Zikade in einer grauen Welt

Wunder gibt es bei Shaun Tan immer wieder, das zeigt sich auch in „Zikade“. Ob es allerdings ein Buch für Kinder ist, bleibt fraglich

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Grau ist die Welt. Die Menschen leben in großen, grauen Kästen, haben graue Anzüge an. Grau sind auch ihre Gedanken. Und mittendrin sitzt Zikade am Schreibtisch, gibt mit seinen vier Vorderpfoten etwas in den Computer ein: „Zikade arbeitet in Hochhaus. Dateneingabe. Siebzehn Jahre. Kein Tag krank. Kein Fehler. Tack Tack Tack!“ Hinter sich eine graue Uhr, ein grauer Schrank und ein graues Großraumbüro.

Ein tristes, eintöniges Leben, denn die grüne Zikade mit den großen blaugrünen Augen ist nie befördert worden: „Personalabteilung sagt, Zikade kein Mensch. Braucht kein Geld.“ Wenn er mal muss, darf er nicht auf die Bürotoilette, sondern muss nach draußen: „Zwölf Stockwerke. Jedes Mal zieht Firma vom Gehalt ab. Tack Tack Tack!“ Dafür macht er Überstunden und sitzt abends lange allein im Büro, denn: „Menschen machen Arbeit nie fertig. Zikade immer lange da. Macht Arbeit fertig. Niemand dankt Zikade. Tack Tack Tack!“ Stattdessen mobben und quälen sie ihn, treten und schlagen ihn. Einsam ist er auf der Arbeit, einsam ist er auch abends, wenn er sich in eine Nische im Büro zurückzieht, wo er übernachtet und an einem Blatt mümmelt, eine kleine graue Kanne Tee neben sich: „Miete zu teuer für Zikade. Firma weiß angeblich nichts.“ Und natürlich geht auch Zikade einmal in Rente, packt seine Sachen, den Chef mit verschränkten Armen hinter sich: „Keine Rede. Keine Feier. Tack Tack Tack!“

Ein düsteres Buch hat Shaun Tan mit Zikade geschrieben und gemalt, von einer gequälten Seele, die unter fremden Wesen leben muss, die sie nicht versteht. Die Zikade missachten und misshandeln, ihn ausbeuten und abschieben, als sie ihn nicht mehr brauchen. Die einzige Farbe in dieser Welt ist das Grün der Zikade, das hübsche Grasgrün des Kopfs und der vier Hände, das fast schwarze Grün seiner Augen, in denen es ab und zu blau blitzt. Alles andere ist hell- oder dunkelgrau. Auch Gesichter sieht man keine, nur eine vorbeihastende Frauengestalt im grauen Business-Kostüm, die schwarzen Schuhe und grauen Hosenbeine der Männer, die ihn treten, die verschränkten Arme des Chefs, der ihm befiehlt: „Sachen packen.“ Man sieht die grauen, kleinen Boxen, in denen die Angestellten sitzen, und die schattigen Hochhausklötze einer grauen Welt.

„Keine Arbeit. Kein Zuhause. Kein Geld. Zikade geht auf Hochhausdach. Zeit für Abschied. Tack Tack Tack!“ Und steht am Rand des Dachs und schaut in einen lilagrauen Himmel, und man denkt schon, dass er sich gleich hinunterstürzen wird. Aber dann geschieht eines der Wunder, die man bei Shaun Tan immer wieder erlebt: eine Verwandlung. Kopf und Rücken von Zikade brechen auf, ein leuchtend brennendes Rot schießt hervor,  und es schlüpft eine rote Zikade aus der Haut. Breitet die Flügel aus und fliegt davon, lässt den alten Körper in seinem grauen Anzug als leblose Hülle auf dem Dach zurück. Und plötzlich ist der ganze Himmel voll von diesen roten Wesen – und die graue Welt ist verschwunden.

Ein düsteres Buch ist Zikade und ein hoffnungsfroh buntes. Eine schöne, kleine Parabel mit mehreren Schichten – es erzählt von Fremdenhass und Ausbeutung, und es erzählt von Lebenslust und Lebensfreude, von der Leichtigkeit des Seins, dem Wunder des Lebens und der Lächerlichkeit des Graus: „Alle Zikaden fliegen zurück in Wald. Denken manchmal an die Menschen. Müssen dann lachen. Tack Tack Tack!“ In wenigen prägnanten Sätzen erzählt Shaun Tan die Geschichte, sprechend sind vor allem seine Bilder, die – wie immer – eher Gemälde sind als Illustrationen und mehr erzählen als die spröden Worte, die gleichwohl präzise gesetzt sind.

Titelbild

Shaun Tan: Zikade.
Übersetzt aus dem Englischen von Eike Schönfeld.
Aladin Verlag GmbH, Hamburg 2019.
32 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783848901630

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