Gedicht des Elementaren

Pablo Nerudas „Oda a la pereza“

Von Martina KopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Kopf

Veinte poemas de amor y una canción desesperada/Zwanzig Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung (1924) ist zweifellos Pablo Nerudas (1904-1973) populärster Gedichtband. Der chilenische Autor Jorge Edwards, zeitweise ein enger Mitarbeiter Nerudas im diplomatischen Dienst, beschreibt eine Lesung in Lima im Jahr 1970, bei der besagter Band, den der Nobelpreisträger selbstkritisch als „mittelmäßig“ bezeichnete und der eines der bekanntesten Gedichte enthält, nämlich das oft rezitierte Poema 20, keine Erwähnung fand – bis kurz vor Schluss der Veranstaltung:

Der Abend mit dem begeisterten Publikum war fast zu Ende, und die Zwanzig Liebesgedichte waren nicht vorgekommen. Die Frage stand im Raum, eine unausgesprochene Bitte. Und plötzlich, als der Beifall abebbte, setzte er ein mit seiner unverwechselbaren Stimme und einem Gesicht, das an eine frisch aus der Erde gezogene Kartoffel erinnerte: ‚Heut nacht kann ich die trübsten, traurigsten Verse schreiben.‘ Ein tiefer Seufzer ging durch den ganzen Saal, ein einziger großer kollektiver Hauch, in dem die weiblichen Töne vorherrschten, an dem aber alle, Männer und Frauen, Alte und Junge teilhatten. Der Dichter lächelte breit, überglücklich und rezitierte, diesmal in eine feierliche Stille hinein: ‚Heut nacht kann ich die trübsten, traurigsten Verse schreiben. Schreiben etwa: Mit Sternen übersät ist das Dunkel, und blaugefroren zittern weit entfernte Gestirne‘ – bis das ach so bekannte Gedicht, begleitet von einem einhelligen und tosenden Beifall, endete.

Vor allem seine Liebeslyrik und seine politischen Gedichte machten Neruda populär. Doch der Nationalpoet Chiles, der zwar im diplomatischen Dienst international unterwegs war und sich als Sänger für die Welt bezeichnete, wurde auch für seine Liebe zu seinem Heimatland und zu seinem Kontinent bekannt und erklärte: „Der Dichter muss gezielt national, reflexartig national, reiflich national sein.“ In seiner Rede aus Anlass des Nobelpreises beschreibt er die Aufgabe des lateinamerikanischen Dichters, „den Kontinent mit Worten zu füllen“, um denjenigen zu helfen, die ihre Notlage und Bedürfnisse nicht ausdrücken können.

Allerdings brachte er in seinen Gedichten nicht nur seine Bewunderung für Frau, Lateinamerika und Natur zum Ausdruck, sondern besang ebenso die grundlegenden Dinge des Lebens. Als Dichter des Elementaren schrieb er Oden an die Hoffnung, den einfachen Menschen, an die Artischocke, die Zwiebel, den Wein oder die chilenische Seeaalsuppe, an die Einsamkeit, den Seesturm oder eben auch an die Faulheit. Dies stets mit dem für ihn charakteristischen zärtlichen Blick und auf eine irgendwie rührende Art und Weise.  

Dieses ambitionierte Projekt einer die Welt umspannenden Oden-Vielfalt, während des Kalten Kriegs von einem Kommunisten mit einer Sammelleidenschaft begonnen, wird in den Odas de todo el mundo beschrieben:

Odas
de todos
los colores y tamaños,
seráficas, azules
o violentas,
para comer,
para bailar,
para seguir las huellas en la arena,
para ser y no ser.

Nerudas Oden, Odas elementales (1954), Nuevas odas elementales (1956), Tercer libro de las odas (1957), Navegaciones y regresos (1959), charakterisieren sich durch oft sehr kurze Zeilen und einen Verzicht auf Reim – dieser Minimalismus auf der formalen Ebene scheint die Thematik des besungenen Elementaren zu bestärken. Großes Vorbild für seine Oden war Walt Whitman, dem er selbstverständlich auch eine Ode widmete. Ansonsten scheint Neruda Horaz nachzueifern, nicht nur wegen des Fokus auf die simplen Dinge, sondern auch wegen seiner Beschränkung auf wenige metrische Variationen. Neruda betonte nicht nur sein ästhetisches Ziel, einfach zu schreiben, sondern auch seinen Anspruch, ein zyklischer Dichter sein zu wollen, der von der Emotion oder Vision eines Moments zu einer größeren Einheit übergeht. So erklärte er zu den Odas elementales:

Die elementaren Oden verwandelten sich durch eine äußere Anregung noch einmal in dieses Element, das ich immer bevorzugte: in das der Ausdehnung und der Totalität […]. So gelang es mir, eine lange Geschichte dieser Zeit zu publizieren, der Dinge, der Berufe, der Leute, der Früchte, der Blumen, des Lebens, meiner Vision, des Kampfes, schließlich, eine Geschichte all dessen, was ich von neuem umfassen konnte in einem weiten zyklischen Impuls meines Schaffens.

Bereits die einzelne Ode ist selbstverständlich mehr als Mut zur Banalität. Sie lässt sich nicht auf eine Ästhetisierung des angeblich Elementaren reduzieren, sondern stellt verdeckte Zusammenhänge her. Nicht selten verleiht Neruda, der meistens klare Antworten auf alles hatte oder wenigstens glaubte, sie zu haben, seinen Oden einen nachdenklichen Charakter, eine Moral, einen didaktischen Wink oder auch eine Pointe.

Die Oda a la pereza mag auf den ersten Blick unscheinbar anmuten. Im spanischen Original erklingt sie geradezu, doch in der deutschen Übersetzung lässt sich dieses Klangspiel kaum angemessen wiedergeben. Sie ist nicht nur eine Lobeshymne auf die Faulheit, sondern auch ein poetologisches Gedicht, das dichterisches (Nichts)Tun thematisiert. Sie ist ebenso ein persönliches Gedicht, das von einer dichterischen Schaffenskrise berichtet. Und schließlich ist sie auch ein paradoxes Gedicht: Erst durch Faulheit, eigentlich die Krönung der unverzeihlichen Leistungsverweigerung, wird der Oden-Dichter tätig.

Bereits zu Beginn der dreiteiligen Ode werden Untätigkeit und Passivität besungen. Die mit pflanzlichen Attributen geschmückte Ode soll eigentlich aus dem Boden sprießen und mindestens vier Blätter entfalten, aber sie will nicht wachsen. Da bleibt dem unruhigen Dichter nur die Personifizierung der Ode, er spricht sie auf brüderliche Art an („hermana oda“) und stellt damit eine familiäre Vertrautheit her. Er verspricht ihr, sie zur Königin der Oden zu krönen. Doch anstatt der Ode zieht wie ein Unwetter am Horizont die Faulheit auf und alles scheint vergebens: Der Dichter wird von ihr geblendet, zum Faulsein geradezu verführt. Erst durch die „nackte Faulheit“ wird er in seiner angeblichen Passivität schließlich aktiv, richtet seinen Blick auf elementare Dinge am Meer: Holz, Algen, Steine, Vogelfedern, ohne allerdings auf kostbare Mineralien („ágatas amarillas“) zu stoßen.

Die Faulheit macht ihn empfänglich für Flora und Fauna, die der Dichter dann auch direkt ästhetisiert: Ein Sonnenstrahl öffnet eine Blumenkrone, die Kormorane werden zu schwarzen, an die Felsen genagelten Kreuzen, und der Nebel mit Licht durchtränkt gleicht einem Topas – hier, in der nun einsetzenden dichterischen Kontemplation, findet sich also doch der in der Natur anfangs nicht gefundene Edelstein. Auch wird der Dichter neben der visuellen für die haptische Wahrnehmung, die glatte Oberfläche eines Steinchens, sensibilisiert („era suave, suavísima / como un pecho de un pájaro“). Nach diesem zweiten Teil der Ode, der wie ein müßiger Ausflug ans Meer daherkommt, kehrt der Dichter im dritten und letzten Teil für einen Moment zu seiner anfangs beklagten Verpflichtung – der flüchtigen Ode – zurück, um schließlich sein Nichtstun auf die allerhöchste Stufe zu treiben: Er schläft ein. Doch als die dichterische Faulheit in ihrer Extremform gipfelt, ist die Ode fertig – erschienen und geschrieben.

Die Faulheit wird damit zum Garanten für die Ode und Müßiggang zum Schlüssel dichterischen Erfolgs. Damit ist die Oda a la pereza nicht nur ein Loblied auf die Faulheit, sondern auch ein kleines poetologisches Manifest. Banal ist das Elementare also bestimmt nicht, denn erst der Blick auf die angeblich einfachen Dinge lässt Zusammenhänge aufscheinen und Poesie wortwörtlich sprießen.

Literatur

Edwards, Jorge: Adiós, Poeta… Barcelona 1990.

Neruda, Pablo: Obras completas. Hg. von Hernán Loyola. Band II: De „Odas elementales“ a „Memorial de Isla Negra“ 1954-1964. Barcelona 1999. 

Osorio, Nelson: Pablo Neruda en breve. Santiago de Chile 2001.

Schmitt, Hans-Jürgen: Pablo Neruda. München 2009.

Stackelberg, Jürgen von: Pablo Neruda. Politische Lyrik und poetischer Realismus. Frankfurt u.a. 2002.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zur Reihe „Lyrik aus aller Welt. Interpretationen, Kommentare, Übersetzungen“. Herausgegeben von Thomas Anz und Dieter Lamping.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz