Engagierte Literatur

Amanda Lasker-Berlin debütiert mit „Elijas Lied“

Von Bozena BaduraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bozena Badura

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit einigen Jahren lässt sich in Deutschland eine Rückkehr des politischen Romans beobachten. Insbesondere in Zeiten wahrnehmbarer politischer Veränderungen fordert man die Literatur dazu auf, mehr zu sein als nur ein ästhetisches Leseerlebnis. Sie soll sich engagieren. Von den Autorinnen und Autoren wird eine aktive Teilnahme an den gesellschaftlich relevanten Debatten bzw. eine treffsichere Gesellschaftskritik verlangt. Dabei müssen die Autorinnen und Autoren die Gratwanderung zwischen einem differenzierten und reflektierten Urteil über die Gegenwart und der Tendenzliteratur, die den künstlerischen Wert dem praktischen Zweck unterordnet, meistern. Das Ziel sei die Bewusstseinsänderung. Doch so idealistisch die Zielsetzung und so laut die Forderungen, so problematisch erweist sich die kollektive Rezeption eines solchen Werkes in öffentlichen Räumen. Denn die aktuelle Lesekultur bevorzugt Romane, die ein humorvolles und rein literarästhetisches Erlebnis versprechen und zum Publikumsmagneten werden, gegenüber Büchern, die dem Publikum eine Auseinandersetzung mit Politischem abverlangen. Auch die Literaturkritik tut sich zuweilen mit politischen Büchern schwer, denn wie fällt man ästhetische Urteile, wenn ein Buch vornehmlich eine politische Position vertritt, oder anders gefragt: Ist ein Buch, das mit den eigenen oder politisch korrekten Überzeugungen übereinstimmt, zwangsläufig gut? In Bezug auf die Literaturkritik ist vor allem bei der Engagierten Literatur entscheidend, die handwerkliche Umsetzung des Themas zu beurteilen, ohne sich dabei auf die politische Diskussion einzulassen. Denn die inhaltliche Auseinandersetzung soll idealerweise unter den Leserinnen und Lesern erfolgen. Politische Literatur zu schreiben ist daher eine heikle Angelegenheit. Umso bemerkenswerter ist es, dass sich Amanda Lasker-Berlin bereits in ihrem Prosadebüt Elijas Lied für ein politisches Buch entscheidet. 

Es ist acht Uhr und eine Tageswanderung durch das Moor beginnt. Die morgendlichen Sonnenstrahlen kündigen einen heißen Tag an. Kein guter Tag für eine Wanderung, die kurz vor Mitternacht, umhüllt von der Dunkelheit der Nacht, tragisch enden wird. Doch das weiß noch keiner der Beteiligten. Noch sind Elija, Noa und Loth nur drei Schwestern, die sich im Laufe der letzten Jahre zwar voneinander entfernt haben, doch an diesem Tag gemeinsam in die Natur wollen. 

Die Wanderung zum Berg im Moor zu beginnen war Loths Idee. Und die Schwestern hatten nichts dagegen. Noa zumindest nicht. Elija darf nicht mitbestimmen. Elija kann sich auch gar nicht an die erste Wanderung durch das Moor erinnern, glaubt Loth. Was weiß sie noch von Herbstferien, dem Geruch nach zu süßem Apfelkuchen, Spazieren zum Berg, Kassettenhören in der Ferienwohnung und den schnarchenden Eltern? Von dem zugezogenen Himmel, durch den nur manchmal stechendes Licht fällt, und den Gruselgeschichten, die Noa erzählt. 

Elija ist die älteste der drei Schwestern. Sie wäre aufgrund eines Gendefekts beinahe nicht zur Welt gekommen. Doch die Eltern entscheiden sich für das Leben, für ein behindertes Kind, und sind damit immer wieder überfordert. So ergreifend diese Figur auch ist, muss hier auf eine Widersprüchlichkeit in Elijas Darstellung hingewiesen werden. Denn als Schauspielerin am Theater macht Elija den Eindruck einer zwar leicht verwirrten, doch recht selbstständigen Person. Dagegen zeigt sie sich während der Wanderung überwiegend hilflos und kindisch. Noa, die mittlere der Schwestern und Lehramtsstudentin mit ausgeprägtem Helfersyndrom, arbeitet in einer Kantine an der Theke, führt eine offene Beziehung und verbringt ihre Freizeit als Prostituierte für Pflegepatienten. Loth ist die schönste unter den Schwestern und schon als Jugendliche beteiligt sie sich an verschiedenen Demonstrationen, was von den Eltern freudig begrüßt wird, bis sie während ihres Studiums in Leipzig zu einer der führenden Rednerinnen des rechtsextremistischen Flügels wird. Loth glaubt die einzige in der Familie zu sein, die auf dem gesellschaftlich richtigen Weg ist. 

Zwar bekommen die RezipientInnen einen Zugang zu vielen Erinnerungen aller drei Figuren, doch keinen in ihre jeweils aktuelle Gedankenwelt. Dies ist auch der Grund dafür, dass manche Handlungen nicht ausreichend motiviert oder zuweilen als rein dramaturgischer Effekt erscheinen mögen. Denn dem Roman sieht man die am Theater gesammelten Erfahrungen der Autorin an. So ist die Handlung nach allen Regeln der Dramaturgie aufgebaut und die Übergänge zwischen den jeweiligen Szenen lesen sich sehr fließend. Zudem hat die Autorin einen sehr guten Blick für das Setting, das die erzählte Geschichte ergänzt und verdichtet. Des Weiteren entscheidet über den Erfolg eines Romans oft die Interaktion von LeserIn und Text, allem voran das grundlegendste Prinzip des Textverstehens – die subjektive Involviertheit. Diese ist in Elijas Lied dadurch garantiert, dass die Autorin divergierende politische Ansichten als potentiellen Anlass zur Spaltung einer Familie einsetzt – eine seit dem Zweiten Weltkrieg real existierende Angst der Menschen. Durch die ultimative Katastrophe am Ende des Romans werden die RezipientInnen erschüttert, ob damit jedoch Katharsis einhergeht, müssen die LeserInnen für sich selbst beantworten. Neben den bereits beschriebenen Elementen setzt die Autorin eine bewusste Sympathielenkung ein, was insbesondere an Loth zu beobachten ist. Damit die Abneigung der Leserinnen und Leser dieser Figur gegenüber auch erfolgreich entwickelt wird, schikaniert Loth ihre behinderte Schwester, rollt immer wieder die Augen oder macht unfreundliche Kommentare. Dies alles sind bewusste dramaturgische Entscheidungen, die einen Einfluss auf die Rezeption des Romans haben. Doch macht ein emotionsbeladenes Thema einen Roman gleich zu gesellschaftlich relevanter Literatur? 

In Elijas Lied steht jede der Schwestern für ein anderes gesellschaftliches Thema. So entpuppt sich Loth nicht nur als die einzige Figur des Romans, die aktiv handelt, statt sich ihrem Schicksal zu ergeben, sondern auch als eine engagierte Anhängerin der rechtsextremistischen Bewegung. Sie ist als Figur flach und plakativ angelegt und liefert den Rezipierenden nichts als Parolen. So erweckt die Radikalisierung dieser Figur vielmehr den Eindruck, Mittel zum Zweck in Form einer politischen Botschaft an die Leserschaft zu sein. Denn ihre Radikalisierung wird auf der Textebene nicht diskutiert, sondern von den Figuren als „Aktionismus“ abgetan und zwar ungern, aber dennoch hingenommen. Eben durch eine solche Darstellung, die die Rezensentin der Autorin als gewollt unterstellt, wird veranschaulicht, dass die Gesellschaft über eine magere Kenntnis der vom Mainstream abweichenden politischen Ansichten verfügt und mit diesen nicht umgehen kann. So führt dieser Roman den RezipientInnen womöglich den eigenen mangelhaften Umgang mit rechtsextremistischen Ansichten vor Augen. 

Diesen Roman auf die Figur Loth und die Politik zu reduzieren, wäre allerdings ungerecht, denn auch Elija führt in den Inhalt des Romans große Themen ein, und zwar Euthanasie als Rassenhygiene einerseits und die Teilhabe von Menschen mit genetischem Defekt am Gesellschaftsleben andererseits. Ein Thema, das trotz breitem Inklusionsdiskurs in der Gesellschaft in der Gegenwartsliteratur nach wie vor wenig diskutiert wird. Wie schnell zu bemerken ist, bewegen sich die älteste und die jüngste Schwester zwischen zwei Extremen, doch auch Noa ist keinesfalls als die goldene Mitte aufzufassen. Denn ihr ausgeprägtes Helfersyndrom und die damit verbundene Tätigkeit als Prostituierte bei Pflegepatienten würden auf Unverständnis der Gesellschaft stoßen. So behandelt Noa die Frage danach, ob der Mensch in unserer narzisstischen Gesellschaft nur als Egoist leben darf und jede freiwillige Aufopferung für die Mitmenschen als eine Abweichung und ein unerwünschtes Verhalten betrachtet werden. 

Viele Leserinnen und Leser bevorzugen eine leichte, gut lesbare und spannende Lektüre. Politische Bücher sind dagegen oft problematisch, weil sie von ihren LeserInnen (manchmal unbewusst) eine politische Positionierung abverlangen. Auf Elijas Lied trifft eher das Erste zu. Denn Elijas Lied ist ein überzeugender Roman, den ein hohes Lesevergnügen und eine sprachliche Ästhetik auszeichnen und dessen Figuren den RezipientInnen nahe gebracht werden. Allerdings lädt das Buch auch zur Auseinandersetzung mit Themen ein, die über das Buch hinaus reichen, um letztendlich nach dem eigenen Umgang mit unerwünschten politischen Ansichten anderer Menschen zu fragen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Amanda Lasker-Berlin: Elijas Lied.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2020.
256 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783627002749

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