Quantität statt Qualität oder die schöne neue Weltliteratur

Giulia Radaelli und Nike Thurn legen einen Sammelband zu „Gegenwartsliteratur – Weltliteratur“ vor

Von Bozena BaduraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bozena Badura

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Zeiten der Globalisierung ist nicht nur eine weltweite Verflechtung des Wirtschafts- und Finanzmarktes zu beobachten, sondern u.a. auch eine grenzübergreifende Vernetzung der Menschen und eine Intensivierung des Kulturaustausches. So findet man in den Buchregalen der Leserinnen und Leser neben heimischen Autoren zahlreiche Übersetzungen aus aller Welt. Vor allem absatzstarke Werke der Gegenwartsliteratur werden gerne in alle möglichen Sprachen übersetzt, sodass sie sich vom nationalen zum internationalen Bestseller entwickeln. Gerade die jüngste Geschichte bietet unzählige Beispiele für literarische Werke, von denen man behaupten könnte, sie seien bereits im kollektiven Bewusstsein der Weltbevölkerung verankert. Liefert ein an Zahlen gemessener Erfolg eine bequeme Alternative zu immer schwieriger zu verteidigenden Wert- und Qualitätsurteilen, die zunehmend von einem reinen Geschmacksurteil ersetzt werden? Nach der Lektüre des Sammelbandes Gegenwartsliteratur – Weltliteratur kommt man zu der einen oder anderen Erkenntnis nicht nur darüber, wie sich der weltweite Literaturmarkt verändert, sondern auch, wie sehr man sich heutzutage gegen qualitative Urteile wehrt.

Das Ziel des Bandes, dessen Beiträge zum Großteil aus dem Bielefelder literaturwissenschaftlichen Kolloquium Gegenwartsliteratur – Weltliteratur hervorgingen, ist es, die Begriffe „Gegenwartsliteratur“ und „Weltliteratur“ aufeinander zu beziehen und ihre Relation zu beleuchten. Dabei wurde den BeiträgerInnen keine einheitliche Definition der Begriffe vorgelegt, sondern die Autorinnen und Autoren wurden von den Herausgeberinnen gebeten, ihr eigenes Verständnis dieser Begriffe in den Beiträgen zu diskutieren. Interessanterweise gehen alle Beteiligten dennoch von derselben Ausgangsdefinition des Begriffs „Weltliteratur“ aus, und zwar im Sinne der Erläuterung von Johann Wolfgang von Goethe, die allerdings von den BeiträgerInnen unterschiedlich akzentuiert und ausgelegt wird. Obwohl die gelieferten Begriffserklärungen keine eindeutige Leitlinie erkennen lassen, da sie sich teils ergänzen und teils voneinander abweichen, gibt es einige dominierende Tendenzen. So wird beispielsweise die Gegenüberstellung von Weltliteratur und Nationalliteratur beitragsübergreifend abgelehnt, denn man nutze immer öfter, so die Herausgeberinnen sowie einige der BeiträgerInnen, das Suffix „-sprachig“, z.B. „französischsprachige Literaturen“. Doch ausgerechnet in diesem Beispiel wird die Pluralform „Literaturen“ verwendet, die auf einen nationalen Charakter der Literaturerzeugnisse hinweisen könnte, was im vorliegenden Sammelband jedoch nicht hinterfragt wird. Betrachte man den globalen Umlauf der Gegenwartsliteratur, wie sie entsteht, zirkuliert, produziert und rezipiert wird, sei sie in diesem bestimmten Sinne per se Weltliteratur, so das zusammenfassende Fazit der Herausgeber und der meisten Beiträge.

Der von Radaelli und Thurn vorgelegte Sammelband besteht aus einer Einleitung der Herausgeber, neun Beiträgen zu Literatur aus verschiedenen Regionen der Welt und drei Interviews. Im ersten Aufsatz Gegenwartsliteratur als Weltliteratur. Die literarästhetische Provokation von Weltwissen in den Literaturen der Gegenwart untersucht Vittoria Borosò Werke von Roberto Saviano und Roberto Bolaño. Borosò zufolge fördert die Weltliteratur, und zwar unabhängig von ihrer Provenienz, eine Transformation des (Welt- als Lebens-)Wissens. Dabei müsse Weltliteratur im Sinne der Diversität der in einer Sprache gegenwärtigen Welten (z.B. französischsprachige Literaturen) als „Literatur der Welten“ verstanden werden. Dagegen sei die Gegenwartsliteratur als die „Literatur der Vergegenwärtigung“ aufzufassen, also als „ein mit Intensität hervorgehendes Weltwissen über die Gegenwart“. 

Ute Fendler befasst sich dagegen mit dem Manifest der französischsprachigen Autorinnen und Autoren, die 2007 kollektiv und schriftlich die Teilhabe der Literatur auf Französisch an der Weltliteratur beanspruchten. Dabei geht es weniger um die Definition von „Welt“ als um das Verhältnis der Literaturen zueinander. Denn die Littérature-monde fordere ihren Platz in der Weltliteratur und der Gegenwartsliteratur im Sinne der Teilhabe an einem Zeit- und Raumkontinuum, das sich über translatorische Prozesse konstituiere. 

Ralf Schneider betrachtet die Literatur Großbritanniens, die man im Hinblick auf die Erzeugnisse ihrer Autorinnen und Autoren durchaus als Weltliteratur bezeichnen könne, und ihre Entwicklung im 20. Jahrhundert. Dem Autor zufolge zeichneten sich die britische Gegenwartsliteratur und das gegenwärtige Literatursystem durch eine erhöhte Wahrnehmung der Verflechtung mit „der Welt“ aus. 

Norimasa Morita präsentiert Franco Morettis These, dass sich die Literatur in ausschließlich eine Richtung bewege, und zwar vom Zentrum in die Peripherie, und schließt sich seinen Gegnern an, wenn er zeigt, wie sich die europäische und die amerikanische Literatur auf die japanische auswirkten, die wiederum in den letzten Jahren westliche Märkte erobert. Für Morita ist eine solche Literatur, d.h. die sich zu Bestsellern entwickelnden Übersetzungen, die „dritte Weltliteratur“, wobei als die erste das Verständnis der Weltliteratur als „eine breite Zirkulation und erweiterte Leserschaft übersetzter Literatur“ von Goethe und als die zweite die Weltliteratur als Exportprodukt in die Peripherie bei Moretti gelten. Was in Moritas Aufsatz nicht ausdrücklich formuliert wird, jedoch nahe liegt, ist die Assoziation der „dritten Weltliteratur“ mit dem Begriff des „dritten Raumes“ in den Postcolonial Studies. So ließe sich unter dem Begriff „dritte Literatur“ eine hybride Literatur verstehen, d.h. eine diachrone Verschmelzung der vorangegangenen Literaturen bzw. eine Literatur, die zugleich die Literatur des Zentrums und der Peripherie beinhaltet. Wollte man die „dritte Weltliteratur“ in diesem Sinne verstehen, wäre ihre Herleitung aus den Definitionen Goethes und Morettis nicht adäquat. 

Den Erfolg lateinamerikanischer und karibischer Autoren in Europa untersucht Gesine Müller. Zugespitzt ließe sich nach der Lektüre dieses interessanten Beitrags konstatieren, dass entscheidend dafür, ob ein Werk zur Weltliteratur ernannt wird oder nicht, die Orientierung an dem Geschmack des rezipierenden und urteilstiftenden Publikums ist. 

Schamma Schahadat beobachtet anhand der osteuropäischen Literatur des 20. und des 21. Jahrhunderts, dass erst Werke, die sich nicht länger mit nationalspezifischen Themenkomplexen befassen, eine Chance darauf haben, von anderen Nationen rezipiert und somit Teil der Weltliteratur zu werden. 

Dagegen konzentriert sich Susanne Komfort-Hein auf die deutschsprachige Migrationsliteratur der Gegenwart, insbesondere auf den Debütroman Der falsche Inder von Abbas Khider. Boris Previšić nähert sich der Weltliteratur von der topografischen Seite. Denn erst die Topografie erkläre uns, worin der Anspruch der Weltliteratur bestehen könne, und zwar in einem Umtopografieren der Gegenwart, das die Reibung zwischen literarischer Digression und mythischer Verankerung erfahrbar mache. Oliver Lubrich stellt am Beispiel der Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur an der Universität Bern die Frage, wie die Weltliteratur zu unterrichten sei. Den Band runden Interviews mit Senthuran Varatharajah und B. Venkat Mani sowie ein Gespräch mit Andreas Platthaus ab. 

Nach der Lektüre des Bandes ist der Einfluss Goethes auf die Prägung des Begriffs „Weltliteratur“ unverkennbar. Denn fast alle Beiträge betrachten dies als den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Zudem scheinen die meisten der BeiträgerInnen von der Bedeutung des Begriffs „Weltliteratur“ als Merkmal ästhetischer Qualität bereits abgegangen zu sein und tendieren zu einem Verständnis von Weltliteratur als einem flächenbezogenen Grad der Rezeption von Literatur. Demnach wäre Weltliteratur alles, was über die nationalen Grenzen hinaus gelesen wird. So wird suggeriert, die weltweiten Bestseller gehörten der Weltliteratur an: Denn während früher unter Weltliteratur ein Werk verstanden wurde, das sich durch seine Qualitätsmerkmale den Platz im Kanon der weltbesten literarischen Werke sicherte, wird zur Weltliteratur nun jedes Buch gerechnet, sobald es in eine fremde Sprache übersetzt wurde und mithilfe ausgeklügelter Marketingmaßnahmen entsprechende Absatzzahlen erreicht hat und das nun – unabhängig von der literarischen Qualität – in Bücherregalen überall auf der Welt steht. 

Eine abschließende Definition dessen, was unter Weltliteratur gegenwärtig zu verstehen sei, liefert der Sammelband nicht. Das will er auch nicht. Und genau dies könnte man als einen Kritikpunkt an der Vorgehensweise dieses Bandes anführen, denn verschiedene Ansichten zu präsentieren, ohne sie ausreichend zu diskutieren und zu systematisieren, führt nur zu einer weiteren Ausdifferenzierung des Begriffs. Dieser Sammelband kann allerdings als eine Einladung zu einem neuen Projekt betrachtet werden, das in die gängigen Auffassungen eine Systematik einführt und diese nach bestimmten Kriterien ordnet. Und auch wenn man nicht allen Beiträgen widerspruchslos zustimmen mag, scheint die Lektüre gewinnbringend, nicht zuletzt, um sich mit seinem eigenen Verständnis von Weltliteratur auseinanderzusetzen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Giulia Radaelli / Nike Thurn (Hg.): Gegenwartsliteratur – Weltliteratur. Historische und theoretische Perspektiven.
Transcript Verlag, Bielefeld 2019.
322 Seiten, 39,99 EUR.
ISBN-13: 9783837633658

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