Ein Dichterleben im schriftlichen Dialog

Paul Celans „Briefe 1934–1970“

Von Linda MaedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Maeding

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ein guter Briefschreiber bin ich ja wohl nie gewesen“, schreibt Paul Celan im November 1969, nur wenige Monate vor seinem Tod im April 1970, an seinen Freund Klaus Demus. Dabei kann der jüdische Dichter deutscher Sprache, geboren 1920 in der Bukowina und nach Stationen in Bukarest und Wien seit 1948 in Paris ansässig, zu diesem Zeitpunkt auf ein umfangreiches Briefwerk zurückschauen. Er selbst mag diesen Eindruck nicht geteilt haben, doch den Lesern der umsichtigen Auswahl von insgesamt 691 Briefen Celans, von Barbara Wiedemann herausgegeben unter dem Titel „»etwas ganz und gar Persönliches«. Die Briefe 1934–1970“, stellt sich dieser Korpus durchaus als ein authentisches Werk dar – ein eigenständiges Werk, das zugleich unauflösbar mit seinen Gedichten verwoben ist. Einzelne Verse werden in den Briefen aufgegriffen, Strophen oder ganze Gedichte als Beilage zugefügt – auch trägt Celan durch Äußerungen zu einzelnen Gedichten wie „Todesfuge“ oder „Schibboleth“ zur Interpretation seiner Lyrik bei und versucht so, die Rezeption seines Werks mitzusteuern.

Die chronologisch angeordneten Briefe an 252 Adressaten – darunter Familienangehörige und Freunde aus den verschiedenen Phasen seines Lebens, Schriftstellerkollegen wie Heinrich Böll, Hans Magnus Enzensberger und Günter Grass, geliebte Frauen, Verleger, Übersetzer seiner Gedichte und Leser – zeichnen ein reiches Bild des Autors, eingebettet in ganz unterschiedliche soziale Kontexte. Nicht nur, weil unter diesen Briefen 330 Erstdrucke sind, sondern auch, weil die ausgewählten Exempel aus bereits veröffentlichten Briefwechseln Celans (mit der Ehefrau Gisèle Lestrange, mit Ingeborg Bachmann, mit dem Ehepaar Lenz und anderen) in der Zusammenstellung einen ungemein tiefen Einblick in Leben, Alltag, Denken und Poetologie dieses Dichters gewähren – vom ersten Brief im Januar 1934 an, der an die Tante in Palästina gerichtet ist und vom antisemitisch geprägten Alltag in Czernowitz berichtet, bis zum letzten vom April 1970 an die späte Geliebte Ilana Shmueli. So ist der Herausgeberin Wiedemann ohne weiteres darin zu folgen, dass die durch die Briefauswahl geschaffene „Briefumgebung“ oft einen ausführlichen Kommentar erübrige.

Zugleich legt die Celan-Expertin überzeugend dar, dass die Briefe im Biographischen nicht aufgingen: „Es sind Briefe eines Dichters und Übersetzers, der in vielfältiger und von biographischen Elementen kaum je zu trennender Weise über seine Arbeit spricht, sein Denken, sein Fühlen.“ Große psychische Krisen, ausgelöst etwas durch die Goll-Affäre, werden in den Briefen nachvollziehbar, ebenso wie die Freude über einen neuen Gedichtband. „Leben läßt sich nicht ausklammern“, schreibt Celan selbst, und genauso wie Kunst nicht vom Leben abgesondert werden kann, vermag auch ihre Ästhetik nicht von ethischen Grundfragen freigehalten werden. Nicht nur Gedächtnis und Gedenken sind dem Holocaust-Überlebenden ein Anliegen, das in die Dichtung Eingang findet. Das gleiche gilt für die Positionierung zum Jüdischen (als Menschlichem) und das solidarische Einstehen für vulnerable Personen und Kollektive, die sich in der kritischen Reflexion zeitgenössischer Ereignisse widerspiegeln, von Celan stets leidenschaftlich verfolgt. Letzteres ist etwa den Briefen im Umfeld des Pariser Mai 1968 abzulesen, aber auch des Prager Frühlings oder den Kommentaren zum Sputnik-Start. Auch als politischer Beobachter ist Celan in vielen der Briefe zu erleben.

Jedes Gedicht ist ein Stück meines Lebens, ein Stück dieses unseres Lebens in dieser Zeit, auch in dieser Welt.

Immer wieder beharrt Celan auf der Zeitgenossenschaft seiner Lyrik, auf Aktualität und Zeitkritik: Alles Aktuelle, so nimmt er sich vor, müsse in den Gedichten Berücksichtigung finden, wie er in einem Brief an Gisèle im August 1968 schreibt. Zugleich scheut der Dichter nicht vor der geballten Emphase des Begriffs der Wahrheit zurück, die er in seinen Briefen immer wieder nennt und umkreist – ein Schlüsselbegriff für den hohen Anspruch, den er an Lyrik stellt. Tatsächlich sind Versuche Celans, sein Verständnis von zeitgenössischer Dichtung mitzuteilen, oft – direkt oder implizit – auch als Lektürehilfen seiner Gedichte aufzufassen, die er Briefen an Kollegen, aber auch Lesern in Deutschland mitgibt. Gerade vor und nach dem Verfassen der berühmten „Meridian“-Rede, die er 1960 zum Empfang des Büchnerpreises hält, wird dies deutlich.

Aber auch später, als er seine letzten Lyrikbände vorbereitet, unter anderem Lichtzwang, in denen Kritiker eine zunehmende Hermetik des Gedichts ausmachen, sucht er immer wieder das konkrete „Datum“ seines Werks, das Verständnis seiner Texte zu sichern: Gelungene Poesie besitzt für ihn „Selbstevidenz“. Celan, dessen Gedichte wenn nicht als hermetisch, so doch in jedem Fall als schwierig gelten, zeigt sich in den Briefen (die ja wie die Gedichte sehr genau auf ein „Du“ eingehen) als ein Mensch, der noch im Klagen über die Einsamkeit, im Verzweifeln über seine psychische Fragilität das Verbindende suchte: das – wie er es in den  Briefen wiederholt nennt – „Meridianhafte“. Es ist dieser so umfangreichen wie sorgfältig bearbeiteten Briefausgabe zu verdanken, dieses Zusammenspiel, das zugleich ein Widerstreit ist, so klar hervortreten zu lassen. Ihr bleibt abzulesen, was Sprache für Celan ist, nämlich Wirklichkeit und Wahrheit.

Titelbild

Paul Celan: »etwas ganz und gar Persönliches«. Die Briefe 1934–1970.
Ausgewählt, herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
1286 Seiten, 78,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428887

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