Verloren, verwaist, entvölkert

Samuel Becketts „Der Verwaiser“ dreht sich um das unaufhörliche Suchen

Von Peter KockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Kock

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein niedriger Zylinder, möglicherweise aus Hartgummi, mit 50 Metern Umfang und 16 Metern Höhe, getaucht in schwaches gelbes, um nicht zu sagen schwefelgelbes Licht, das von jedem Quadratzentimeter auszugehen scheint und keinen Schatten wirft, scheint zu atmen, zu keuchen, ja zu zirpen, zu stocken, zu erstarren, bis die synchronisierte Doppelschwingung flackernden Lichtes und schwankender Temperatur wieder einsetzt. In dieser düsteren Atmosphäre bewegen sich etwa 200 ausgedörrte Körper auf bestimmten Bahnen leisen Schrittes durch den Raum. Die meisten von ihnen versuchen mit Hilfe von 15 unterschiedlich langen, schadhaften Leitern nacheinander für eine gewisse Zeit in Nischen zu gelangen, die sich in halber Höhe des Zylinders befinden, auf der Suche nach einem Ausweg, aber offensichtlich ohne jeden Erfolg. Für das Weiterbewegen und Nutzen der Leitern gelten strenge Regeln. Neben diesen unermüdlichen „Suchern“, die sich in der Hoffnung auf einen Kletterversuch entlang eines Pfades längs der Wand, an der die Leitern weitergetragen werden, bewegen, gibt es eine Anzahl von „Suchern“, die im Innenbereich bleiben und in gegenläufiger Richtung auf einem weiteren schmalen Pfad die „Kletterer“ „mit den Augen verschlingen, ohne dabei den Kopf zu bewegen“. Schließlich gibt es eine Gruppe von gleichgültig gewordenen „sesshaften Suchern“, die sich nicht mehr von ihrem Platz rühren, aber dennoch ins Suchen zurückfallen können, und darüber hinaus eine noch kleinere Gruppe von fünf endgültig „Besiegten“. „Ein vernunftbegabtes Wesen“, heißt es, wäre versucht, angesichts der Sinnlosigkeit der Suche nach einem Ausweg ein allmähliches Ausschwingen der Pendelbewegung und eine allgemeine Erstarrung sämtlicher besiegter, allmählich erblindender Körper zu erwarten, also den Kältetod des Zylinders und seiner schattenhaften Restlebewesen. Aber das wäre zu eindeutig.

Das ist das Szenario, das uns „das denkende Wesen, das sich kalt über all diese Gegebenheiten und Offensichtlichkeiten beugt“, in Becketts 15 ein- bis zweiseitige Abschnitte umfassendem Prosatext Der Verwaiser schildert. Dieser kaltsinnige Erzähler, der uns seine Annahmen über das schrumpfende Leben im Inneren des Zylinders wiederholt mit der Formel präsentiert „falls diese Vorstellung beibehalten wird“, lässt mitunter seine Missbilligung über das Gewusel dieser Restwesen erkennen: Manche, „die noch darauf aus sind, sich zu paaren, schaffen es nicht. Aber sie geben nicht auf.“ Einige, die schon resigniert haben, „unterliegen immer wieder jähen Rückfällen ins Fieber des Sehens“. Den Anblick einer trotz ihrer weißen Haare noch jungen Frau mit einem kleinen Kind im Schoss entlockt ihm den zynischen Kommentar „Hübsche Einzelheit“. Sein Fazit angesichts der strengen Regelhaftigkeit des ameisenähnlichen Suchens und der geometrischen Ordnung lautet „Alles ist also aufs Beste bestellt.“ Welcher Satan spricht hier?

Diese Fiktion einer eingeschlossenen Welt von Verdammten entstand Ende 1965 und wuchs 1966 auf acht Fassungen an. Beckett selbst hatte den Text Le dépeupleur, also eigentlich „Der Entvölkerer“ genannt, angeregt durch eine Gedichtzeile von Alphonse de Lamartine: „Ein einziges Wesen fehlt einem, und alles ist verwaist (… et tout est dépeuplé)“. Diesen Titel hatte er selbst ins Englische übersetzt mit The Lost Ones (also „Die Verlorenen“), was eine weitere Bedeutungsschattierung ergibt. Spuren seiner lebenslangen Liebe zu Dante finden sich hier ebenso wie Anspielungen auf Robert Burtons Melancholie-Theorie oder auf platonisches Gedankengut. Beckett ließ den Text einige Jahre liegen und fügte ihm erst 1970, anlässlich der Veröffentlichung, den letzten Abschnitt hinzu, der die Interpretation als Allegorie oder Parabel deutlich unterstützt. Das Ende ist nahe, nahezu alle stehen erstarrt, die „Wonne“ des Hinlegens ist aus Platzgründen nicht möglich (unwillkürlich kommen einem die Gaskammern in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern in den Sinn). Ein allerletzter, noch schwächlich zuckender Suchender bahnt sich den Weg zu einer früh Besiegten, öffnet ihr für eine Weile die Augen, bis sich seine eigenen schließen und auch ihr Kopf wieder sinkt. Er erstarrt ebenfalls, woraufhin schlagartig Stille und Finsternis im Zylinder eintreten und das leise Atmen aller überlagern – nicht auslöschen.

Diese abgrundtief finstere Vision prägt einen der großartigsten Texte Becketts, der noch in seinem allerletzten Werk, gut 30 Jahre später, „Stirrings still“ beschrieb, letzte fortdauernde Bewegungen oder „soubresaults“ („Zuckungen“), wie der Text im französischen Original heißt. In Der Verwaiser ist es das unaufhörliche Suchen, das möglicherweise erst ganz am Ende erlischt, also nicht mit dem Erreichen eines Ziels endet, sondern mit dem Aufhören der Suche. Diese Prosa ist in ihrer Radikalität kaum zu ertragen, macht aber die Suche nach einem Ausweg immerhin vorstellbar. Während die Kletterer ihr Heil in den Nischen des Zylinders suchen, gibt es das Gerücht über eine in der Mitte der Decke versteckte Klapptür mit einer Öffnung, an deren Ende „angeblich immer noch die Sonne und die anderen Sterne glänzten“ (ein indirektes Zitat des Endes von Dantes Inferno). Es heißt, für 20 Freiwillige wäre es ein Leichtes, die größte Leiter mit anderen Leitern zu verstreben und diesen Ausgang zu suchen, aber dieser „Augenblick der Brüderlichkeit“ ist den Suchenden fremd. Manche Passagen lesen sich unwillkürlich unter dem Eindruck der Dringlichkeit der gegenwärtigen Diskussion über die sich unter unseren Augen schleichend vollziehende Klimakatastrophe:

Und weit davon entfernt, sich ihren Endzustand vorstellen zu können, in dem jeder Körper starr sein wird und jedes Auge leer, werden sie dahin geraten, ohne daß es ihnen bewußt wird, und so sein, ohne es zu wissen. Dann werden Licht und Klima sich in einer Weise ändern, die unmöglich vorherzusehen ist.

Der Wallstein Verlag in Göttingen und die Büchergilde Gutenberg haben den Text jetzt als Band 16 ihrer Typographischen Bibliothek neu herausgebracht, versehen mit einem erhellenden Nachwort von Oliver Sturm, der bereits 1994 mit einer sehr lesenswerten Studie über die vor allem späten Stücke Becketts aufgetreten ist und hier den Text in einem großen Bogen in das Gesamtwerk einordnet. Sturm zieht Parallelen zu Primo Levis Auschwitz-Buch, weist den Einfluss von Arthur Schopenhauers Denken nach und deutet den „Verwaiser“ und seine „heruntergekochte Sprache“, ohne sich auf eine allegorische Interpretation festzulegen, als die von allen Texten Becketts „reinste und ausschließlichste Bildphantasie“. In ihr wolle die Sprache nicht etwas bedeuten, sondern sie versuche sich gänzlich durchlässig zu machen für das imaginierte Objekt. In diesem Text drücke sich die Sehnsucht nach dem Zur-Ruhe-Kommen, nach dem Ende von Leid, Ego und unaufhörlich bedrängendem Willen am reinsten aus. Dadurch aber, dass man den Erzähler stockend und probierend am Werke sieht, ergeben sich im Lesen Lücken, in die wiederum die eigene Fantasie und die Suche nach einem Ausweg eindringen können. Am Ende steht hier nicht der Tod, sondern „das leise Atmen aller zusammen“.

Klaus Detjen, der die typografische Gestaltung der gesamten Reihe verantwortet, hat in dieser wunderbaren bibliophilen Ausgabe Becketts Text nicht im üblichen Satzspiegel gestaltet, sondern diesen an die Zylinderform angenähert. In 17 Doppelseiten im Anschluss an den etwa ebenso umfangreichen Text des „Verwaisers“ interpretiert Detjen bestimmte zentrale Sätze auf dunkelgrauem Hintergrund mit hellgrauen Linien und Formgebilden, die dessen düstere danteske Atmosphäre nachempfindbar machen sollen, das Gelb (wenn nicht Schwefelgelb) des Textes findet sich auf den Innenseiten des Umschlags. Dieser typografische Seitenblock bildet weitere Räume, in die die Fantasie des Lesers eintreten kann. Gespiegelt von Sturms Deutungen gestaltet Detjen diesen zentralen Beckett-Text, der sonst als Einzelausgabe nicht mehr greifbar ist, in ästhetisch höchst ansprechender Weise.

Gerade auch für Leser, die sich Becketts Werk zum ersten Mal nähern, ist diese Ausgabe in ihrer Gesamtheit aus textlicher Intensität und künstlerischer Umsetzung ein Geschenk – und für Schenkende beispielsweise auch ein hervorragendes Weihnachtspräsent, warum nicht?

Titelbild

Samuel Beckett: Der Verwaiser.
Übersetzt aus dem Französischen von Elmar Tophoven. Mit einem Nachwort von Oliver Sturm.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019.
95 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783835335523

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