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Ein von Johannes Odendahl herausgegebener Sammelband beleuchtet das Verhältnis von Musik und literarischem Lernen

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der von Johannes Odendahl herausgegebene Sammelband unternimmt den ambitionierten Versuch, das fachdidaktisch bislang vergleichsweise selten beleuchtete „Verhältnis von Musik und literarischem Lernen“ intensiver zu betrachten und dabei besonders intermediale Aspekte in den Vordergrund zu rücken. Er geht auf eine interdisziplinäre Tagung im Jahr 2018 an der Universität Innsbruck zurück, die Forscherinnen und Forscher aus den Bereichen Komparatistik, Literaturwissenschaft, Deutschdidaktik, Musikwissenschaft und Musikpädagogik zusammengeführt hat, um „ganz unterschiedliche Perspektiven auf das Potenzial der Musik für das literarische Lernen“ zu diskutieren. Der Sammelband liefert, dies sei vorweggestellt, kein Kompendium zu der Thematik, sondern bietet lesenswerte und anregende Einzelstudien sowie grundlegende Betrachtungen zu einem weitläufigen Forschungsgebiet.

Drei thematische Schwerpunkte prägen Musik und literarisches Lernen, was sich auch im Aufbau in drei Abschnitten mit insgesamt elf Forschungsbeiträgen niederschlägt: Im ersten Teil werden in zwei Beiträgen die wechselseitigen Beziehungen zwischen Sprache, Literatur und Musik auf der Basis relevanter Theorien zur Intermedialität systematisch untersucht, um die Beziehungen zwischen literarischem Lernen und Musik auf ein theoretisch valides Fundament zu stellen. Fünf Beiträge im zweiten Abschnitt „Sprechen über Musik – ‚musikalisch‘ sprechen“ gehen Fragen nach dem Musikalischen als Mittel der Lyrik, der Wirkung von Stimmen in Texten von Ingeborg Bachmann oder Paul Celan sowie geeigneten Formen beziehungsweise Schwierigkeiten des Sprechens mit beziehungsweise über Musik nach. Der dritte Teil widmet sich in vier Studien dem weiten Feld der Rockmusik und der Popkultur sowie den sich daraus ergebenden Fragen nach intermedialen Gestaltungsformen, Zugangsformen über Performanz und Stimme und den spezifischen Beiträgen zum literarischen Lernen.

Bereits der Einführungstext von Odendahl fragt stimmig nach dem Potenzial der Beschäftigung mit Musik für das literarische Lernen und verfolgt diese Fragestellung in drei Richtungen: Methodisch durch die Frage, inwiefern Musik bei der Vermittlung von Literatur im Unterricht helfen könne, gegenstandsbezogen durch die Frage, inwiefern Musik im Literaturunterricht thematisiert werden sollte sowie hermeneutisch danach, inwiefern musikbezogene Rezeptionsfähigkeiten auch für das literarische Verstehen förderlich sein können. Dazu skizziert er den theoretischen und methodischen Rahmen durch die kenntnisreiche Darstellung des aktuellen Stands der Intermedialitätsforschung: Unter Bezug auf Konzepte Susanne Langers, Arthur Schopenhauers und Günther Anders’ sieht der Innsbrucker Didaktiker Musik als semiotisches System, das durch gestalthafte Entsprechungen auf affektive und energetische Phänomene rekurriert. Dadurch schaffe sie – analog zur Literatur – Möglichkeiten, das individuelle affektive Erlebensspektrum zu erweitern beziehungsweise zu vertiefen.

Einen weiteren Bezugspunkt von Literatur und Musik bildet ihre Klanglichkeit. In Abgrenzung zu operationalisierbaren Kompetenzen, die momentan den fachdidaktischen Diskurs dominieren, plädiert Odendahl dafür, über den Einbezug von Musik in den Literaturunterricht eine kunstformübergreifende musisch-literarische Erziehung zu etablieren, „die schon früh, im Elementar- und Primarbereich nämlich, ansetzt, um den Sinn für Äquivalenz- und Rekurrenzstrukturen zu öffnen und bis in die Deutschlehrerinnenbildung hinein wachzuhalten“.

Der Grazer Intermedialitätsforscher Werner Wolf analysiert Formen intermedialer Bezüge zwischen Musik und Literatur und reflektiert über sich daraus ergebende Erkenntnisse für Literatur und Literaturunterricht. Dazu erläutert er ein differenziertes System intermedialer Bezüge und zeigt an musikalischen und literarischen Beispielen, wie verschiedene Intermedialitätsweisen strukturell aussehen können und welche schulischen Bezüge sich daraus ableiten lassen: „Im Unterricht bietet das Eingehen auf intermediale Phänomene […] jedenfalls Chancen, das Medium ‚Literatur‘ besser und umfassender zu verstehen.“ Er ergänzt diese Aussage um ein Plädoyer für fächerübergreifende Unterrichtskonzeptionen, die besonders bei einer sogenannten literaturzentrierten Intermedialität realisierbar seien: „Musikeinbeziehende Intermedialität im Deutschunterricht bietet jedenfalls Chancen auf sinnvolle Erweiterungen und Vernetzungen von Wissen, Fähigkeiten und Bildungsbereichen, Chancen, die genutzt werden sollten“.

Die Betrachtung von musikalisch-literarischen Beziehungen und deren exemplarische Untersuchung bilden den roten Faden der fünf Studien. Dabei stößt man etwa – wie zu erwarten war – auf Texte der Romantik aus der Feder von Wilhelm Heinrich Wackenroder, Ludwig Tieck oder Joseph von Eichendorff, auf Dichterlesungen von Lyrik am Beispiel von Gedichtrezitationen von Ingeborg Bachmann und Paul Celan aus dem Jahre 1952 und auf Vertonungen von Gedichten durch Franz Schubert. Hörendes Lesen und die Bedeutung der stimmlichen Realisation lyrischer Texte werden thematisiert, aber auch die Frage, inwieweit man metaphorisch über Musik sprechen kann.

Im dritten Teil liest man, neben konstruktiven Studien zu PeterLichts popmusikalischer Rilke-Rezeption, zur Schwarzen Romantik und zu Gothic Elements bei Rammstein und Julee Cruise oder zur Bedeutung der Chemnitzer Formation Kraftklub für den Einsatz von Rockmusik im Deutschunterricht mit großem Gewinn den Beitrag von Heidi Lexe zur Erzählfunktion jugendliterarischer Soundtracks. Dazu arbeitet die Wiener Literaturwissenschaftlerin durch einen narratologischen Blick auf Adoleszenzromane von Tamara Bach, Kathrin Steinberger und Niels Mohls heraus, wie transmediale Erzählformen zum wesentlichen gestalterischen Moment von Jugendliteratur werden, indem popmusikalische Implikationen eingebunden werden. Zugleich verweist sie in plausibler Weise auf Konsequenzen für die Unterrichtsarbeit mit entsprechenden Texten: „Die rasche Verfügbarkeit einzelner Songs und der dazugehörigen Musikvideos lassen popmusikalische Einschreibungen in den Roman zu einem Werkzeug werden, das in der Rezeption des Textes die Grundlage zur Ausdeutung einzelner Figuren gleichermaßen wie der Motivik des Gesamttextes zu bieten vermag.“

Das breite Spektrum der im Sammelband vorgestellten Forschungen zeigt die Relevanz der Thematik und das Potenzial, das in einem Projekt zur musikalisch-literarischen Erziehung steckt. Dabei beziehen sich die durchgehend kompetent und sachkundig verfassten Beiträge auf ein weitgefasstes Konzept von literarischem Lernen „in eher globaler Weise“, indem generell literaturbezogene Lehr- und Lernprozesse fokussiert werden. Insgesamt votiert der Band somit für eine Erweiterung des bisherigen Deutschunterrichts um eine konsequent berücksichtigte intermediale Perspektive und setzt diese Orientierung in mehreren richtungsweisenden Einzelbeiträgen selbst um. Positiv hervorzuheben ist gerade der Blick auf bislang vernachlässigte Themen und Konstellationen im Verhältnis von Literatur und Musik.

Titelbild

Johannes Odendahl (Hg.): Musik und literarisches Lernen.
Innsbruck University Press, Innsbruck 2019.
218 Seiten, 27,90 EUR.
ISBN-13: 9783903187498

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