Sick-City-Lyrik

Die Gedichte von Jörg Fauser wurden neu herausgegeben

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Gedichte konfrontieren den Leser mit einem Ansturm aus Wörtern und sprachlichen Bildern, mit Zeilen und Strophen voller Rhythmus und Sprachbewegung, voller Melancholie und Traurigkeit, Lebensgier und Lebensekel und Lebensüberdruss, voller Erwartungen an das Leben und voller Hoffnungslosigkeit und Todessehnsucht, vor allem voller Liebe zum Schreiben, zum Dichten, zum Gedicht. Es ist „rockbottom -Lyrik“, die von ganz unten „erzählt“, wo die Junkies sich einen „Schuss“ setzen, die Alkoholiker die halbe Nacht über am Tresen hängen, die Liebe vor allem Sex für ein paar Stunden ist, wo der Morgen trist und grau aussieht, die Ratten neben den Mülleimern in der Gosse vorbeihuschen und der Schmutz und die Trostlosigkeit von billigen Spelunken und Kellerwohnungen Teil eines Drücker- und Trinkerlebens sind. Aber die Gedichte sprechen auch von ganz anderem, von der Sehnsucht nach Glück, nach Wärme und Geborgenheit, und immer wieder vom Schreiben, als bestehe darin, mehr als in allem anderen, die Hoffnung für das Ich der Texte, sich und die ganze Welt zu retten.

Die Texte entfalten einen unwiderstehlichen Sog, verstören aber auch und stellen immer wieder eine Zumutung für die Leser dar, weil sie sie schonungslos mit der fremden Welt eines Heruntergekommenen konfrontieren. Ihr Autor ist Jörg Fauser, Kult-Schriftsteller seit seinem tragischen frühen Tod: Er wurde am 17. Juli 1987 nach seiner Geburtstagsfeier in München als Fußgänger, wahrscheinlich betrunken, auf einer Autobahn von einem Lastwagen erfasst und getötet. Der amerikanische Underground-Autor Charles Bukowski, den Jörg Fauser als eines seiner literarischen Vorbilder verehrte, den er 1976 in New York besuchte und über den er eine vielbeachtete Reportage veröffentlichte, schrieb dazu den passenden Satz: „Gegen einen Laster kommt keiner an, goodbye Joe, ich bin froh, dass wir dich hatten.“

Fauser wurde 1944 in Bad Schwalbach bei Frankfurt geboren. Nach Abitur und abgebrochenem Studium hielt er sich für längere Zeit in London und Istanbul auf. Er war in dieser Zeit drogenabhängig, es gelang ihm jedoch, sich von der Sucht zu befreien. Fauser bemühte sich, als Schriftsteller Fuß zu fassen. Es wurde ein steiniger Weg. Er brauchte viele Jahre, bevor er literarische Anerkennung fand und von seinen Veröffentlichungen leben konnte.

Der vorliegende Gedichtband enthält etwa 150 Texte, die er zwischen 1964 und 1987 geschrieben hat. Das Buch trägt den poetischen Titel Ich habe große Städte gesehen, die die Anfangszeile des 1978 entstandenen Gedichts Berlin, Paris, New York. Er trifft nur einen Teil, nicht den Kern von Jörg Fausers Lebensgefühl, das in den Texten beschworen wird. Es geht zwar in vielen Gedichten um die Faszination der großen Städte. Ihre Anziehungskraft und Attraktivität werden in überschwänglichen, ja hymnischen Tönen beschrieben. Sie sind, so scheint es, unwiderstehlich, verlangen die totale Hingabe des Ich an den Moloch Stadt und versprechen und bieten dafür den Exzess schlechthin, ein Leben in Extremen und Ausnahmezuständen, mit Drogen, Sex und Alkohol, mit ungeahnten Herausforderungen und einer Überfülle an Ablenkungen und Reizen.

Genau das ist der Punkt, an dem der Buchtitel zu kurz greift. Fauser ist in seinen Gedichten präziser. Er spricht von „Fat City“, „Sick City“ und schreibt den „Cut City Blues“. Es sind die dunklen und schmutzigen Ecken und Viertel der Städte Frankfurt, München und Berlin, London und Istanbul, New York und L.A. und Rabat mit ihren wilden Nächten und schmuddeligen Bars und billigen Absteigen, die er in seinen Gedichten vor den Augen der Leser entstehen lässt. Sie handeln von einem „Sick City“-Leben, mit Rauschzuständen und Sexabenteuern, die allesamt in geplatzten Lebensträumen und deprimierender Einsamkeit enden.

Fauser – man darf das Ich der Texte auf die Person des Autors beziehen, zu verwoben sind die biografischen Fakten mit dem, wovon die Gedichte handeln – taucht ohne Wenn und Aber in diese verwirrende, chaotische und gleichzeitig süchtig machende Welt der Metropolen ein. Er liebt ihre Atmosphäre aus Lärm, Dunkelheit und Bars und berauscht sich an ihrem Rhythmus wie an einer Droge. Die „Sick City“ selbst ist eine Droge, die den, der sich nicht vorsieht, seelisch und physisch „kaputt“ macht. In dem Gedicht, aus dem der Titel des Bandes stammt, heißt es, noch eher verhalten:

Berlin, Paris, New York,
eine Straßenecke in Schöneberg
erregt mich tiefer
als der Schnee
auf dem Mont Blanc
oder die Wälder
im Untertaunus,
[…]
ich wurde von den großen Städten geformt,
was ich sah, was ich litt, was ich wurde
verdanke ich einer Mutter aus Stein,
der großen Stadt,
und morgen, wenn meine Zeit vorbei ist,
wird es die große Stadt sein
die mich begräbt.

Der erste Text des Buches trägt dann auch die Überschrift An London. Er wurde 1964 geschrieben, zu dieser Zeit war Fauser 20 Jahre alt. Es ist eine Hymne auf die englische Großstadt. Sie wird wie eine Geliebte erhöht und in pathetischen Worten mit Wiederholungen und anaphorischen Wendungen im wahren Sinn des Wortes „besungen“. Der Autor sieht die Unzulänglichkeiten und Widersprüche der Stadt, bekennt sich aber gerade wegen dieser „dunklen“ Seiten voll und ganz zu ihr: „darum liebe ich dich“. Die Sprache des Gedichts ist emotional und ungestüm. Der liedhafte Ton schafft mit seinen einfachen und ungekünstelten, aber auch pathetisch klingenden Zeilen so etwas wie eine Großstadt-Melodie. Sie handelt vom Zwang, sich der Stadt mit ihren hässlichen Seiten bedingungslos auszuliefern. Sie verspricht etwas, das es an einem anderen Ort nicht gibt, Ungebundenheit und Freiheit:

da bin ich zu Haus, wo ich unter angeschimmelten
Hüten spaziere auf Oxford Street um drei Uhr nach Mittag,
da bin ich zu Haus und allein,
ruhelos, fraglos.

Was in diesem frühen Gedicht bereits anklingt, die Ruhelosigkeit des Autors, seine Ortlosigkeit, sein Außenseitertum und seine Einsamkeit, wird von Gedicht zu Gedicht gesteigert und intensiviert. Es endet in Einsamkeit, absoluter Verlorenheit und völliger Abhängigkeit von harten Drogen: So heißt es in Treffpunkt Alfa Centauri (1973):

[…]
ganz auf Touren im Amphetamin-Flash,
kaltes Flackern im Raum, unten
hole ich aus der griesgrämigen Apothekerin
Polamidon raus, du oben mit meiner
letzten Vene, niemand hört zu, allein,
U-Bahn-Apotheose am Nollendorfplatz,
fixiert auf dich, die Vene am kleinen Zeh,
Regen in Berlin-West, Regen
auf dem Kontinent des letzten Scripts,
später total aufgeschmissen
in der dadaistischen Phase der Entzugs,
verwanzte Spritzen, kichernde
Ku’damm-Ratten, völlig kaputt,
[…]

Drastischer und deutlicher kann die Selbstzerstörung durch Drogen kaum dargestellt werden. Die Sprache beschönigt nichts, wirft ein grelles Licht auf den Vorgang des Spritzens und die Schäbigkeit des Ortes. Der Treffpunkt mit anderen Junkies auf einem anderen Stern, auf Alfa Centauri, ist – auf absurde Weise – der einzige Ausweg aus dem dunklen Milieu, ein kleiner Hoffnungsfunke.

Fauser war viele Jahre drogenabhängig, ist aber schließlich von den harten Rauschmitteln losgekommen. Er ist dem Tod, wie er in Rückschau-Gedichten betont, entkommen. Vielen seiner Freunde ist das nicht gelungen. So ist der Tod in seinen Gedichten ein häufig wiederkehrendes Motiv. Dort, wo die Fixer und Alkoholiker leben, ist er nicht weit weg. In dem frühen Gedicht Von der Unbelehrbarkeit der Erde aus dem Jahr 1964, Weihnachten geschrieben und mit der anrührenden Widmung „Für Mami“ versehen, heißt es in den Schlusszeilen:

Ich werde ein Haus bewohnen
und vielleicht ein anderes,
werde meinen Namen in die Tür schreiben wo ein anderer war
und ein anderer sein wird nach mir,
ich werde mit wenigen leben und wenige verlassen,
und werde zur Tür hinausgehen, durch die ich eintrat,
ohne Trauer, ohne Freude und Verlangen,
unbemerkt von den Tälern und Gärten der Erde
werde ich sterben

Dieser lapidare, völlig unlarmoyante Umgang mit Tod und Sterben, in keiner Weise zynisch, eher würdevoll und ernst, zieht sich wie ein roter Faden durch die Texte der Sammlung. Vor allem in den Schlussversen, die das, wovon die Zeilen vorher sprechen, verdichten und noch einmal auf den Punkt bringen, wird das Motiv der Selbstzerstörung, der Verlorenheit und des endgültigen Abschieds, des Sterbens, greifbar.

Im zweiten Teil des Buches geht es weniger um das Drogenmilieu, wenn auch Erinnerungsgedichte die Existenz der Fixer am Boden der Gesellschaft immer wieder thematisieren. An Stelle des Rauschmittels Droge tritt in den späteren Gedichten der Alkohol: Whisky, Wermut, Pernod und Bier, immer wieder Bier. Der Autor wird zu einem „heiligen Trinker“. Das Wort „heilig“ verweist auf die völlige Hingabe an den Alkohol und – ein grotesker Vorgang – adelt diese Haltung gleichzeitig: Trinken als Kulthandlung. Von außen kann in einem solchen Fall keiner helfend eingreifen oder etwas ausrichten. Der „heilige Trinker“ bleibt unantastbar und allein. In dem Gedicht Krähen aus dem Jahr 1977 stehen die Zeilen:

Eis klinkert im Glas
aber der Whisky
schmeckt nicht mehr
nach Jugend.
Auf den Bäumen am Platz
hockt meine Jugend
unter den Krähen.

Sprache, Bilder und der Inhalt vieler Gedichte erinnern an die Lyrik und die Texte der Beat Generation, die das literarische Leben in den USA in den 1950er Jahren bis hinein in die Zeit der Hippies (mit)bestimmten. Es war der herausfordernde Ton der jungen Generation der Hipsters, der „geschlagenen“, nichtbeachteten, in die Ecke gedrängten Schriftsteller, aber auch derjenigen, die sich die Unterdrückung durch die Etablierten nicht mehr gefallen lassen wollten, dagegen rebellierten, das Establishment vehement ablehnten und sich allem Bürgerlichen als etwas Anrüchigem mit ihrem ganz eigenen unangepassten Lebensstil entzogen und sich den politischen Forderungen und gesellschaftlichen Werten der Erwachsenenwelt verweigerten. Sie propagierten in ihren Texten Pazifismus und Kriegsdienstverweigerung und träumten von Ungebundenheit und grenzenloser Freiheit. Drogen, Alkohol, Jazz und freie Liebe gehörten für sie zu diesem unbändigen Lebensgefühl.

Jack Kerouac mit seinem Roman On the Road (1957), William S. Burroughs mit Naked Lunch (1959), Lawrence Ferlinghetti mit seinen Gedichten und vor allem Allen Ginsberg mit seinem Langgedicht Howl (1956), das die Gerichte in einem Aufsehen erregenden Prozess wegen obszöner Stellen verbieten wollten, waren einige ihrer „Götter“. Die literarische Bewegung klang in den 1960er Jahren aus. Mit dem Film Easy Rider feierte sie noch einmal einen Höhepunkt. Peter Fonda und Dennis Hopper zeigten darin aber gleichzeitig das gewaltsame Ende der Beat und Hippy Generation. Für sie gab es in der aufstrebenden amerikanischen Wirtschafts- und Geld-Gesellschaft, aber auch anderswo in der westlichen Welt, keinen Platz mehr.

Jörg Fausers Lyrik atmet den Geist Kerouacs, Ferlinghettis und Ginsbergs. Einige Gedichte von Ferlinghetti könnten von ihm geschrieben worden sein. Und Zeilen wie die folgenden aus Manchmal mit Lili Marleen (1972) könnten aus Ginsbergs Howl stammen. Die Hoffnungslosigkeit nicht erfüllter und nicht erfüllbarer Lebensentwürfe und Lebenserwartungen, die Melancholie von Abschieden und das armselige Leben und Sterben der Suchtabhängigen durchziehen beide Texte wie rote Fäden:

[…]
Und die anderen
die sich in Cold-Turkey-Gefängnissen aufhängten
in Badezimmern absackten oder einfach irgendwo im Park
[…]
nachts träume ich manchmal von der Spritze
ich hab gesehn wie sie sich in Penis
und Halsschlagader fixten
meine Freunde in der Morphiumbaracke
ich selbst habe Narben außen und innen
Narben die nie verheilen Bilder die nichts auslöscht
was ist Leben am Ende als ein Tropfen in der Kanüle
oder Tod etwas anderes als sich weigern noch was zu sagen
die letzte zerbrochene Flasche im Sand
Cassadys Kopf auf dem Eisenbahngleis
Hermes der sich in den Mund schoss
und das alles schon zu oft gesagt
[…]

Fausers Gedichte sind ein Aufschrei über die Wirrnisse des Lebens, des Lebens überhaupt wie des eigenen Lebens, ein Schreckensschrei über die fast tödlichen Verletzungen durch Drogen und Alkohol, die er sich zugefügt hat und von denen er sich bis an sein Lebensende kaum erholen konnte. Zynismus ist diesen Texten völlig fremd, nicht aber Angst und Verzweiflung.

Seine Lyrik allerdings – das ist vielleicht das bemerkenswerteste an dem Buch – erschöpft sich keinesfalls in solchen Texten. Viele Gedichte des Bandes sind Liebesgedichte, melancholisch und traurig, die anrührend und bewegend von der unstillbaren Sehnsucht nach dem kleinen Glück sprechen.

„Liebe“ ist in den Texten ein doppeldeutiges Wort. Es meint einmal Sex in Kaschemmen und Hinterzimmern. Diese Erlebnisse werden nicht abwertend dargestellt. Sie sind eher eine Rettung aus selbstzerstörerischen Rauschzuständen und der quälenden Abhängigkeit von Drogen- und Alkoholsucht. Gib es zurück (1972) endet mit einem Hilferuf an eine Frau:

[…]
gib es den Männern zurück
die das schmutzige Futter,
das überschüssige Fleisch,
der Abfall der Erde sind,
gib es mir zurück heute Nacht
jetzt wenn ich auf dir liege,
deine geborgte Zeit,
den verschwendeten Saft –
das Leben …

„Liebe“ hat darüber hinaus eine ernste Bedeutung. Sie ist eine der wenigen Möglichkeiten, die Tristesse des Lebens zu überwinden und ihm eine Richtung zu geben, die Hoffnung zulässt. Gelingen, da bleibt Fauser bis zuletzt skeptisch, kann eine solche Liebe kaum; wenn überhaupt, dann nur für kurze Zeit. Verlorenen, die eigentlich mit ihrem Leben bereits abgeschlossen haben und von der Zukunft nicht mehr viel erwarten, bleibt Liebesglück verwehrt. Der Text Liebesgedicht (1978) bringt es auf den Punkt. Er erzählt in Bildern voller Wehmut, aber ohne Selbstmitleid von der nicht gelingenden Liebe. Die Angst, die die Existenz des einzelnen durchdringt und lähmt, verhindert eine Öffnung sich selbst und dem anderen gegenüber. Es heißt dort im Schlussteil:

So lagen wir uns bald wieder in den Armen
und nannten es ein Liebesgedicht,
aber kein Liebesgedicht erklärt uns
die Angst vor der Liebe,
und warum der Himmel so blau war,
als wir uns trafen,
und warum er immer noch blau sein wird,
wenn wir sterben werden,
du für dich,
ich für mich.

Das Leben zerrinnt dem Autor zwischen leeren Flaschen und abgenutzten und weggeworfenen Spritzen. Einsamkeit, Ruhelosigkeit und totale Erschöpfung durch die Rauschzustände halten ihn gefangen. Die Liebe, die die Rettung sein könnte, gibt es nur in Träumen, nicht in Wirklichkeit. In dem anrührenden Gedicht Margeriten, in dem der Sprecher die Geliebte mit Blumen vergleicht und mit den Zeilen „hallo / ich liebe dich“ anspricht, muss er am Ende einräumen, dass zwischen ihnen keine Margeriten, wie er gehofft hat, sondern nur „Pusteblumen […] blühten“. Und er kommt an der grausamen Wahrheit seines armseligen Lebens nicht vorbei:

[…]
Ich trank. Du hast
das Leben gesucht
und ich, was ich immer
suche – Margeriten
Straßen und
Bier.

Eines allerdings ist für das Ich der Texte noch wichtiger als die Liebe: das Schreiben selbst, das Dichten, die Arbeit an der „Maschine“ und an den „Tasten“. Selbst der Drogen- und Alkoholrausch kann den Gedanken an das Gedichteschreiben nicht ganz verdrängen. Wie ein Lichtschimmer, der die Dunkelheit um das Ich herum ein wenig erhellt, taucht der Wunsch, zu schreiben, in den Zeilen zwischen Alkohol-, Drogen und Sexexzessen auf und zeigt, worin die eigentliche Bestimmung des Ich in den Gedichten besteht, auch wenn sie immer wieder durch die Suchtekstasen vergessen und verdrängt wird. Das Gedicht Novembernacht (1978) beginnt mit Zeilen, die so ähnlich auch in anderen Texten wiederholt werden:

Schreib, schreib.
Es ist besser
als der Nebel und alles
Nirwana.

Die erste Zeile klingt wie eine Ermunterung, wie ein Appell an sich selbst, auch wie ein Hilferuf, der aus der Leere eines exzessiven Suchtlebens herausdringt und das Eigentliche durch den „Nebel“ hindurch in den Blick rückt. Ein paar Zeilen weiter wird das „besser“ der zweiten Zeile in einem poetischen Bild verstärkt:

Aller Blues & Rock ʼn ʼRoll
weht vorbei, du kennst
das. Wie der Südwind
in Istanbul,
bevor es schneit.
Schreib, amigo, schreib.

Der Autor ist sich sicher, dass sein Leben, weil es ein Dichter-Leben ist, nicht umsonst sein und spurlos vergehen wird. Er wird Texte hinterlassen, die über den Tag hinaus Bestand haben. In dem Gedicht Byrons Tod, 1981 geschrieben und mit der kindlich anmutenden Widmung „Für Papi“ versehen, schildert er die dramatischen Umstände vom Tod des englischen Dichters in Griechenland, dem er letzte Worte in den Mund legt: „Ich habe der Welt etwas / Teures hinterlassen.“ Die Schlusszeilen des Gedichts klingen wie ein Selbstgespräch des Dichters, als Beruhigung für den Vater gedacht, aber auch als Ermutigung für sich selbst:

[…]
denn was Byron hinterließ
lebt auch in dir
und wenn es dich zerstören wird,
werden es Sklaven sein
die dich verscharren,
aber Fürsten werden dich
empfangen.
Bleib teuer!

Die Gewissheit, mit dem Schreiben wirkliche dichterische Werke zu schaffen, hat Fauser offensichtlich über Klippen und Schluchten seines unruhigen Lebens hinweggeholfen. Aber es ist ihm in den 1970er und 80er Jahren nicht leicht gemacht worden, zu dieser Selbsteinschätzung zu stehen. Zu sehr wurde er von den etablierten Kulturschaffenden angefeindet und in manchen Feuilletons der Zeitungen und Rundfunkanstalten vorschnell als ein Außenseiter, der anstößt und aneckt, abgetan. Lange Zeit konnte er von seinem Schreiben nur schlecht und recht leben. Das änderte sich erst, als er das Krimi-Genre entdeckte und dafür einen eigenen Stil und eine schnörkellose, lapidare Sprache entwickelte. 1981 erschien der Kriminalroman Der Schneemann, der auch verfilmt wurde, und 1985 Das Schlangenmaul. Er arbeitete als Redakteur bei der Berliner Stadtzeitschrift tip und bei der renommierten Zeitschrift Transatlantik. Er galt als eine neue Stimme in der deutschsprachigen Literatur, eine Stimme, die sich langsam, aber stetig bei einer wachsenden Lesergruppe Gehör verschaffen konnte.

Ein großer persönlicher Rückschlag war für ihn die Art und Weise, wie er 1984 als einer der Teilnehmer der Bachmann-Literaturtage in Klagenfurt von den Kritikern, allen voran von Marcel Reich-Ranicki, Walter Jens und Peter Härtling, abgekanzelt und mit Häme überzogen wurde. Reich-Ranickis Verdikt „Dieser Autor hat hier nichts verloren.“ war ungerecht und kurzsichtig und hat sich als falsch erwiesen.

Michael Köhlmeier hat in seiner Eröffnungsrede bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt 2014 dazu noch einmal sehr emotional Stellung bezogen und einiges, 30 Jahre zu spät, zurechtgerückt: „Ich hätte Ihnen erzählt, wie er vor dem Klagenfurter Literaturgerichtshof aufgetreten – und von den Richtern verrissen worden war wie kein anderer vor ihm und kein anderer nach ihm; und dass der Verriss in Wahrheit gar nicht seinen Text, sondern seine Person gemeint hatte. […] Ich hätte mich erinnert, wie Jörg Fauser im Publikumsstudio des Funkhauses in Klagenfurt der Literaturkritik in ihrer hinterhältigsten und erbärmlichsten Gestalt begegnet war.“

Mittlerweile – ob Reich-Ranicki, Walter Jens und Peter Härtling das gefallen würde? – liegt das literarische Werk Fausers in verschiedenen Werkausgaben und Einzelveröffentlichungen vor. Offensichtlich wird es gerade wieder „neu“ entdeckt, auch vom Diogenes Verlag, der begonnen hat, mehrere von Fausers Büchern in einer einnehmenden äußeren Gestaltung vorzulegen. Der Gedichtband Ich habe große Städte gesehen ist lesefreundlich aufgemacht und mit einem Vorwort von Björn Kuhligk versehen, das viel Persönliches zu Fauser und nützliche Hinweise für ein Einlesen in seine Lyrik enthält. Kuhligk bemüht sich um den Menschen Fauser und um den Lyriker.

Die Gedichte verdienen eine große, aufmerksame Leserschaft. Sie konfrontieren den Leser mit einem Leben, das aus Tiefen, aus wenig Höhen nur, aber aus denen auch, besteht. Sie packen ihn emotional. Er lernt einen Autor kennen, der für das fremde, schockierende Leben „unten“ einen eigenen Ton entwickelt und das in eine zuweilen mitreißende, zuweilen „coole“ Sprache und in poetische Bilder überträgt, die man nicht so leicht vergisst. Jörg Fauser verstört mit seiner genauen, schonungslosen, sich selbst entblößenden Sprache, aber er zeigt sich auch als ein einfühlsamer und empfindsamer Dichter, der voller Melancholie und Trauer über sein zerrinnendes Leben spricht in Zeilen, die immer wieder eine Sehnsucht nach Menschen, die ihn lieben und die er lieben kann, erkennen lassen.

Im Dichter Christian Dietrich Grabbe sieht er einen Gleichgesinnten und Bruder im Geiste. Das Gedicht Café Grabbe ist eine einfühlsame Hommage für und eine liebevolle Erinnerung an den früh verstorbenen Dichter aus Detmold. Der Text zeichnet auch ein trauriges Bild des eigenen Lebens, über dem der Himmel selten blau, meist regnerisch und trüb war:

[…]
Er starb an sich selbst.
Einmal machten ihn die Spießer besoffen
und er las ihnen auf der Straße
aus der Hermannschlacht vor.
Sie pfiffen ihn aus, brüllten
vor Lachen und bewarfen ihn
mit Kot.
Schließlich krepierte er. […] Sechzehn Personen
gaben ihm das Geleit, ihm,
der Tausenden eine Rolle
geschrieben hatte.
Es war September 1836, und die
westfälische Erde war weich
vom Regen, […]

O Deutschland. Ach, Deutschland.
Ich lege den Kopf an die warme Erde,
aber Grabbes Herz schlägt nicht mehr.

Titelbild

Jörg Fauser: Ich habe große Städte gesehen. Die Gedichte.
Mit einem Vorwort von Björn Kuhligk.
Diogenes Verlag, Zürich 2019.
352 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783257070729

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