Muttersprache und Mördersprache

Helmut Böttiger über „Celans Zerrissenheit“ und Wolfgang Emmerich mit „Nahe Fremde“ beschreiben Paul Celans Verhältnis zu Deutschland

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie und als wer kam Paul Celan unter die Deutschen? Helmut Böttiger und Wolfgang Emmerich finden Antworten aus der Wirkungsgeschichte. Das verrät schon der jeweils erste Satz. Böttigers Buch Celans Zerrissenheit. Ein jüdischer Dichter und der deutsche Geist beginnt so: „Paul Celan war ein Dichter und kein Heiliger.“ Wolfgang Emmerichs biographische Studie Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen lehnt sich an John Felstiners vielbeachtete Celan-Biographie Poet, Survivor, Jew (1995) an: „Paul Celan ist ein deutscher Dichter jüdischer Herkunft.“ Das sind pointierte Einsätze. Sie nähern sich dem wohl bedeutendsten deutschen Dichter nach 1945 in ähnlicher, aber in Argumentation und Ausgang unterschiedlicher Weise. Im Jahr des Doppeljubiläums – vor 100 Jahren ist Celan geboren, vor 50 Jahren ist er gestorben – sind beide Bücher als brillante, text- und kontextsichere, urteilsfreudige und auch kritische Einführungen willkommen.

Der Literaturkritiker Böttiger ist ein exzellenter Kenner von Celans Lebens- und Schreibmilieus; er hat untersucht, wie seine Gedichte mit und trotz der Gruppe 47 (2012) Geschichte geschrieben haben, und er hat vielbeachtete Forschungsreportagen über Orte Paul Celans (1996) und über Die Liebesgeschichte zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan (2018) publiziert. Wolfgang Emmerich ist Germanist und Celan-Exeget; ihm ist eine der besten Einführungen in Celans Werk zu danken, die Rowohlt-Monographie von 1999, die 2014 in 6. Auflage erschien. Beide Bücher sind außerordentlich um Verständlichkeit bemüht, und das dürfte vor allem die Leser erfreuen, die sich im Dickicht der Celan-Exegese nicht mehr richtig zurechtfinden. Das einzugestehen, ist angesichts der unüberschaubaren Zahl an Forschungsarbeiten, Dissertationen, Aufsätzen und Monographien, Erinnerungen und Briefen mittlerweile auch für gestandene Celan-Forscher keine Schande.

Dem Wandel des Celan-Bildes, der sich in den letzten beiden Jahrzehnten abgezeichnet hat, tragen Böttiger wie Emmerich genügend Rechnung. Der Umgang mit Celans Biographie ist immer differenzierter geworden, die Widersprüche werden stärker herausgestellt, die Verstrickungen von Täter- und Opfergedächtnis, von Muttersprache und Mördersprache sind sichtbarer als zuvor, in den Briefeditionen wird das Dauerrisiko reflektiert, von falschen Freunden vereinnahmt und von gutmeinenden überprotektioniert zu werden, hinzu kommen die Missverständnisse der frühen Rezeption. Vom Scheitern bedroht sind Celans Freundschaften allemal: mit Rolf Schroers, der als Oberleutnant an der italienischen Front tätig gewesen und dort womöglich an Partisanenerschießungen beteiligt war, mit Heinrich Böll, dessen „engagierte“ Haltung Celan am Ende frostig ablehnte, mit Rudolf Alexander Schröder, der sich anlässlich der Bremer Literaturpreisverleihung 1958 an Celan gegenüber Dritten von Celans vermeintlich artistischer Haltung absetzte. Rätselhaft und von Schweigen umstellt ist vor allem das Treffen mit dem „Denk-Herren“ Martin Heidegger im Schwarzwald, im Juli 1967, dem Böttiger ein Kapitel mit der Überschrift „Knüppelpfade, Holzwege“, Emmerich ein Kapitel unter dem Titel „‚Eine Art Rechenschaft‘“ widmet.

Darauf kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden. Böttigers Buch leistet Arbeit am Mythos Celans, dem der „deutsche Geist“ Pate stand. Das ist für Böttiger ein „Schlachtruf“, der vielen Nachkriegsdeutschen (und ansatzweise auch den Celan-Forschern Gerhart Baumann und Gerhard Neumann), wenn sie Celan mit Hölderlin, Stefan George, Rainer Maria Rilke in die pontifikale Linie der deutschen Kultur stellten, zur Selbstentlastung diente und dabei das Judentum, das Celans dichterische, wie er 1970 in einem Brief an Gershom Schocken sagte, „pneumatische“ Identität zunehmend bestimmte, weitgehend ausklammerten. Deshalb konnte der Ausnahmestatus der Todesfuge, die Celan 1952 bei der Tagung der Gruppe 47 in Niendorf las, gewürdigt werden, mussten aber ihr Entstehungsweg und ihre Dialogform – als Gedicht für die Toten des Holocausts und in Celans Worten ein „Grabmal“ in der Sprache der Sterbenden – verkannt werden. Und auch Celans rezeptionsbedingte spätere Distanzierung von der Todesfuge, zu der Reinhard Baumgart ein „schon zuviel Genuß an Kunst“ und eine „‚schön‘ gewordene Verzweiflung“ anmerkte, gehört in diesen Kontext.

Celan kam wie Hölderlin, eine „Identifikationsfigur“ (Böttiger) und ein „Bruder im Geiste“ (Emmerich), als Fremder unter die Deutschen, und Deutschland blieb „nahe Fremde“: das stellt Wolfgang Emmerich mit wünschenswerter Klarheit heraus. 1938 war Celan durch Deutschland gereist, auf dem Weg zum Medizinstudium nach Frankreich, und erlebte in Berlin die sogenannte Reichskristallnacht. 1948 streifte er wiederum Deutschland, auf dem Weg von Wien nach Paris. Mehr als 50 Deutschlandbesuche zählt Emmerich, fast ein Jahr seines Lebens weilte Celan, zusammengerechnet, an deutschen Orten, vorzugsweise in Köln, Freiburg im Breisgau, in seiner Verlagsstadt Frankfurt am Main und in Tübingen. Nur zweimal kommt das Wort „Deutschland“ in den Gedichten vor, in der Todesfuge (1945) und in Wolfsbohne (1959), dem „zweiten Deutschlandgedicht“. Es ist das Land der Mörder seiner Eltern, das Volk der nationalsozialistischen Tätergeneration, aber auch das Land seiner Bücher und seiner Leser. Betrachtet man Celans „Zerrissenheit“ (Böttiger) und wie er in den 1950er und 1960er Jahren unter die Deutschen kam (wobei man mit Emmerich ein „unter die Räder kommen“ mithören kann), so wirkt er in diesem Land tatsächlich wie Hölderlins Hyperion wie ein „Fremdling im eigenen Haus“.

Titelbild

Helmut Böttiger: Celans Zerrissenheit. Ein jüdischer Dichter und der deutsche Geist.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020.
208 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783869712123

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Titelbild

Wolfgang Emmerich: Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020.
400 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783835336063

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