beifall fast aller tonangebenden Literaturkritiker im Rücken hat. Selbst Die Zeit hat er im April ’69 auf seine Seite gezogen; der Rezensent des Innenwelt-Bands, Hellmuth Karasek, äußert sich erstmals hymnisch zum Autor. Die zweiten Sieger der Aufmerksamkeitsökonomie, von Hamm bis Hans Christoph Buch, werden es missvergnügt verfolgt haben: Handke kommt auf der Siegerstraße ins Studio und häuft dort mit Lufts Hilfe weitere Beachtung an.

Also doch der Literatur-Beatle, it’s getting better all the time. Und Maria Handke, die Mutter, lebt noch. Was wir sehen und hören, ist ein Schriftsteller in der Phase der Schwerelosigkeit. Dazu eine Sendung, die ein kleiner Schritt für die Beteiligten war, aber ein großer fürs dehierarchisierte Literaturgespräch. Das Beste 1969? Die Mondlandung war auch nicht schlecht. Sagen wir unentschieden.